TRANS Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 17. Nr. Februar 2010

Sektion 8.9. Transformationen der Germanistik. Neue Wege, neue Grenzen, neue Tendenzen in der Forschung und im Unterricht
Sektionsleiterinnen | Section Chairs: Andrea Horváth und Eszter Pabis (beide: Debrecen)

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 „Mit Geschichte will man etwas!“ –
Der Entstehungskontext des „Schuhmeier“-Romans

Harald D. Gröller (Universität Debrecen) [BIO]

Email: harald.groeller@gmx.at

 

In diesem Artikel soll anhand eines konkreten Beispiels verdeutlicht werden, wie sehr äußere gesellschaftliche und politische Zeitumstände die Erstellung und den Inhalt eines literarischen Werkes, vor allem bei einem Vertreter aus dem Genre des historischen Romans, beeinflussen können und damit die für den Titel dieses Beitrags gewählte Aussage von Alfred Döblin unterstreichen, der eben seinerzeit in bezug auf besagte Gattung postulierte: „Mit Geschichte will man etwas!“(1)

Als Anschauungsobjekt dient dabei Robert Aschers Roman Der Schuhmeier,(2) welcher das Leben und Wirken des Ottakringer Arbeiterführers Franz Schuhmeier (1864-1913) zum Inhalt hat. In diesem wird, unterteilt in zwei Bücher, auf über 460 Seiten vom Werdegang dieses prominenten Wiener Sozialdemokraten berichtet, wobei im ersten Buch, „Das Kind und der Jüngling“, größtenteils fiktiv das soziale und gesellschaftliche Milieu des heranwachsenden Franz und die ihn dabei begegnenden Widerwärtigkeiten des Daseins, wie der ungerechte Zugang zur Bildung und die Ausbeutung der Arbeiterklasse geschildert wird, ehe im zweiten Buch, „Der Mann“, zumeist anhand realhistorischer resp. referentialisierbarer Belegstellen die Beschreibung von Schuhmeiers Aufstieg innerhalb der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei, aber auch in der österreichischen Politik – er wurde als erster Sozialdemokrat im Jahr 1900 in den Wiener Gemeinderat, später auch in das Abgeordnetenhaus des cisleithanischen Reichsrats, in den Niederösterreichischen Landtag sowie in die Delegation gewählt – erfolgt, der durch seine tragische Ermordung im Februar 1913 abrupt endet.

Was bei Aschers Roman sofort ins Auge sticht, ist neben der Themenwahl auch dessen Erscheinungszeitpunkt, wurde er doch in „Wien, im Februar 1933, dem 20. Todesjahre Franz Schuhmeiers“(3), also in einer in Österreich und Deutschland politisch hochbrisanten Phase, veröffentlicht. Dass dies kein Zufall ist wird in der Folge hier noch darzustellen sein, doch zunächst soll die entsprechende „Ausgangslage“, vor allem aus Sicht der SdAPÖ, grob skizziert werden:

Anfang der 1930er Jahre befand sich die österreichische Sozialdemokratie in der Defensive, denn die Partei war im Jahr 1920 aus der Bundesregierung ausgetreten und betrieb seither eine Fundamentalopposition, die durch ihre Schärfe (die neben unterschiedlichen ideologischen Weltanschauungen teilweise auch in der persönlichen Antipathie zwischen den handelnden Spitzenpolitiker begründet war) und eine Politik der radikalen Phrase mit dazu beigetragen hat, dass sich die politische Landschaft Österreichs in zwei zunehmend unversöhnlichere Lager geteilt hatte. Diese innenpolitische Spannung, durch die Mitwirkung paramilitärischer Einheiten auf beiden Seiten noch zusätzlich verschärft, erreichte ihren tragischen Höhepunkt in den Ereignissen rund um den Justizpalastbrand am 15. Juli 1927. Diese machten der Parteispitze der SdAPÖ deutlich, dass sie nicht nur das „Kommando“ über ihre Anhängerschaft, sondern auch ihren Einfluss auf die Exekutivgewalt verloren hatte, weswegen sie bundesweit endgültig in die Defensive geriet, was als innerparteiliche Konsequenz daraus u.a. nun endgültig den linken Parteiflügel um Otto Bauer hinter jenen Karl Renners zurücktreten ließ und zu einer Zerreißprobe für die Partei sorgte. So widrig die Umstände also für die Sozialdemokratische Partei waren, so bot sich für diese doch eine Art „Rückzugsgebiet“, welches weltweite Beachtung fand: das „Rote Wien“. In diesem versuchte man - als einzige Stadt dieser Größenordnung weltweit – ein sozialdemokratisches Kommunalprogramm, welches in seinen Grundzügen im übrigen noch von besagtem Franz Schuhmeier auf dem Grazer Parteitag präsentiert wurde, umzusetzen. Welche Bedeutung dies für die Partei selbst hatte, zeigt nicht zuletzt der Umstand, dass der Parteivorsitzende persönlich, Karl Seitz, das Amt des Wiener Bürgermeisters ausübte.(4) Doch auch dieses seit der Einführung des allgemeinen, gleichen Wahlrechts für Männer und Frauen und der Trennung von Niederösterreich ungefährdet unter sozialdemokratischer Kontrolle stehende „Hoheitsgebiet“ wurde von außen bedroht, denn die unter bürgerlicher Führung stehende Bundesregierung versuchte durch entsprechende budgetäre Maßnahmen diesem die finanzielle Grundlage zu entziehen. Dazu kam die durch Hitlers Ernennung zum deutschen Reichskanzler noch verstärkte nationalsozialistische Bedrohung, die schon spätestens seit den Landtagswahlen im April 1932 auch in Wien offenkundig war.

Doch was war es, was den politischen Gegnern des Roten Wien ein Dorn im Auge war? Im  Hinblick auf den für das Thema dieses Beitrages relevanten Aspekt lautet die entsprechend  eingeschränkte Antwort: Es war die gezielte Kulturpolitik, die in diesem sozialdemokratischen Kommunalexperiment die Wienerinnen und Wiener zu den so oft propagierten „neuen Menschen“ - gemeint waren natürlich überzeugte, parteitreue Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten – umformen sollte, wobei man dabei von Seiten der Partei die Möglichkeit wahrnahm, um die sozialistischen Bildungsideale, die sie seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts theoretisch postuliert wurden, in die Realität umzusetzen. Je größer jedoch die Weltaufmerksamkeit auf dieses Beispiel der Umsetzung sozialistischer Kommunalpolitik wurde, desto stärker war man von Seiten der Bundesregierung bemüht, dieser den Geldhahn zuzudrehen, was auf Seiten der Wiener Stadtregierung wiederum bewirkte, noch mehr Engagement bei der Realisierung des Roten Wien an den Tag zu legen.

Nun, was waren die Eckpunkte dieser Kulturpolitik? Die Basis bildete ein entsprechend ideologisch ausgerichtetes Bildungsnetzwerk, dass Theateraufführungen, literarische Lesungen, Vorträge unterschiedlichen Inhalts u.ä.m. beinhaltete. Hinsichtlich der für diesen Artikel interessanten „Literaturproduktion“ ist anzumerken, dass sich etliche Autoren in den Dienst der austromarxistischen Bildungsarbeit stellten und durch lehrreiche Romane oder allgemeinverständliche Erörterungen sozialistischer Positionen dem Lesepublikum auf diese Weise die Gedanken des Sozialismus näher zu bringen, zu vertiefen bzw. zu verfestigen versuchten. Dadurch sollte die sozialdemokratisch orientierte Bevölkerung Wiens zu einer bedeutenden Keimzelle des politischen Kampfes werden, dem Kampf „einer winzigen, urteilsfähigen und zum Urteil entschlossenen Minorität gegen die ungeheure, kompakte Majorität der Blinden, nur vom Instinkt Geführten, Urteillosen“(5). Als Schnittstelle zwischen dieser Literaturproduktion und dem aufnahmebereiten Publikum fungierten dabei die zahlreichen Arbeiterbüchereien,(6) die es dem lesebegierigen Sozialdemokraten (oder dem, der es werden wollte/sollte) im Gegensatz zu den Vorkämpfern des Sozialismus in leichter Weise ermöglichen sollten, an wertvolle Literatur, gemeint ist natürliche die sozialistische Literatur, zu gelangen, um sie für die Ziele der Partei zu mobilisieren. Dabei war der Anspruch der Arbeiterbüchereien, als „Rüstungskammern des Proletariats“(7) zu fungieren, offen erkennbar. Kombiniert wurde das Bücherangebot zudem mit einer gezielten Vortragsreihe, denn nach der Ansicht von Josef Luitpold Stern, dem dafür zuständigen Koordinator, sollte zwischen dem Vortrags- und Bibliothekswesen ein enger und dauernder Zusammenhang bestehen, dessen Ziel es war, den Menschen an die Zukunft anzupassen und zum Sozialismus zu erziehen. Durch eben diese Vorträge, Seminare und in der Lektüre sollte der Arbeiter „tiefe Erkenntnisse über gesellschaftliche Prozesse gewinnen“,(8) wobei sich die Arbeiterschaft nicht in einem Bildungsangebot von „pluralistische[m] Wissensallerlei verheddern“, sondern diese „Kulturinitiative“ sie in ihrem Sozialismus festigen sollte.(9) Dabei wurde auch darauf geachtet, welche Genres und Werke beim Lesepublikum besonders gefragt waren. Alfred Pfoser hat in diesem Zusammenhang recherchiert:

Leichtverständliche Werke, die über den Weg und das Ziel der Arbeiterbewegung Klarheit verschafften oder dazu dienten, eine proletarische Tradition zu konstruieren, behielten dabei durchaus ihre Berechtigung. [Bei den gesellschaftswissenschaftlichen Entlehnungen ließen sich] gewisse Präferenzen für die Geschichte der österreichischen Sozialdemokratie erkennen. [...] Biographische Arbeiten wurden immer verlangt.(10)

Viele dieser Werke waren dabei dem Genre des historischen Romans zugehörig. Dass diese auch einen „mehr oder weniger aktuellen politischen Bezug“(11) hatten, lässt sich mit den Worten Benjamins erklären, der erkannt hatte: „Vergangenes historisch artikulieren heißt nicht, es erkennen ´wie es denn eigentlich gewesen ist´. Es heißt, sich einer Erinnerung bemächtigen, wie sie im Augenblick einer Gefahr aufblitzt.“(12) Die Gefahr, das war in diesem konkreten Fall eben zunächst die bürgerliche Bundesregierung, mittelfristig aber auch die zunehmend erstarkende nationalsozialistische Bewegung. Nicht wenige der Romane kann man als identifikationsstiftende „Überwindungsgeschichten“ charakterisieren, die in ihrer totalen Schilderung den Sieg über die Feinde und eine Hoffnung auf Besserung der politischen Lage in Aussicht stellen.(13) Um eben diesen Feinden zu zeigen, dass man schon in der Vergangenheit glorreiche Siege errungen hatte, häuften sich daher zu Beginn der 1930er Jahre von sozialdemokratischer Seite die Rückerinnerungen an das „Heldenzeitalter der Sozialdemokratie“(14), entsprechende Artikelserien waren in dieser Zeit in Österreich keine Seltenheit, und dabei wurde auch die Person von Franz Schuhmeier in diesen Tagen besonders bemüht. So auch im Schuhmeier-Roman von Robert Maximilian Ascher. Der Autor, der 1883 als Sohn jüdischer Eltern in Wien geboren wurde, arbeitete einerseits als Beamter in der Buchdruckerei Thalia, andererseits war er noch vor dem Ersten Weltkrieg der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Österreichs beigetreten, von der er auch für den Bezirk Ottakring in den Bezirksrat entsendet wurde. In dieser politischen Funktion hielt er in den Arbeitersektionen Vorträge zu verschiedenen Themen,(15) und dürfte dabei – trotz seines Hanges zur Nostalgie – ein vehementer Verfechter des neuen, sich entwickelnden Roten Wien gewesen sein, denn in seinem Nachruf ist zu lesen: „Er war auch für dieses begeistert, für die neuen Menschen, die anderen Idealen zustrebten als ihre Vorväter, er war mit seiner ganzen Seele Sozialist.“(16) Durch sein Engagement in der Bezirksorganisation der SdAPÖ in Ottakring befand sich Ascher im unmittelbaren Einflussgebiet des herausragenden Bezirkspolitikers und ehemaligen Niederösterreichischen Landeshauptmanns Albert Sever. Sever, der nicht nur ein persönlicher Freund Schuhmeiers (und als solcher ganz persönlich an einem Erinnern an diese Persönlichkeit interessiert war), sondern auch dessen direkter Amtsnachfolger in der von ihnen überhaupt erst aufgebauten Ottakringer Organisation war, trachtete danach – soweit die Vermutung des Verfasser,(17) die durch etliche, aus Platzgründen hier nicht näher erörterte Indizien gestützt wird - in dieser Zeit der Bedrohung des Roten Wien gewissermaßen eine „Heldenreihe“ Ottakringer Arbeiterführer zu etablieren,(18) da diese eben nicht nur auf Bezirks-, sondern auch auf Stadt-, Staats- und Parteiebene die Politik nicht unwesentlich mitbestimmt haben und mitbestimmten. Diese Tradition, die eben mit Werken wie dem hier behandelten Roman auch literarisch gefestigt werden sollte, hätte dann wohl mit Franz Schuhmeier ihren Ausgangspunkt gefunden und wäre mit einer hohen Wahrscheinlichkeit mit Albert Sever fortgesetzt worden. Sever dürfte also die treibende Kraft gewesen sein, die Ascher zu der Erstellung dieses Romans bewegt haben dürfte, denn Ascher selbst hatte sich in seiner bisherigen schriftstellerischen Tätigkeit, mit der er in Wien sogar einen gewissen Bekanntheitsgrad erreicht hatte, auf die Mitarbeit bei verschiedenen Zeitungen (Arbeiter-Zeitung, Das Kleine Blatt) durch die Verfassung kurzer Geschichten beschränkt. Da der Schuhmeier-Roman das einzige umfangreiche und noch dazu sehr politisch motivierte Werk Aschers war, legt die Vermutung nahe, dass dieser mehr oder minder ein Auftragswerk der Bezirksorganisation Ottakring resp. Albert Severs war. Wie dringend dieses offensichtlich notwendig war und daher kurzfristig erstellt werden musste spiegelt sich in den zahlreichen Rechtschreib- und Grammatikfehlern in bzw. den ungenauen Recherchen zu diesem Werk wider. Pfoser bemerkt dazu folgerichtig, dass gerade zu Beginn der 1930er Jahre die Kunst und die Politik „eine enge Beziehung ein[gingen], nicht immer zum Vorteil der beiden Bereiche, weil die ´Ästhetisierung der Politik´ (wie die ´Politisierung der Kunst´) mannigfache Probleme und für diese Zeit gefährliche politische Illusionen, vor allem über die eigene Stärke, produzierten.“(19)

Es war wohl auch die Intention des Parteifunktionärs Ascher, in dieser Phase der Bedrohung des Roten Wien durch die in seinem Roman erfolgte Glorifizierung der eigenen (Partei-)Vergangenheit und die Betonung der eigenen Stärke, durch die man in der Geschichte schier unüberwindbare Gegner bezwungen hatte (ohne zu berücksichtigen, dass sich manch Gegner durch die eigene Schwäche, in welcher Form sie sich auch immer manifestierte, mehr oder weniger selbst zu Fall gebracht hat), einen Beitrag für seine Partei zu leisten. Sicherlich war die von ihm gewählte Form des historischen Romans, dem schon Golo Mann bei entsprechender Qualität attestierte, dass er für die Geschichte ungefähr das leisten könne, was die gelungene Verfilmung eines klassischen Romans für diesen leistet,(20) als populistisches, ja propagandistisches Mittel gedacht. Dieser Eindruck erhärtet sich u.a. durch die Selbstanfeuerung des Ottakringer Bezirksfunktionärs in seinem Geleitwort, in dem es heißt: „Und weil die Arbeiterbewegung, soll sie siegen - und sie will und sie muß siegen - recht viele Menschen braucht, die über solche Kenntnisse verfügen, ist diesem Versuch vollstes Gelingen dringend zu wünschen.“(21) Der Parteimann Ascher nutzte die Möglichkeit seiner Bucherstellung u.a. auch dafür, die Sozialdemokratie als unabdingbare Notwendigkeit zu manifestieren,(22) die nicht nur herausragende Individualisten wie Franz Schuhmeier, sondern auch den Rückhalt in der breiten anonymen Anhängerschaft für ihr Vorwärtskommen benötigte. Neben der Huldigung Schuhmeiers und der Schilderung des Aufstiegs der Arbeiterbewegung und der damit verbundenen Überwindung von Hindernissen unterschiedlichster Art war es ein weiteres Ziel Aschers „der älteren Generation, die Franz Schuhmeier noch gekannt und mit ihm marschiert ist, ihre Jugendtage und das Heldenzeitalter der österreichischen Arbeiterbewegung in verklärte Erinnerung zu rufen,“(23) denn auch

den Alten und Ältesten, aber noch mehr der nachkommenden Jugend muß dieser Mann, sein Leben und sein Werk ins Bewußtsein und ins Gedächtnis geätzt werden, damit sie an ihm erstarke und werde wie er.(24)

Dass Ascher dafür die Form des historisch-biographischen Romans wählte brachte ihm – wie auch den anderen Autoren dieser Gattung - natürlich den Vorwurf ein, dass sein Roman „eine[r] Zwittergattung von trauriger Gestalt [zugehörig sei]: Die ganze Gattung bleibe hinter dem ästhetischen Autonomie-Postulat zurück, weil sie ästhetikexternes - referentialisierbares – Material benutzen muß und auf ästhetikexterne – praktische, politische – Effekte bei den Lesern schiele.“(25) Dieses Schielen auf politische Effekte bestätigt Ascher mit dem Schlussappell seines Geleitwortes in dem er zum politischen Widerstand und zur Parteieinheit aufruft.(26) Besonders bezüglich des letzten Punktes ist es Ascher – noch in Kenntnis der ehemaligen und angesichts der drohenden erneuten Spaltung der Partei – ein Anliegen, „der Jugend, die an dieser mordenden Zeit irre werden will,“(27)  zu zeigen, „wie ihre Väter mit noch viel ärgeren Widerwärtigkeiten fertig geworden sind und was zu erreichen ist und wie hoch man auch von ganz unten hinauf kann, wenn der Wille da ist, die Begeisterung und das Wichtigste: der Zusammenhalt.“(28) Dieser Appell an den Zusammenhalt innerhalb der SdAPÖ ist eine der zentralen Botschaften dieses Romans und wird deswegen natürlich in verschiedener Gestalt an mehreren Stellen wiederholt.(29)

Ein weiterer zentraler Punkt des Ascherschen Werkes ist die Schilderung der unbedingten Notwendigkeit der Bildung und das Aufzeigen der Möglichkeiten, die man durch diese wahrnehmen könnte.(30) Dabei wird an einigen Stellen im Roman betont, welche Schwierigkeiten der aus nahezu mittellosen Verhältnissen stammende Schuhmeier noch gehabt hatte, um an gute (also sozialistische) Literatur zu kommen, mit deren Hilfe er sich stetig aus der eigenen Unmündigkeit und der fremden Unterdrückung befreien konnte,(31) um dem Leser dadurch zu verdeutlichen, um wie viel einfacher er es heute dank der Arbeiterbüchereien bereits hat und dass es nur an ihm läge, das Bildungsangebot wahrzunehmen. In diesem Zusammenhang sei erneut Pfoser zitiert, der meinte:

Der von der Sozialdemokratie produzierte Glaube an die Macht des Geistes, die das kapitalistische Ausbeutungssystem sprengt, drückt sich seit den Anfängen der Arbeiterbewegung in einer emphatischen Hochschätzung des Buches aus, die auch [...] zu wahren Hymnen auf das Lesen als das größte Revolutionsmittel der Arbeiterklasse führte.(32)

Damit wurde also diese Bildungsarbeit gewissermaßen „zu einer Frage des Überlebens der Partei. Nur indem man der Anhängerschaft das Gefühl der Kraft, der Solidarität und die Gewißheit, daß eine andere Gesellschaft kommen müsse, einflößte, konnte man die politische Standfestigkeit gegen den aufmarschierenden Faschismus verteidigten [sic!].“(33)

In diesem Sinne greift auch Ascher in seinem Roman die vergangenen Leistungen der Arbeiterbewegung auf und versucht dann mit diesen eine Verbindung zur Gegenwart herzustellen. In diesem Sinne ist auch der Handlungsbogen des Romans zu verstehen, der mit den Worten beginnt: „Das war noch die Zeit, in der ungeschrieben aber unbestritten das Gesetz galt: dem Volke muß es schlecht gehen, damit es der Volkswirtschaft gut gehe“(34) und – nach der ausführlichen Schilderung des Kampfes der Sozialdemokratischen Partei und den „Heldentaten“ Franz Schuhmeiers – mit der pathostriefenden, zukunftsoptimistisch-kämpferischen Passage schließt:

Und wenn sie marschieren und kämpfen für die Befreiung der ganzen Menschheit aus Geistesnacht und Körpernot - mögen die von oben, die um ihre Monopole zittern, ihre Kanonen auffahren und ihre Schergen die Knüttel schwingen lassen und mögen sie für Geld und Gönnerworte arme Hunde aus der Menschheit allertiefsten Tiefen wie Buldoggen gegen die sich hinaufarbeitenden armen Hunde hetzen - mit dem Bilde Franz Schuhmeiers voraus werden sie dennoch siegen!(35)

Als hätte die Redaktion der Zeitung Das Kleine Blatt sich Aschers Schlussworte zu Herzen genommen, zierte auch ein entsprechendes Bildnis Schuhmeiers die Titelseite jener Ausgabe, die die Anhängerschaft der Sozialdemokratie zu einer Massendemonstration auffordert und auch die Arbeiter-Zeitung, die natürlich ebenfalls zu dieser aufrief, betitelte den Aufruf mit: „Schuhmeier marschiert mit uns!“(36)

 

Titelblatt von Das Kleine Blatt, 11.2.1933

© Das Kleine Blatt

Ascher selbst beschließt den Schuhmeier-Roman mit dem zuvor schon teilweise zitierten  Appell:

Und weil die Arbeiterbewegung, soll sie siegen - und sie will und sie muß siegen - recht viele Menschen braucht, die über solche Kenntnisse verfügen, ist diesem Versuch vollstes Gelingen dringend zu wünschen. [...] So geht denn dieses Buch hinaus in die Welt, begleitet von der Hoffnung, daß es seinen Zweck erfülle.(37)

Aus der ex post Perspektive auf die Geschichte zeigt sich, dass es diesen besagten Zweck nicht erfüllt hat: Bekanntermaßen wurde nicht einmal ein Jahr später die Sozialdemokratische Partei Österreichs und alle ihre Teilorganisationen verboten und es folgte der Ständestaat, der wiederum von Hitlers NS-Diktatur abgelöst wurde. All das sollte Robert Ascher jedoch nicht mehr erleben, denn er starb nur zwei Tage nach der Buchpräsentation – im übrigen annähernd im Alter seines Romanhelden, nämlich 49jährig - am 11. April 1933 plötzlich und unerwartet in Wien an einem Herzversagen.(38)

Die Eliminierung aller Faktoren, die an einer Nachhaltigkeit des Schuhmeier-Romans Interesse gehabt haben könnten: Der Autor war tot, der Verlag geschlossen, die Partei aufgelöst -, und da es das Werk aufgrund des mäßigen schriftstellerischen Niveaus nicht aus eigener Kraft schaffte, sich dem Lesepublikum aufzudrängen, führte schließlich dazu, dass sich die Rezeptionsgeschichte des Schuhmeier-Romans bis heute in einem sehr bescheidenen Ausmaß hält und er auch jetzt weniger wegen seines literarischen Wertes als aufgrund des Entstehungskontextes Anlass zur Beschäftigung bietet.

 

Literaturauswahl

Primärtext:

 

Sekundärliteratur:

 


Anmerkungen

1 Döblin, Alfred: Der historische Roman und wir, in: Ders.: Aufsätze zur Literatur. Olten/Freiburg: Walter (1963), S. 163-186, hier: S. 173.
2 Ascher, Robert: Der Schuhmeier. Roman. Wien: Freiheit (1933).
3 Ebda, S. 9.
4 Vgl. Gröller, Harald D.: Karl Seitz – Ein Leben an Bruchlinien. Phil. Diss. Graz (2003), S. 211-331.
5 Feuchtwanger, Lion: Vom Sinn und Unsinn des historischen Romans, in: Ders.: Ein Buch nur für meine Freunde. Ungek. Ausg. Frankfurt am Main: Fischer (1984). (=Fischer-Taschenbücher. 5823.), S. 494-502, hier: S. 500f.
6 Angesprochen sind hier vor allem die Wiener Arbeiterbüchereien, die zu Beginn der 1930er Jahre – im Gegensatz zu ihren Pendants in der Provinz - durch eine zentrale straffe Führung „zu den bei weitem am besten organisierten Bibliotheken Österreichs“ geworden waren. Pfoser, Alfred: Literatur und Austromarxismus. Wien: Löcker (1980), S. 93.
7 Ebda, S. 108.
8 Ebda, S. 118.
9 Vgl. ebda, S. 115f.
10 Ebda, S. 120f.
11 Vgl. Hanimann, Willy A.: Studien zum historischen Roman (1930-1945). Phil. Diss. Basel/Bern: Lang (1981), S. 27.
12 Benjamin, Walter: Über den Begriff der Geschichte, in: Tiedemann, Rolf/Schweppenhäuser, Hermann (Hrsg.): Walter Benjamin. Gesammelte Schriften. 1. Bd. 2. Teil. Frankfurt am Main: Suhrkamp (1974), S. 691-704, hier: S. 694.
13 Vgl. Koopmann, Helmut: Geschichte, Mythos, Gleichnis: Die Antwort des Exils, in:
Holzner, Johann/Wiesmüller, Wolfgang (Hrsg.): Ästhetik der Geschichte.
Innsbruck: Institut für Germanistik 1995.
(=Innsbrucker Beiträge zur Kulturwissenschaft. Germanistische Reihe. Bd. 54), S. 77-98, hier: S. 91f.
14 So lautete beispielsweise der Titel eines Artikels von August Forstner in der Rubrik „Erinnern wir uns“ in der Arbeiter-Zeitung am 12. 4. 1933, S. 7 das „Heldenzeitalter der Sozialdemokratie“.
15 Vgl. Arbeiter-Zeitung, 12. 4. 1933, S. 7.
16 Das Kleine Blatt, 12. 4. 1933, S. 4.
17 Vgl. ausführlich dazu: Gröller, Harald D.: Im Spannungsfeld von Klio und Kalliope - Der Schuhmeier-Roman von Robert Ascher. Phil. Diss. Debrecen [wird 2008 eingereicht], S. 237-256.
18 Man sich n dieser Stelle wohl nicht ganz zu unrecht ein wenig an Eric Hobsbawms Begriff der „Invented tradition“ erinnert. Vgl. Hobsbawm, Eric: I. Introduction: Inventing Traditions, in: Ders./Ranger, Terence (Hrsg.): The Invention of Tradition. Cambridge: Cambridge University (1983), S. 1-14.
19 Pfoser, Alfred: Literatur und Austromarxismus. Wien: Löcker (1980), S. 73.
20 Mann, Golo: Geschichtsschreibung als Literatur. Bremen: Angelsachsen (1964), S. 6.
21 Ascher, Robert: Der Schuhmeier. Roman. Wien: Freiheit (1933), S. 8.
22 An einer Stelle heißt es z.B.: „Einer Idee, der die Menschen mit einer solchen Selbstverleugnung und geradezu religiösen Inbrunst anhängen, vermag keine Macht der Welt beizukommen.“ Ebda, S. 193.
23 Ebda, S. 8.
24 Ebda, S. 467.
25 Müller, Harro: Geschichte zwischen Kairos und Katastrophe. Historische Romane im 20. Jahrhundert. Frankfurt am Main: Athenäum (1988), S. 11.
26 Im Roman lässt Ascher eine Figur sagen: „ [...] Der tote Franzl muß ihnen gefährlicher werden als der lebendige es war.“ Ascher, Robert: Der Schuhmeier. Roman. Wien: Freiheit (1933), S. 461.
27 Dies ist eine Anspielung auf z.B. den Brand des Justizpalastes (15. Juli 1927), das Attentat auf Karl Seitz (26. November 1927), den Pfrimer-Putsch (12./13. September 1931) sowie die zahlreichen Zusammenstöße zwischen Anhängern der Heimwehr bzw. der Nationalsozialisten und der Sozialdemokratie/des Republikanischen Schutzbundes der Jahre 1928 bis 1932, Anm. d. Verf.
28 Ascher, Robert: Der Schuhmeier. Roman. Wien: Freiheit (1933), S. 8.
29 Vgl. ebda, S. 176, 411, 434
30 Vgl. ebda, S. 286
Dabei wird auch verdeutlicht, dass nur die „wertvolle Literatur“, das „gute Buch“ der Emanzipation der Arbeiterbewegung dienlich ist. Vgl. ebda, S. 128f.
Dagegen wird die „Schundliteratur als ideologische Fesselung der Arbeiterklasse“ verteufelt. Vgl. Pfoser, Alfred: Literatur und Austromarxismus. Wien: Löcker (1980), S. 127ff.
31 Vgl. z.B. die Aussage: „Bücher haben uns die Sklaverei gebracht, Bücher werden uns befreien.” Ascher, Robert: Der Schuhmeier. Roman. Wien: Freiheit (1933), S. 415.
„Der Glaube an die gesellschaftsverändernde Kraft des Buches findet sich nicht nur in den vielen theoretischen Abhandlungen. Er ist auch eine wesentliche Essenz der individuellen Entwicklung, wie sie sich in den vielen Autobiographien, die die Arbeiterbewegung begleiten, spiegelt. Immer spielt in diesen neben der leidvollen Erfahrung geplünderten Lebens die meist in Nachtstunden vonstatten gehende Aneignung von Literatur eine zentrale Rolle [...].“ Pfoser, Alfred: Literatur und Austromarxismus. Wien: Löcker (1980), S. 79.
32 Pfoser, Alfred: Literatur und Austromarxismus. Wien: Löcker (1980), S. 78.
33 Ebda, S. 90f.
34 Ascher, Robert: Der Schuhmeier. Roman. Wien: Freiheit (1933), S. 11.
35 Ebda, S. 467.
36 Arbeiter-Zeitung, 11. 2. 1933, S. 1.
37 Ascher, Robert: Der Schuhmeier. Roman. Wien: Freiheit (1933), S. 8f.
38 Vgl. Das Kleine Blatt, 13. 4. 1933, S. 7 bzw. Arbeiter-Zeitung, 13. 4. 1933, S. 5 bzw. Wiener Heimatrolle, MA35/V – A 199/06 Ahnenforschung.
Das Grab existiert heute nicht mehr. Vgl. Stadt Wien: „Grabauskunft“. Online unter: https://www.wien.gv.at/grabauskunft, (16. 10. 2006).

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Harald D. Gröller: „Mit Geschichte will man etwas!“ – Der Entstehungskontext des „Schuhmeier“-Romans - In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 17/2008. WWW: http://www.inst.at/trans/17Nr/8-9/8-9_groeller17.htm

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