TRANS Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 17. Nr.
Februar 2010

Sektion 2.4. Kreativität und Gedächtniskulturen
Sektionsleiter | Section Chair: Isozaki, Kotaro (Meiji Gakuin University/Japan)

Dokumentation | Documentation | Documentation


Jonglerie der Erinnerung
Körperbilder als Schauplatz des Gedächtnisses bei Walter Benjamin

Daisuke Yanagibashi (Berlin/Tokio) [BIO]

Email: yngbshdisk@yahoo.co.jp

 

Einleitung

In der sechsten These in Über den Begriff der Geschichte kritisiert Walter Benjamin bekanntlich anhand eines Zitates von Leopold von Ranke den historistischen Diskurs wie folgt:

Vergangenes historisch artikulieren heißt nicht, es erkennen ›wie es denn eigentlich gewesen ist‹. Es heißt, sich einer Erinnerung bemächtigen, wie sie im Augenblick einer Gefahr aufblitzt. (I. 695)(1)

Wenn der positivistische Historismus das Gewesene als objektiv abgeschlossen voraussetzt und sich dem zu nähern trachtet, ohne das endlich zu erreichen, so macht Benjamin einen Gegenvorschlag einer anscheinend subjektiven Erinnerung. Einer Charakteristik im Passagen-Werk zufolge könne sie ja modifizieren, was die Wissenschaft ›festgestellt‹ hat. Es ist genau die Auffassung, die er in einem anderen Fragment als »die kopernikanische Wendung in der geschichtlichen Anschauung« akzentuiert formuliert.

Seine Herangehensweise zur Geschichte, die dem angeblich wissenschaftlichen Habitus des Historismus entschlossen eine Vielfalt perspektivischer Erinnerungen entgegenzusetzen scheint, legt wohl nahe, einen viel diskutierten Gegensatz zwischen der Geschichte und pluralischen Geschichten einzusetzen. Zwar teilt seine Geschichtsauffassung einerseits mit dem Szenario von einem New Historicism die Einsicht in die gegenwartsbezogene Funktion des Erinnerns und die Betonung der Produktivität des bewussten Erinnerns. Sein erkenntnistheoretisches Modell der Geschichte grenzt sich jedoch andererseits von dem sogenannten konstruktivistischen Ansatz stark ab.(2)

Benjamins Theorie der historischen Erkenntnis lässt sich meines Erachtens erst ausreichend einsehen, wenn man die Struktur seiner Einstellung bezüglich der Problematik des Gedächtnisses bzw. der Erinnerung mit einbezieht. Bekanntlich unterscheidet er beispielsweise im Rekurs auf Marcel Proust zwei Arten der Erinnerung, nämlich mémoire volontaire und mémoire involontaire oder: willkürliches und unwillkürliches Eingedenken. In Zum Bilde Prousts und in Über einige Motive bei Baudelaire hat er die Modelle am ausführlichsten diskutiert. Nach einigen Definitionen dort weiche das Konzept der mémoire involontaire von dem der mémoire volontaire unter anderen in zweierlei Hinsicht ab: 1) Abwesenheit des subjektiven Willens zur Erinnerung, und 2) Vorrang der Bilder vor der begrifflichen Sprache. Diese erinnerten Bilder der Vergangenheit werden ferner in einer anderen Stelle auch wie folgt charakterisiert:

Das wahre Bild der Vergangenheit huscht vorbei. Nur als Bild, das auf Nimmerwiedersehen im Augenblick seiner Erkennbarkeit eben aufblitzt, ist die Vergangenheit festzuhalten. (I, 695)

Es wäre ja fragwürdig, muss man sagen, nur mit den vorbeihuschenden einzelnen Bildern, die ungerufen plötzlich hervortreten sollen, (wenn auch kleine) Geschichten eigentlich erzählen zu können.

Die augenblicklich aufblitzenden Bilder der Vergangenheit: das sei übrigens nach Aleida Assmann eine typische zeitliche Metapher bezüglich der Erinnerung. Ihr zufolge sei das Phänomen Erinnerung offensichtlich für direkte Beschreibung unzugänglich und, wenn man darüber sprechen will, müsse man auf metaphorische bzw. bildliche Rede zurückgreifen. Dementsprechend könne man davon ausgehen, dass man anhand von Analyse jeder metaphorischen Versinnbildlichungsstrategie des Ereignisses Erinnerung ein ihr zugrunde liegendes Gedächtnismodell auslegen könne.(3)

Im Folgenden möchte ich insbesondere ein bestimmtes Bild des Körpers in Bewegung als eine metaphorische Figur hinsichtlich der eigentümlichen Überlegungen zur Thematik des Gedächtnisses bei Benjamin erörtern.(4) Die traditionelle metaphorische Verbindung des Körperbildes mit dem erinnernden Vorgang gewinnt bei ihm als bewegte Figur sowohl räumlichen als auch zeitlichen Bezug auf das Phänomen. Vorauszuschicken wäre, dass ich mich mit der facettenreichen Semantik der Körperbilder als Schauplatz der Erinnerung mithilfe deren drei Aspekte bzw. Themen auseinandersetze, und zwar erstens: Abstieg, zweitens: Übung und schließlich, paradox genug, Divination. In der vorliegenden Arbeit möchte ich zahlreichen Konfigurationen um die Figur im Werk Benjamins nachgehen, um dadurch seine Lehre des Eingedenkens ausdifferenzierter zu erfassen.

 

Abstieg

In Berliner Chronik versinnbildlicht Benjamin das Phänomen Erinnerung geradezu anhand von einer Metapher, und zwar dem Bild eines Akts des Ausgrabens ähnlich eines Archäologen. Das Gedächtnis mache Benjamin zufolge kein Instrument der Erkundung des Vergangenen aus, sondern dessen Schauplatz.

Wer sich der eigenen verschütteten Vergangenheit zu nähern trachtet, muß sich verhalten wie ein Mann, der gräbt. (VI, 486)

Während das Gewesene in vergangenen Schichten tief unter der Gegenwart begraben liege, müsse der Erinnernde im Erdreich in die Tiefe wühlen, so Benjamin. Die erinnernde Arbeit des Grabens erfolge daneben nicht erzählend, weil, es „die Bilder“ seien, welche dort ausgebuddelt würden, „die aus früheren Zusammenhängen losgebrochen“ und einzeln ausgestellt werden sollten. Die eher eingewurzelte Metaphorik, in der man Erinnerung mit der archäologischen Durchforschung in Zusammenhang bringt, weist laut Assmann auf einen Verlust der Kontinuität zwischen Gegenwart und Vergangenheit oder einen Traditionsbruch hin.

Nach einer langen Entfernung aus der Stadt Berlin zurückgekehrt, besuchte der Autor in Berliner Kindheit um neunzehnhundert den Tiergarten und fand dort erwartungsgemäß erneut einen »Irrgarten« oder ein »Labyrinth« voll mit Zeichen, deren Zusammenhang längst undeutlich geworden ist. Der Autor flanierte mit einem Führer, Franz Hessel, im Garten, und der Freund ging „die Steige voran, und ein jeder wurde ihm abschüssig. Sie führten hinab, wenn schon nicht zu den Müttern allen Seins, gewiß zu denen dieses Gartens.“ (VII, 394)

Der überlieferten räumlichen Metapher des Abstiegs für Erinnerungsakt wird aber auch eine zeitliche Dimension verliehen. Je konkreter und detaillierter das Bild der Erinnerungsarbeit illustriert wird, desto prozesshafter und zeitlicher zeigt sich der Sachverhalt. Dem oben erwähnten Zitat aus Berliner Chronik folgt beispielsweise so:

Doch ebenso ist unerläßlich der behutsame, tastende Spatenstich ins dunkle Erdreich und der betrügt sich selber um das Beste, der nur das Inventar der Funde und nicht auch dies dunkle Glück von Ort und Stelle des Findens selbst in seiner Niederschrift bewahrt. (VI, 486f.)

Demzufolge sollte der Prozess des Wühlens selbst im ausgegrabenen Bild des Gewesenen beinhaltet sein. Während die Beschreibung einer archäologischen Erinnerungsarbeit die Produktivität bzw. Gegenwartsbezogenheit des Eingedenkens betont und sich vom historistisch positivistischen Denken abgrenzt, rückt dementsprechend die Figur bewegten Körpers im Prozess in den Vordergrund. Der Erinnernde schreite in die Tiefe nicht nur deshalb, weil das Gewesene im Abgrund immer schon vorhanden liege; Die Bewegung in die Tiefe selbst stellt hier vielmehr einen Erinnerungsakt dar.

In einem Text aus dem Jahr 1932, in dem Benjamin auch Berliner Chronik verfasst hat, verweist er auf eine Passage im 4. Buch von A la recherche du temps perdu von Proust, im Sodom et Gomorrhe.(5) Hier, und zwar im Denkbild Bergab in der Fragmentensammlung Ibizenkische Folge, deutet er auf eine Szene hin, wo sich der Ich-Erzähler an die verstorbene Großmutter unvermittelt erinnere und ihr Gesicht vor Augen sehe. In diesem Augenblick finde er die lebendige Realität der Großmutter in einer unwillkürlichen Erinnerung nach mehr als ein Jahr nach ihrer Beerdigung wieder, so Proust. Benjamin fragt sich nach dem Grund der jähen Erinnerung und antwortet selber wie folgt:

Weil er sich bückte. So ist der Körper gerad dem tiefen Schmerz Erwecker und kann es dem tiefen Denken nicht minder werden. [...]. Wer einmal einsam einen Berg erstieg, erschöpft da oben ankam, um sodann mit Schritten, welche seinen ganzen Körperbau erschüttern, sich bergab zu wenden, dem lockert sich die Zeit, die Scheidewände in seinem Innern stürzen ein und durch den Schotter der Augenblicke trollt er wie im Traum. Manchmal versucht er stehen zu bleiben und kann es nicht. Wer weiß, ob es Gedanken sind, was ihn erschüttert, oder der rauhe Weg? Sein Körper ist ein Kaleidoskop geworden, das ihm bei jedem Schritte wechselnde Figuren der Wahrheit vorführt. (IV, 408f.)

In diesem Denkbild ist der hinunterlaufende Körper im engen Zusammenhang mit dem bei Proust gesetzt, der in einer Stellung des Sich-Bückens ans Vergangene erinnert. Die »Figuren der Wahrheit«, die der Körper als ein Medium des »Kaleidoskops« an einem vorbeigehen lässt, werden auch hier wie »das wahre Bild der Vergangenheit« bei der mémoire involontaire nicht vom Subjekt her absichtlich hervorgerufen. Sie werden vielmehr durch wechselnde Konfigurationen der Gliedmaßen bzw. durch ReMembering im akzentuierten Sinne erweckt, genauso wie beim Protagonisten des Proust-Romans.

 

Übung

In dem Bild Bergab wird die Tiefe als keine fixe Stelle mehr substanziiert, in der das Gewesene bzw. dessen Gedächtnis verschüttet liegen soll. Hier ist es vielmehr der Prozess der hinabschreitenden Körperbewegung selber, der das Medium für die Bilder unwillkürlichen Eingedenkens darstellt. Dementsprechend lässt sich diese Bewegung als eine Bedingung ansehen, die den Körper aus der vom Ich beherrschten Lage entfliehen lassen und dadurch eine mémoire involontaire aktualisieren soll.

Insofern können folgende Fragen auftauchen: Ob das unwillkürliche Eingedenken auf jeden Fall der Absicht des Erinnernden entkommt und ob die Bilder der mémoire involontaire ausschließlich aus lauter Zufall kommen. Im zweiten Baudelaire-Aufsatz aus dem Jahre 1939 stellt Benjamin denn auch die Lehre Prousts diesbezüglich in doppelter Hinsicht in Frage, nämlich: erstens: Abhängigkeit des Zustandekommens des Eingedenkens vom Zufall (I, 610) und zweitens: Auffassung einer »gegenseitigen Ausschließlichkeit« des »willkürlichen und des unwillkürlichen Eingedenkens« (I, 610f.) Außerdem konstatiert Benjamin in der schon mehrmals einbezogenen Stelle in Berliner Chronik ausdrücklich, dass es gewiss bedürfe, Grabungen mit Erfolg zu unternehmen, eines Plans. (VI, 486)(6) Diese Belege deuten meines Erachtens an, dass in Benjamins Überlegungen eine Mnemotechnik anzunehmen ist. Eine bestimmte Art der Mnemotechnik allerdings, die keinen Leitfaden fürs Einprägen irgendwelcher Gedanken wie bei der rhetorischen Lehre darstellt, sondern eine Strategie für eine Vergegenwärtigung dessen ermöglicht, »was nicht ausdrücklich und mit Bewußtsein ist ›erlebt‹ worden, was dem Subjekt nicht als ›Erlebnis‹ widerfahren ist.« (I, 613) Gleichsam eine akrobatische Technik, mit der man Bedingungen für ein unabsichtliches Eingedenken doch absichtlich zu stellen versucht.

Die Kunstfertigkeit erblickt Benjamin in der Gestalt einer Prozedur des Artisten, und zwar einer Übung. Enrico Rastelli, der als »der größte« bzw. »der legendärste [...] aller Zeiten« gepriesene italienische Jongleur, machte öfters Europatourneen und trat ab 1925 in mehreren Städten Deutschlands auf. Zur Berühmtheit verhalf ihm eine Darbietung mit gleichzeitig mehreren Gummibällen von 20 bis 30 cm Durchmesser. Berliner Forscher und Archivar im Bereich der Jonglierkunst Karl-Heinz Ziethen beschreibt die Geschicklichkeit Rastellis wie folgt.

Es war, als hätte er den Gummibällen ihre Seele abgelauscht, und sie tanzten nach seinem Willen, wippten auf Stäben, hielten wie auf Kommando still.(7)

Dem einmaligen populären Artisten hat auch Benjamin neben einer Novelle „Rastelli erzählt...“ mehrere Arbeiten gewidmet.(8) Exemplarisch wäre ein metaphorischer Kommentar im Text Übung in Ibizenkischer Folge, der aber gleichsam eine entgegengesetzte Sicht der ordinären figurativen Schilderung Ziethens vertritt.

So rief Rastellis ausgestreckter kleiner Finger den Ball herbei, der wie ein Vogel auf ihn heraufhüpfte. Die Übung von Jahrzehnten, die dem vorausging, hat in Wahrheit weder den Körper noch den Ball »unter seine Gewalt«, sondern dies zustande gebracht: daß beide hinter seinem Rücken sich verständigten. Den Meister durch Fleiß und Mühe bis zur Grenze der Erschöpfung zu ermüden, so daß endlich der Körper und ein jedes seiner Glieder nach ihrer eigenen Vernunft handeln können – das nennt man üben. Der Erfolg ist, daß der Wille, im Binnenraum des Körpers, ein für alle Mal zu Gunsten der Organe abdankt – zum Beispiel der Hand. (IV, 406)

Die jahrelange Übung Rastellis werde laut Benjamin nicht aus dem naheliegenden Grund praktiziert, und zwar um den Ball dem Willen des Subjekts zur Verfügung zu stellen und ihn »auf Kommando« des Artisten zu bewegen. Sie befreie vielmehr den »Körper und ein jedes seiner Glieder« schließlich von der »Gewalt« des Ichs und lasse sie »nach ihrer eigenen Vernunft« agieren. Bei der Prozedur der Übung handelt es sich hier um eine körperliche Beschäftigung, die aufgrund eines Plans vom Subjekt her paradox zu einer Relativierung subjektiven Willens beitragen soll. Diese Figur dient obendrein auch als eine Metapher des Eingedenkens.

So kommt es vor, daß einer nach langem Suchen das Vermißte sich aus dem Kopf schlägt, dann eines Tages etwas anderes sucht und so das erste ihm in die Hand fällt. Die Hand hat sich der Sache angenommen und in Handumdrehn ist sie einig mit ihr geworden. (IV, 406f.)

Durch eine Reduktion subjektiven Willens mithilfe einer planmäßigen körperlichen Übung erinnere sich ein Organ der Hand ans Vergessene. Die metaphorische Figur korrespondiert einerseits mit einem »der von Proust bevorzugten Gegenstände«, d.h. der »mémoire involontaire des membres« (I, 613) und weist jedoch andererseits gleichsam auf einen akrobatischen Versuch hin, die mémoire mittels einer merkwürdigen Mnemotechnik absichtlich zu erwecken.

 

Divination

Im eben zitierten Fragment Übung ist es die Hand, die sich als ein typisches Glied von anderen abhebt, das sich aus dem Bannkreis subjektiven Willens entziehen und mit dem Vermissten einig werden sollte. 1935 verfasst Benjamin eine Novelle Die glückliche Hand (IV, 771-777). Auch hier taucht ein Bild des sich »mit Dingen« »über den Kopf hinweg« verständigenden Körpers auf, als dessen Plattform aber keine Übung von Jahrzehnten, sondern ein Spiel bzw. Glücksspiel als »eine künstlich erzeugte Gefahr« hervortritt. Wenn eine Korrespondenz zwischen Körper und Dingen zustande komme, gewinne der Spieler und sei dabei handelnd seinem »Wissen vorausgewesen« (IV, 776), so Benjamin. Ein dasselbe Bild eines vom Einflussbereich des Geistes entkommenden Körpers bzw. Gliedes weist verblüffend gleichzeitig auf zwei nach dem gewöhnlichen Zeitgefühl entgegengesetzte Umstände hin: auf eine Erinnerung an die vergessene Vergangenheit einerseits und auf eine Voraussage eines noch unbekannten Kommenden andererseits.

Ähnliches ist auch beim oben aufgeführten metaphorischen Bild des Körpers zu beobachten, der aus der Kontrolle des Subjekts geratend in die Tiefe stürzt. In einem kleinen Text Madame Ariane zweiter Hof links aus Einbahnstraße kommt das Phänomen einer Divination bzw. Prophezeiung zur Sprache, deren »verläßlichste[s] Instrument« »der nackte Leib« sei. Durch unseren Organismus hindurch würden immer schon »Vorzeichen, Ahnungen, Signale« gehen, die man vergeblich zu entziffern suche. Im Augenblick jedoch, in dem der Körper von einer zentralisierten Lage vom Subjekt her abgehe und falle, werde ihm eine Fähigkeit der »Divination« bzw. »Prophetie« zuteil.

Noch die Antike kannte die wahre Praxis, und Scipio, der Karthagos Boden strauchelnd betritt, ruft, weit im Sturze die Arme breitend, die Siegeslosung: Teneo te, Terra Africana! Was Schreckenszeichen, Unglücksbild hat werden wollen, bindet er leibhaft an die Sekunde und macht sich selber zum Faktotum seines Leibes. (IV, 142)

Wie gesehen bezog sich das Körperbild in der Bewegung, in einem vom Ich nicht mehr beherrschten Zustand abwärts zu stürzen, einerseits auf einen Erinnerungsakt. Hier wird ihm aber andererseits auch eine Gabe eingeräumt, Zukunftsdrohungen vorauszusehen und ihre Verwirklichung zu verhindern. Beide metaphorischen Konfigurationen um ein und dasselbe Bild zeigen sich gleichsam so symmetrisch, dass hier überdies auch folgendermaßen gesagt wird, dass divinatorisches Können aus »den alten asketischen Übungen« stamme.

Die Parallelität wäre auf einen eigenartigen Zug des Denkens bezüglich der Problematik des Gedächtnisses bei Benjamin zurückzuführen. Exemplarisch charakterisiert er die Vorstellung eines unwillkürlichen Eingedenkens in einer kleinen Rede über Proust wie folgt.

Zur Kenntnis der mémoire involontaire: ihre Bilder kommen nicht allein ungerufen, es handelt sich vielmehr in ihr um Bilder, die wir nie sahen, ehe wir uns ihrer erinnerten. (II, 1064)

Es gehe bei der Erinnerung im Wesentlichen nicht um ein vergessenes Bild, das einmal gesehen worden sei und danach in Vergessenheit gerate, sondern darum, was eigentlich nie gesehen worden sei. Um hier das Hofmannsthal-Zitat in Über das mimetische Vermögen probeweise umzubilden, könnte man diesen Aspekt so formulieren, und zwar: ›Wessen, das nie erlebt wurde, gedenken‹. Insofern lassen sich Erinnerung ans Vergangene und Divination des Kommenden als topologisch vergleichbar auffassen. Das bedeutet jedoch keinen logisch vermittelten gedanklichen Vorgang, dass man durch rückblickende Reflexion im Nachhinein eine mögliche Zukunft erwarten könne. Anders gesagt ist hier ein modernes lineares Zeitbewusstsein von Vergangenheit zu Zukunft zusammengebrochen. In diesem Sinne stimme eine augenblickliche Erinnerung unmittelbar mit einer divinatorischen Erkenntnis überein.

 

Schluss

Unsere Nachforschungen über körperliche Metaphern im Themenkreis des Gedächtnisses bei Benjamin wären wie folgt zusammenzufassen: In der räumlichen Metapher, sich an das in vergangenen Schichten verschüttet liegende Gewesene durch Ausgraben in die Tiefe zu erinnern, lässt sich bei Benjamin auch ein prozesshafter Vorgang des bewegten Körpers erkennen. Insofern die Figur in Verbindung mit dem Proustschen Thema des unwillkürlichen Körpergedächtnisses gebracht und als ein Körper außer dem subjektiven Bannkreis angesehen wird, trägt sie zu einem Entwurf paradoxer Mnemotechnik bei, Voraussetzungen unwillkürlichen emergenten Eingedenkens absichtlich zu erfüllen. Der Augenblick körperlicher Erinnerung einigt sich außerdem topologisch mit dem der leiblichen Divination, indem aufblitzende Jetztzeit fortlaufendes Zeitbewusstsein von Vergangenheit zu Zukunft abbricht und in einen gegenwärtigen Moment oder eine »Geistesgegenwart« konvergieren lässt. Die Analyse metaphorischer Choreographie Benjamins ermöglicht uns, einen Aspekt seiner Erkenntnistheorie der Geschichte zu erhellen.

Seine Metaphorik lässt sich aber freilich auch als ein integrierender Bestandteil des transdisziplinären metaphorischen Netzwerkes hinsichtlich der Thematik des Körpers und Gedächtnisses ins Visier nehmen. Der Choreograph William Forsythe beispielsweise trat einmal in einem Tokioter Workshop auf und erzählte, wie er seit Jahren untersucht habe, was beim körperlichen Einsturz stattfindet. Wenn Bewusstsein Aktionen des Tanzes verlasse, funktioniere ein der Gefahr des Fallens ausweichender Mechanismus. Vielmehr könne man so sagen, dass man erst dann außer Gefahr sein kann, wenn man der Tanzbewegungen nicht bewusst ist, so Forsythe und bezeichnete dabei den Mechanismus unversehens als »Engeleffekt«.(9) Metaphorische Konstellationen der Körperbewegung, Zeit und des Gedächtnisses können ja auf solche Weise sogar Grenzen zwischen literarisch-theoretischen Überlegungen und performativ-künstlerischen Praktiken überschreiten und auf beiden Bereichen kreativ sein.


Anmerkungen:

1 Benjamin, Walter: Gesammelte Schriften. Unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem, herausgegeben von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt am Main 1972-1989. Zitate von Benjamin werden im folgenden Textverlauf mit Band- und Seitennummer angeführt.
2 Vgl. Schöttker, Detlev: Erinnern. In: Opitz, Michael/Wizisla, Erdmut (Hg.): Benjamins Begriffe. Erster Band, Frankfurt am Main 2000, S. 260-298.
3 Vgl. Assmann, Aleida: Zur Metaphorik der Erinnerung. In: dies./Harth, Dietrich (Hg.): Mnemosyne. Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung. Frankfurt am Main 1991, S. 13-35 sowie dies./Assmann, Jan: Membra disiecta. Einbalsamierung und Anatomie in Ägypten und Europa. In: Brandstetter, Gabriele/Völkers, Hortensia (Hg.): ReMembering the Body. Körper-Bilder in Bewegung. Mit STRESS, einem Bildessay von Bruce Mau mit Texten von André Lepecki, Ostfildern-Ruit 2000, S. 44-100.
4 Ulrich Hortian weist am Anfang seiner hervorragenden Arbeit über den Metapherngebrauch in Benjamins Gedächtnistheorie leider nur ansatzweise auf die Funktionen der Figuren der Körperstellung hin. Vgl. Hortian: Metaphorae Memoriae. Zur Metaphorik des Gedächtnisses bei Walter Benjamin. In: Garber, Klaus/Rehm, Ludger (Hg.): global benjamin. Internationaler Walter-Benjamin-Kongreß 1992, Band 3, München 1999, S. 1526-1543. Eine Absicht meiner Untersuchung besteht darin, vielfältige Semantiken der Körperfiguren in der Gedächtnisthematik bei Benjamin weiter zu ergründen.
5 Proust, Marcel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit 4, Sodom und Gomorrha. Aus dem Französischen übersetzt von Eva Rechel-Mertens; revidiert von Luzius Keller und Sibylla Laemmel, Frankfurt am Main 1999. Zu Benjamins Übersetzungsarbeit des Proust-Romans vgl. Müller Farguell, Roger W.: Penelopewerk des Übersetzens. Walter Benjamins En traduisant Proust Zum Bilde Prousts. In: Hart Nibbrig, Christiaan L. (Hg.): Übersetzen: Walter Benjamin. Frankfurt am Main 2001, S. 325-352 sowie Link-Heer, Ursula: »Zum Bilde Prousts«. In: Lindner, Burkhardt (Hg.): Benjamin Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart 2006, S. 507-521.
6 Schöttker glaubt anscheinend die zwei mémoires auf einen gemeinsamen Nenner bringen zu können. Vgl. ders., a. a. O.
7 Ziethen, Karl-Heinz: Die Kunst der Jonglerie. Berlin 1988, S. 33. Zur damaligen Kultfigur des Jonglierens vgl. auch ders.: Jonglierkunst im Wandel der Zeiten. Auszüge aus K.-H. Ziethens Gesamtwerk: „4000 Jahre Geschichte der Jonglierkunst“, Berlin 1985 sowie ders./Allen, Andrew: Jonglieren. Kunst und Künstler. Übersetzt von Mathias Fienbork, Berlin 1986.
8 Insbesondere die Novelle, auf die ich hier nicht eingehe, analysiert Thomas Fries im erkenntnisreichen Aufsatz dekonstruktiv. Vgl. ders.: Der Jongleur als Erzähler, der Erzähler als Jongleur. Walter Benjamin, »Rastelli erzählt...«. In: Arburg, Hans-Georg von (Hg.): Virtuosität. Kult und Krise der Artistik in Literatur und Kunst der Moderne. Zürich 2006, S. 250-269.
9 Asada, Akira (Protokoll): ICC Workshop Part 1, Wiriamu Fosaisu no sekai [Die Welt von William Forsythe]. In: ders. (Hg.): Fosaisu 1999 [Forsythe 1999]. Tokio 1999, S. 92-95.

7.1. Sektionstitel

Sektionsgruppen | Section Groups | Groupes de sections


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For quotation purposes:
Daisuke Yanagibashi: Jonglerie der Erinnerung Körperbilder als Schauplatz des Gedächtnisses bei Walter Benjamin - In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 17/2008. WWW: http://www.inst.at/trans/17Nr/7-1/7-1_yanagibashi.htm

Webmeister: Gerald Mach     last change: 2010-02-15