TRANS Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 17. Nr. Juni 2010

Sektion 7.6. N.T. – New Testament / Not Testified
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Sektionsbericht 7.6.

N.T. – New Testament / Not Testified

Martin A. Hainz (Universität Wien) [BIO]

Email: martinhainz@yahoo.com

 

Das Kürzel N.T. ist eines, das sozusagen an sich häretisch ist, so häretisch, wie es der Text als solcher immer ist, weil er immer zu solcher Häresie bereit ist. Denn N.T. ist das geläufige Kürzel für das Neue Testament, aber auch für unbezeugte Aussagen bei Nachrichtenagenturen – not testified. So ist das Kürzel Verweis auf eine wesentliche Glaubensgrundlage der Christen, aber in verstörender Art sind die beiden Lettern auch zum Inbegriff des Ungewissen geworden. Das, was so irritiert, ist indes: daß dieser Konnex, den das Kürzel stiftet, kein Zufall ist, kein bloßer Kalauer – sondern etwas exakt trifft. Es ist dies der Umstand der Geschichtlichkeit und der Verklärung: Jesus als „der »erhöhte Herr« ist alles – nicht der »historische Jesus«.”(1) Die Akzentuierung ist nicht ohne Grund, bliebe doch sonst die Nähe zum verfügten Sühneopfer und all dem, was René Girard als Abgründe der Religion skizzierte, allzu groß, drohte schließlich das, was Franzobel zeichnet, wo zwar Jesus spricht:

„Wir alle sind Söhne und Töchter Gottes, jeder einzelne, auch du, auch du, auch du. Jeder kann erlösen! Jeder! Jeder ist ein Heiland und in jedem steckt ein Gott, ein Paradies, ein Himmelreich. Ihr müsst euch nur erkennen. Trauen! Ihr werdet nicht errettet, sondern ihr rettet. Gott, die Moral, die Schönheit, die Kraft, das Gute und die Summe aller Omamas kommen von euch! Von euch! Verwirklicht euch, verschiebt nichts mehr auf morgen, flüchtet euch nicht in Revolutionssehnsucht. Werdet Omamas! Lasst alles zu! Ja, das ist platt, aber ich kann jetzt nicht mehr originell sein. Dafür sterbe ich nicht. Ich habe überhaupt keine Zeit zum Sterben. Nein, ich sterbe nicht und ich werde auch nicht auferstehen. Ich lebe! Ja, ich lebe! Hurra!”(2)

Darauf aber vollzieht sich eben dies:

„Alle tragen Jesus hinaus, stopfen ihn in einen Müllcontainer, setzen sich darauf Er ist nicht mehr da. Sein Grab ist leer! Er ist auferstanden! Für uns hat er sich hingegeben. Für uns! Er hat uns erlöst! Erlöst! Für uns! Unsere Sünden sind gelöscht! Wir sind erlöst! Erlöst! Dank ihm.”(3)

Jesus darf nicht Faktum, darf nicht gemacht und bestimmt sein. Er ist seine Verklärung: Die Konsequenz ist, daß Inszenierung und Wahrheit des Glaubens ineinandergreifen, es also an sich so etwas wie eine „Polymorphie” Christi zu geben scheint, wie Micha Rass (Apokryphen als Glaubenswahrheit und Dichtung) darlegte. Genau dies ist denn auch das Epizentrum der exegetischen Beben um den Koran, der sich als „Gottes unmittelbares Diktat”(4) – durch den „Engel Gabriel […] in deutlicher arabischer Sprache eingegeben”(5) – definiert, was Philologie an ihm nicht relativierend, historische Kontexte berücksichtigend verfahren ließ, wie Mouhanad Khorchide nachwies. Außerdem versteht ein heutiger arabischer Leser zwar 70% des Textes, doch dies als angemessene Lektüre zu sehen sich verleiten zu lassen ist heikel … wieviel Erfolg hätte ein Leser, der 30% des Telephonbuches nicht verstünde; und ist nicht auch der heilige Text eine Instruktion in bezug auf das Adressieren, so die Frage von Hainz. Schließlich entwickelte sich die interessante Fragestellung, was denn der Zusammenfall von intentio auctoris und intentio operis, wenn ein allwissender Verfasser am Werk ist, bedeute. Eine Vereinfachung, wie Khorchide darlegte? Oder, insofern eine Textualisierung Gottes selbst dabei geschehe (so Hainz), eine Diversifizierung Gottes zu einem stilistisch Gespannten, einem Schizo-Gott vielleicht sogar?

Der Säkular-Zeigemystik und Dekonstruktion Marietta Bönings (Einstellung auf Niederschläge) folgten Daniel Watts Überlegungen zur Darstellung Christi, nämlich des toten Christus, der forsaken worden zu sein scheint, aber in seinen Wunden und Narben zugleich das Endliche selbst verklärt. Die Konstellation ist eine der Spannung, nicht der Lösung, mit Watt selbst: das Bestehen einer „bridge […] on condition that this bridge cannot be crossed”(6)… Dies leitet zur Idee über, das Christentum sei in sich Dekonstruktion, Dekonstruktion des Christentums (Jean-Luc Nancy) geradezu Selbsterfüllung, wie Artur R. Boelderl denn auch nachwies, wobei er Noli me tangere als weitere N.T.-Version ins Spiel brachte, ist doch sonst das Ganz-Andere als bloß Behauptetes immer nur einzig Produkt eines ureigenen Interesses und Begehrens. (Text-)Corpus und Immanenz sind also, wie im Gespräch auch Peter Zeillinger herausarbeitete, das, worin und woran Transzendenz sich vollzieht.

Die Wahrheit von Zeugnissen im Lichte der Philologie und Zeitgeschichte war Gegenstand des Vortrages von Klaus Johann, der Tagebücher vorstellte, sowie das Widerspiel von Anekdote („subjektiv fragmentierter Geschichte”) und Meta-Erzählung, wobei die besondere Rolle solcher Tagebücher im Zusammenhang mit dem nationalsozialistischen Regime sehr prägnant herausgearbeitet wurde, das Tagebuch als allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden (so Kleist) skizziert wurde, nämlich zu Zeiten, da das Tagebuch der „vertrauenswürdigste Gesprächspartner” war, wie Johann formulierte. Ebenfalls den Bezug von Säkularem zu Zeugnis thematisierte Olga Rutecka, und zwar am Beispiel Celans, dessen Judentum ja ein gebrochenes ist, wobei immer zu fragen bleibt, was eine ungebrochene (naturhafte) Religion denn wäre – dies formuliert besonders zugespitzt etwa Alfred Bengsch; man dürfe „nicht übersehen, daß der Glaube selbst »Kritik« ist”:

„Wer glaubt, begibt sich in eine Krisis. Denn wer glaubt, stellt sich auf die Seite Gottes, vertraut sich Gott an – und das heißt: er verläßt seinen eigenen Standpunkt und stellt sein Leben mit seinen Tendenzen in Frage.”(7)

So wäre auch zu fragen, ob konkret etwa Judentum nicht immer Judentümer bezeichne, die allenfalls in der von außen erlittenen Gewalt sich als Opferkollektiv geeint finden. Daran schloß Dagmar Burkharts Text über den Schreckenshelm an, ein fiktives Chatprotokoll, worin die Virtualität als Verstörung letztes Zeugnis wäre.

Von hier wurden schließlich Schöpfung und ihr Zeugnis als Sprachstil(e) diskutiert, und zwar zuerst von Wolfgang Müller-Funk (Das Wunder der Zeichen), der inspiriert von den Schriften Edmond Jabès eine medienkritische Theologie skizzierte:

„Die paradoxe Vorstellung von Gott als einem, dessen Abwesenheit gegenwärtig ist, beruht auf eben jener zentralen Eigenschaft der Sprache, die in der Schrift magisch beredt wird: die Schrift erinnert an das, was nicht da ist, aber durch die Magie des Wortes aufgerufen wird, Beschwörung dessen, das durch das Buch in der Welt ist: Gott, der Autor des letzten und einzigen Buches. […] Das letzte Buch bleibt uns stets unbekannt; jedoch vielleicht deshalb, weil es uns zu allen Zeiten vage bekannt war?”

Das sola scriptura-Prinzip (Müller-Funk fragte hierbei, ob es Zufall sei, daß Protestantismus und der Buchdruck mit beweglichen Lettern in zeitlicher Nähe zueinander seien) war dann auch indirekt Gegenstand des Beitrages von Martin A. Hainz. N.T. sei „die Chiffre für die dem Glauben immanente Wörtlichkeit, die ihn bis in die Quelle kontaminiert”, diese „Spannung prägt dann noch das principium, das in principio war”, so Hainz. Konkret wurde dies an der Bibelaneignung durch Friedrich Klopstock nachgewiesen, durch das prekäre Verhältnis verstörenden Stils und (allzu) orthodoxen Gehalts in bezug auf die Teilfiktion der „vollendete(n) Seele Benoni’s”(8)… Dies wäre also N.T. in jedem Falle, wobei die fragliche Etymologie der Zeitungsente zuletzt ins Blickfeld gerückt wurde: „Kein Ende mit N.T. – das ist vielleicht die einzige Behauptung, die nie eine Ente ist…”

Daran schloß als letzter Beitrag Rüdiger Görners Hölderlin-Lektüre an, worin über Gespräch und Gesang Theologie und Anthropologie als ineinander verwoben sich zeigten: „Der »heilige Buchstab« erweist sich ihm (Hölderlin, M.H.) als Zeichen des Göttlichen; seine Pflege als Auftrag.” So wird die Schrift zur Transzendenzerfahrung, als zugleich vom Menschen geschaffenes Artefakt und doch auch „das schlechthin Inkompatible.”

Kann man eine Conclusio formulieren? Vielleicht jene, daß sich in all den Gesprächen zwischen Konfessionen, Atheismus und Agnostizismus eine Aporie beharrlich zeigt, und zwar, daß im Text selbst Atheismus und Glaube als einander verbunden erscheinen, Text Glaube formuliert und rhetorisch suspendiert, Glauben als Befreiung nach den Befreiungen vom Glauben wiederentdeckt. Dieses Gewicht der Textualität und Vielstimmigkeit macht, daß es in diesem Bericht schließlich doch unumgänglich war, zitierend auch die Beiträge zu- und gegeneinander zu stellen. Dann ist Literatur die Zuspitzung eben dessen, die These, man dürfe nicht übersehen, daß der Glaube selbst »Kritik« ist, und die keineswegs symmetrisch zu denkende Antithese dazu, Glaube sei womöglich eine „»Blüte« des Atheismus”(9) – – – bis dieser selbst glaubt..?

 


Anmerkungen:

1 Franz König: Gedanken für ein erfülltes Leben, hrsg.v. Annemarie Fenzl u. Heinz Nußbaumer. Wien: Styria 2004, S. 30
2 Franzobel: Wir wollen den Messias jetzt oder Die beschleunigte Familie. Wien: Passagen Verlag 2005 (Passagen Literatur), S.106
3 ibid.
4 Adel Theodor Khoury, Ludwig Hagemann, Peter Heine: Islam-Lexikon. Geschichte – Ideen – Gestalten. Freiburg, Basel, Wien: Herder 1991 (=Herder Spektrum, Bd 4753), Bd I, S.215
5 ibid., Bd II, S.277
6 Daniel Watt: Fragmentary Futures. Blanchot, Beckett, Coetzee. Ashby-de-la-Zouch: InkerMen Press 2007 (=The Axis Series, vol. 4), S.34
7 Alfred Bengsch: Glaube und Kritik. Berlin: Morus 1968, S.72
8 Friedrich Gottlieb Klopstock: Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe, hrsg.v. Horst Gronemeyer et al. Abteilung Werke. Bd IV·2: Der Messias · Text, hrsg.v. Elisabeth Höpker-Herberg. Berlin, New York: Walter de Gruyter 1974, S.36, Gesang XI, V.1361
9 Maurice Blanchot: Das Unzerstörbare. Ein unendliches Gespräch über Sprache, Literatur und Existenz, übers.v. Hans-Joachim Metzger, Bernd Wilczek u. Hans-Horst Henschen. München, Wien: Carl Hanser Verlag 1991 (Edition Akzente), S.253

7.6. N.T. – New Testament / Not Testified

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For quotation purposes:
Martin A. Hainz: Sektionsbericht 7.6.: N.T. – New Testament / Not Testified - In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 17/2008. WWW: http://www.inst.at/trans/17Nr/7-6/7-6_sektionsbericht17.htm

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