Olga Kostrova | Anna Antonova — Wahldiskurs in der Informationsgesellschaft: interkultureller Vergleich Ost-West

Nr. 18    Juni 2011 TRANS: Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften


Section | Sektion: Interkultureller Dialog im Mediendiskurs der Informationsgesellschaft

Wahldiskurs in der Informationsgesellschaft:
interkultureller Vergleich Ost-West

Olga Kostrova (Interregionale Akademie für Sozial- und Geisteswissenschaften der Wolgaregion, Samara, Russland) [BIO] | Anna Antonova (Staatsuniversität Orenburg, Russland) [BIO]

Email: Olga_Kostrova@mail.ru | aavvmt@mail.ru


 Konferenzdokumentation |  Conference publication


 

Die Informationsgesellschaft ist durch Massenmedien möglich geworden und ist ohne sie nicht mehr denkbar. Nicht umsonst nennt man die Massenmedien die vierte Macht. Ob aber diese Macht immer positiv gebraucht wird, um die gesellschaftlichen Prozesse, die besonders intensiv in den Großstädten verlaufen, schöpferisch zu beeinflussen? Oder ob sie destruktiv wirken und Konflikte verschiedener Art auslösen? Besonders gefährlich ist ihre destruktive Rolle für die Großstädte, wo die Informationsdichte maximal ist und deren Bevölkerung verschiedenen Herausforderungen ausgesetzt ist.

Das globale Netz hat unsere Welt zu einem global village gemacht. Trotzdem behalten die Massenmedien in jedem Land ihr eigenartiges nationales Gepräge, das durch die nationale Mentalität und Ethnokulturalität bedingt ist. Besonders deutlich lassen sich die Unterschiede zwischen Ost und West fühlen, wobei die Machtdistanz, das Sicherheitsgefühl u.a.m. verschieden zum Ausdruck kommen. Der interkulturelle Vergleich der Mediendiskurse in europäischen Ländern – Russland eingeschlossen – kann sich in diesem Sinne als sehr produktiv erweisen, denn dadurch können Erfahrungen gesammelt werden, die zur Stabilität und zur Weiterentwicklung der Informationsgesellschaft, sowie zur Verbesserung der Situation in den Großstädten beitragen können. Das Spektrum der Mediendiskurse, die in der Sektion zur Diskussion stehen, ist offen: Politik, Wirtschaft, Nachrichten, Werbung etc.

In diesem Vortrag wird in einem Vergleichverfahren der Wahldiskurs in den Massenmedien als Mechanismus der Machtbildung behandelt. Verglichen werden die Länder mit entwickelten demokratischen Traditionen (Großbritannien und Deutschland) und Russland als Staat mit einer jungen Demokratie. Wir verfahren nach folgender Gliederung:

  • Problemstellung.
  • Zum Forschungsstand:

Texttypen des Wahldiskurses
Manipulierungscharakter der Wahlrede
“Black box” Interkulturalität.

  • Emotionale Einwirkung als Universalie des Wahldiskurses
  • Die Promissionsintenz als Universalie
  • Sprachliche Universalien
  • Die Unterschiede im Wahldiskurs
  • Fazit

Die Informationsgesellschaft setzt einen freien Zugang zu den Informationsquellen für alle Bürger voraus. Dieser Zugang ermöglicht die Herausbildung der Bürgerinitiative, trägt zur Entwicklung des Verantwortungsgefühls eines Jeden für das Weltgeschehen bei. In diesem Zusammenhang gewinnt das Verhältnis von Macht und Freiheit an Bedeutung.

 

Die Problemstellung

Der Mechanismus der Machtbildung ist wie bekannt der Wahlkampf. Politische Parteien, die für die Macht kämpfen, benutzen in diesem Kampf Massenmedien, um die potentiellen Wähler für sich zu gewinnen. Wie sie das aber in verschiedenen Ländern machen, welche Ziele sie verfolgen und wie effektiv ihre Mechanismen wirken, ist oft Gegenstand der soziopolitischen Forschungen. Sprachliche Untersuchengen auf diesem Gebiet sowie interkultureller Vergleich, wie der Wahlkampf in den Ländern mit entwickelten demokratischen Traditionen und einem Land mit junger Demokratie gemacht wird, sind noch nicht vorhanden. Dieser Vergleich aber kann dazu verhelfen, sowohl Mechanismen des Wahlkampfes besser zu verstehen als auch auf dem demokratischen Wege vorzuschreiten.

 

Zum Forschungsstand:
Texttypen des Wahldiskurses

Der interdisziplinäre Charakter des Problems führt zu verschiedenen Forschungsbereichen. Die wichtigsten davon bilden einen Dreierkomplex: Diskursologie, politische Psychologie bzw. Ethnologie und Interkulturalität. In jedem Bereich finden sich Aspekte, die zur Lösung des Problems beitragen könnten.

In der Diskursologie interessiert uns der politische Diskurs, und zwar die Texttypen, die in diesem Diskurs vorkommen, und ihre Einwirkung auf die Rezipienten. Das sind politische Interviews, Losungen, Wahlsprüche, Werbung, Artikel mit entsprechender Thematik in elektronischen und Printmedien. Ein charakteristischer Texttyp ist auch die Wahlrede. Die Mannigfaltigkeit der Texttypen und der Informationskanäle, die dabei benutzt werden, sowie zahlreiche Wiederholungen der Leitmotive schaffen einen dichten Informationsraum, der den Wähler umgibt [Минаева 2007: 118–220].

Russland wurde erst vor kurzem “ein Land der öffentlichen Politik” [Паршина 2005], deshalb sind russische Politiker zu einem öffentlichen Gespräch mit dem Wähler nicht bereit. Deshalb ist der Texttyp “politische Rede” unter den russischen Politikern nicht populär. Die mündlichen Reden der russischen Politiker sind auch viel weniger erforscht als die der westlichen. Es gibt eine Arbeit, in der die Lexik unserer Parlamentarier den Gegenstand der Untersuchung bildet [Гатин]. Die Doktorarbeit von О.Н. Паршина ist dem mündlichen politischen Diskurs der russischen politischen Elite gewidmet. Die Autorin stellt fest, dass da dialogische Texttypen vorherrschen: (Fernseh)Debatten, Interviews, Talk-Shows, “direkte Linie”. Sie systematisiert auch die kommunikativen Strategien und Taktiken, die dabei verwendet werden [Паршина 2005]. Im schriftlichen Diskurs finden sich – nach unseren Beobachtungen – eher analytische Arbeiten der Journalisten, die von russischen Politikern bezahlt werden, damit sie auf unterschiedliche Weise für sie werben. Man kann also über wesentliche Unterschiede bereits im Textsortennetz des Wahldiskurses sprechen, in dem einzelne Textsorten verschieden gewichtet sind.

Die Texte der Wahlreden der westlichen Politiker haben in der Regel gemeinsame strukturelle, intentionale und andere Besonderheiten, die sie eben zu einem besonderen Texttyp machen. Diese Rede ist ein Teil des politischen Rituals: sie soll Höflichkeitsformeln enthalten (Begrüßung, Danksagungen), sie soll zukunftsorientiert sein und einen prognostischen Charakter haben. Die Hauptintention, die dabei zum Vorschein kommen soll, ist das Versprechen. Das ist mit einer fundamentalen Eigenschaft des Massenbewusstseins verbunden, die auf die Praxisumsetzung des sozialen Ideals wartet. Das Versprechen ist eine Art des politischen Performatives [Шейгал 2004: 217]. Die Wahlredner sollen deshalb als Promitenten der sozialen Ideale auftreten, wobei sie unter anderem versprechen sollen, dass ihre Promissionen erfüllt werden [Антонова, 2010].

 

Manipulierungscharakter der Wahlrede

Die Erforscher der Wahlkämpfe im Westen müssen zugeben, dass diese immer stärker “amerikanisiert” werden, so dass sie zu Inszenierungen werden, “bei denen der Erfolg entscheidend ist und die Wahrheit, Authentizität und politische Inhalte nicht selten auf der Strecke bleiben [Burkhardt 2010: 12]. Die Ritualisierung des Wahlprozesses hat zur Folge, dass die Wählerschaft den manipulativen Charakter der Wahlreden erkennt. Die Wähler verstehen, dass das Endziel der politischen Agitation darin besteht, ihre Stimmen zu gewinnen und auf solche Weise an die Macht zu kommen. Da der perlokutive Effekt zeitlich distanziert ist, müssen die Politiker während ihrer Reden schon bestimmte perlokutive Effekte erreichen, die bis zum Zeitpunkt der Abstimmung andauern würden. Wir meinen, dass es ihnen in dem Falle gelingt, wenn sie effektive Ziele benutzen, mit denen sie manipulieren. Zu diesen Zielen zählen wir Basisemotionen des kollektiven Rezipienten, die Gesetze der sogenannten allbiologischen Moral, Instinkte und Bedürfnisse des Menschen, seine physischen Empfindungen. Diese Ziele gelten als universell, denn sie sind für alle Vertreter der potentiellen Wählerschaft relevant. Wir nehmen an, dass sie auch transkulturell gelten, d.h. keine interkulturellen Unterschiede aufweisen. Was macht aber eine interkulturelle Spezifik der Wahlreden aus?

In der Bundesrepublik hat die CDU sogar eine Musterrede verfasst, die ihre Politiker im Wahlkampf benutzen sollten.

 

“Black box” Interkulturalität

Wenden wir uns dieser Frage zu, dann müssen wir uns im Klaren sein, was  Interkulturalität  ist. Um ihr Wesen zu fassen, greift Földes [2009: 503] zu der Metapher  blackbox. Weiter führt er aus, dass Interkulturalität einerseits ein Phänomen, andererseits aber ein Konzept ist (2009: 512). Ich stimme seiner Interpretation zu: als Phänomen stellt sie „eine Art Beziehung“ dar, als Konzept ist sie eine Reflexion, die beim Vergleich von verschiedenen Kulturen erfolgt. Aus diesem Verständnis folgert Földes (2009: 518 f.), dass man die Phänomenologie der Sprache und die Phänomenologie der Sprachwissenschaft sowohl aus der Innen-  als auch aus der Außenperspektive erforschen muss.

Das Phänomen Interkulturalität ist in anderer Terminologie [Кострова 2009: 16] als  endo – und  exoethnischer  interkultureller Raum bestimmt. Unter dem ersteren wird die interkulturelle Wechselwirkung innerhalb eines und desselben Ethnos verstanden. Bei der exoethnischen Interkulturalität geht es um die Wechselwirkung von Kulturen mit verschiedener ethnischer Orientierung. Entsprechend sind auch Paradigmen der beiden Phänomene unterschiedlich. Die endoethnische Interkulturalität setzt das Alters-, Berufs- und Medienparadigmen voraus. Uns interessiert vor allem die exoethnische Interkulturalität. Die Paradigmen dieser Art Interkulturalität haben einen metasprachlichen Charakter und bleiben in vielem auf virtueller Ebene. In unserem Falle müssen sie aus dem Kultur-, Mentalitäten- und Sprachvergleich reflektiert werden. Sie integrieren also Kulturologie, Kogitologie und Ethnolinguistik. Diese Integration ist aber bis jetzt noch unbestimmt; sie wird eher intuitiv angenommen. Versuchen wir sie zu explizieren.

Die interkulturelle Kommunikation in einem Mediadiskurs wie Wahlkampf zählt zu dem exoethnischen politischen Austausch. Jede Ethnokultur prägt eine für sie eigene Ethnomentalität, denn – so Alefirenko [Алефиренко 2010: 117] – die Mentalität erbt ethnokulturelle Informationen. In diesem Sinne definiert Hofstede [Hofstede/ Hofstede 2006: 2ff.] die Kultur, deren Teil auch Politik ist, als „kollektive Programmierung des Geistes“. Földes [2009: 508] mildert diese Definition, indem er die Kultur „als eine Art Navigator“ auffasst, „der die Feststellung des einzuschlagenden Kurses unterstützt, aber diese nicht erzwingt“. Doch auch in diesem Falle wird der politischen Kultur ihre geistprägende Rolle nicht abgesprochen. Die exoethnische politische Kommunikation muss demzufolge zwischen zwei ethnischen Mentalitäten eingeortet werden, von denen jede eine eigene, in einer bestimmten Sprache ausgedrückte Perspektive ermöglicht.

In den Forschungen, deren Gegenstand vergleichende Mentalität ist, sind Kriterien festgestellt, die die Mentalitäten unterscheiden. Laut Hofstede [1991: 28, 51, 113], dessen Hypothesen zum Teil mit denen des russischen Forschers Hrolenko zusammenfallen [Xроленко 2004: 319[, sind es Machtdistanz, Individualismus vs. Kollektivismus, Universalismus vs. Partikularismus und starke oder schwache Unsicherheitsvermeidung. Andere Forscher [vgl. Bauer, Inkeles, Kluckhohn 1956: 141; Cтернин 2002: 266 f.f.; Лабашук 2004: 9] zählen zu solchen Kriterien die Opposition Rationalität/Emotionalität, wobei Sternin meint [Cтернин 2002: 283], dass die Emotionalität der Russen das Gefühl der kommunikativen Verantwortung überbrückt, das infolgedessen als schwach eingeschätzt wird.

Für die politische Kommunikation ist die Konzeption der dritten Wirklichkeit  von Bedeutung, die von Fleischer [2006: 286] entwickelt wurde. Er versteht darunter das soziale System mitsamt seinem Modus der Kommunikation. Von diesem Verständnis ausgehend, formuliert er mehrere Hypothesen, die das System der dritten Wirklichkeit näher zu charakterisieren erlauben. Die erste Hypothese betrifft Äußerungen, denen zwei Formen zugeschrieben werden: eine physikalische-singuläre und eine kognitiv-konstruktive. Im ersten Fall sind Äußerungen Kommunikationsmittel, im zweiten aber  Kommunikate. Die Kommunikate sind wiederum in doppelter Ausführung vorhanden: als  individuelle und als bindend-operative. Die operativen Kommunikate wirken sich in der Kommunikationsbasis aus, „deren Kenntnis als ein Faktor der Zugehörigkeit zum jeweiligen System notwendig ist“ (Fleischer 2006: 288). Sie decken sich zum Teil mit Konzepten, Präzedenznamen und Symbolen und sind wie diese endokulturell orientiert.

Wichtig ist für unsere Zielsetzung Fleischers vierte Hypothese, die nicht nur  Diskurs  als unentbehrliches Element der Kommunikation postuliert, sondern auch die steuernde Rolle der Weltbilder in dem Diskurs behauptet. „Weltbilder entscheiden über die Zulässigkeit eines Elements in der dritten Wirklichkeit“, schreibt Fleischer [2006: 292]. Auch bei russischen Linguisten findet man ähnliche Gedanken. Grischaeva [Гришаева et al. 2009: 243] betont beispielsweise, dass die beständigen  kognitiven Modelle, die uns die Wirklichkeit bewusst machen, einen bestimmten (endokulturellen – O.K.) Wahrnehmungsrahmen schaffen. Dieser Rahmen ist für das Verständnis der interkulturellen Unterschiede in der politischen Kommunikation ebenso relevant.

Wie aus dem Gesagten folgt, sind bis jetzt nur noch endokulturelle Einheiten ausgeschieden, die den Mentalitätsvergleich implizieren. Anders ist es in der kontrastiven Sprachtypologie bestellt, wo vorausgesetzt wird, dass es in verschiedenen Sprachen Universalien und Unikalien gibt. In der Kogitologie und Kulturologie geht es bis jetzt nur noch um Unikalien. Wenn die Integration der Wissenschaften bei der Untersuchung der Interkulturalität ertragreich sein sollte, müsste man auch nach mentalen und gesellschaftlich-politischen Universalien suchen.

Mentale Universalien könnte man von den oben angeführten Unikalien ableiten. Das wären: das Verhältnis zur Macht; die Identifizierungsart und das Sicherheitsgefühl. Jede Universalie basiert auf einer oder mehreren Oppositionen. Das Verhältnis zur Macht wird als große vs. kleine Machtdistanz realisiert. Der Identifizierungsart liegen zwei Oppositionen zu Grunde: Individualismus vs. Kollektivismus, Universalismus vs. Partikularismus. Das Sicherheitsgefühl basiert auf der Opposition Geborgenheit – Ungeborgenheit. Als eine Universalie der Interkulturalität wäre auch die  Konzeptualisierungsart  denkbar. Diese Universalie ist von dem sprachlichen Ausdruck untrennbar und wird weiter an konkreten Beispielen erörtert. Darüber hinaus müssen wir bei der vergleichenden Analyse der Wahlreden an die  kontrastive Textologie  denken.

Adamzik [2001: 27] hat in Bezug auf die kontrastive Textologie konkrete Desiderata ausgesprochen. Sie meint, dass man solche Forschungsprinzipien kontrastiver Texte finden sollte, die sprachliche Erscheinungen mit bestehenden Stereotypen in Verbindung bringen könnten. Es handelt sich darum, in solchen diffusen Konzepten wie Kultur und Mentalität Bereiche zu finden, in denen der Vergleich möglich ist. Anders gesagt, müssen die Linguisten die Kluft überbrücken, die zwischen kulturell bedingten Denkarten vorhanden ist. Aus unserer Sicht möchten wir  hinzufügen, dass der Vergleich des sprachlichen Ausdrucks, der diese Kluft überbrücken sollte und der nicht minder wichtig ist, heutzutage eine tabula rasa ist.

Müller-Jacquier [1999: 56] konstatiert “die […] allgemeine Unfähigkeit, sich über interkulturelle Situationen verständigen zu können“ und erarbeitet ein Raster für die Analyse interkultureller Kommunikation. Zu analysieren ist seiner Meinung nach unter anderem die Gesprächsorganisation, die Konventionen des Diskursablaufs, Themen, Direktheit/ Indirektheit, para- und nonverbale Faktoren, kulturspezifische Werte/Einstellungen enthält. Die  Gesprächsorganisation  kann man dabei u. E. als eine Universalie ansehen, die durch die angeführten Charakteristika spezifiziert wird.

Unsere Hypothese wäre, dass die Interkulturalität, die zwischen dem westlichen und russischen ethnokulturellen Räumen eingeortet ist, sowohl universale, als auch unterschiedliche operative Kommunikate psychomentaler, gesellschaftlich-politischer und sprachlicher Art enthält. Die Universalien charakterisieren das Gemeinsame, was uns vereinigt, die Unterschiede bestimmen die Spezifik in jedem Land.

 

Emotionale Einwirkung als Universalie des Wahldiskurses

Das Hauptziel der politischen Redner im Wahldiskurs besteht darin, richtige und beständige Assoziationen bei der Wählerschaft hervorzurufen, die bis zur Abstimmung beibehalten werden. Diese Assoziationen beruhen auf der emotionalen Opposition “positive vs. negative”. Positive Emotionen, die vor allem das Gefühl der Geborgenheit, des Komforts hervorrufen, sollen mit dem Begriff WIR (unsere Partei) assoziiert werden; im Gegenteil sollen negative Emotionen, die unbefriedigte Bedürfnisse, Verletzung der Moral voraussetzen, mit dem Begriff SIE (Gegnerpartei) assoziiert werden. Die Analyse zeigt, dass die effektivsten Manipulierungszielscheiben mit der Befriedigung der Instinkte und Bedürfnisse der Menschen zusammenhängen sowie mit der physiologischen Empfindung der Wirklichkeit.

In Bezug auf die eigene Partei wird die Assoziation gebildet, dass sie imstande ist, vitale, rollenbezogene und andere Instinkte der Wähler zu gewährleisten. Gleichzeitig wird die Gegenpartei so vorgestellt, dass sie nicht imstande ist das zu machen, woraus folgt, dass sie die allgemeine Existenz bedroht. So wird die Emotion der Angst zum Manipulierungsziel. Die Benutzung dieses Ziels finden wir in den Reden britischer, deutscher und russischer Politiker. Vgl.:

The pre-Budget report has set a tax timebomb ticking in the pockets of every family in Wales.
Teachers, journalists, social workers, police officers, paramedics, office managers and professionals will all be worse off as a result.
Gordon Brown and Alistair Darling are gambling with the nation’s finances and it is the people of Britain who will end up footing the bill.
However Labour wraps this up this is still a Christmas tax bombshell.
Families across Wales will by hit with rising tax and National Insurance bills. That is the reality of this give-away statement. To anybody in work this is going to mean higher taxes.
(Cheryl Gillan: Families pay the price for Labours tax timebomb, http://www.conservatives.com)

Bei der Landtagwahl für das Düsseldorfer Parlament hat die CDU eine Musterrede verfasst, deren  Kernbotschaft lautet: “Es geht um eine Richtungsentscheidung. Es geht um Sicherheit und Stabilität mit der CDU und Jürgen Rüttgers oder Chaos mit Rot-Rot”.

Der Titel eines Artikels im Wahlkampf für die Bürgermeisterstelle in Samara hieß:

Самарцев будут выкидывать из дома за долги (Samaraer wird man wegen der Schulden aus ihren Häusern ‘rausschmeißen).

In allen drei Beispielen wird das Gefühl der Beunruhigung und der Angst hervorgerufen, sei es durch die Kriegsmetapher der Bombe, durch die Androhung des Chaos’ oder durch die Bedrohung, den Wohnort zu verlieren.

Eine andere Zielscheibe der Manipulierung sind unsere physiologischen Empfindungen, die wir mit Augen, Ohren oder mit unserer Haut wahrnehmen. Sie können angenehm oder unangenehm sein. Die angenehmen sollen mit der Partei oder mit der Person assoziiert werden, um die geworben wird, die unangenehmen im Gegenteil mit der Gegenpartei. Vgl.:

The story of the Special Relationship can be depicted in light and attractive colours (Liam Fox: Security and Defence – Making sense of the special relationship, http://www.conservatives.com).

Всем своим видом чиновник показывает: смотрите, я простой самарский парень, такой же, как и вы (Т. Куликова: Сладкая жизнь//Остановим их вместе!)

 

Die Promissionsintenz als Universalie

Als Universalie des Wahldiskurses muss auch die Promissionsintenz betrachtet werden. Diese Intenz dominiert im Genre der politischen Rede sowie in anderen Genres, die den Wahldiskurs konstituieren. Die spezifischen linguistischen Marker sind dabei Tempusformen der Zukunft, der potentiale Modus, die Lexeme mit der Semantik der Wahrscheinlichkeit [Шейгал 2004: 220]. Die Beispiele zeigen, dass diese Intenz sowohl im Westen als auch in Russland den Kern des politischen Diskurses ausmacht. So hat sich die CDU in ihrem Wahlkampf auf solche “Säulen” gestützt wie Arbeit und Politikwechsel. Arbeit wurde zum Fahnenwort der CDU/CSU, wogegen das Unwertwort Arbeitslosigkeit der SPD zugewiesen wurde. Dabei wurde die Zielsetzung der Partei durch die Metapher “Vorfahrt für Arbeit” charakterisiert [Burkhardt 2010: 17]. Die Forderung nach dem Politikwechsel “fand sich als zusätzlicher Text auf fast jedem Wahlplakat der Partei” [Burkhardt 2010: 21].

Ähnliche kommunikative Strategien verwenden auch die russischen Politiker. So hat beispielsweise der Bürgermeisterkandidat von der Partei “Gerechtes Russland” in Samara V. Tarchov 5 Prioritäten in sein Wahlprogramm aufgenommen, die die Entwicklungsstrategie von Samara betreffen. Er versprach, normale Straßen in der Stadt zu bauen, das Problem mit mangelnden Kindergärten zu lösen, das Programm “Soziale Preise” weiter zu entwickeln, die Bürger aus den baufälligen Häusern in sichere Häuser umzusiedeln und das Eigenbudget der Stadt zu steigern [Wahlbroschüre]. Kein schlechtes Programm, das aber von den Wählern nicht unterstützt wurde, da man zu wenig Vertrauen zu dem Promitenten hatte.

 

Sprachliche Universalien

Unter den sprachlichen Universalien des Wahlkampfes kann man Metaphern nennen. M. Osborn meint, dass dabei archetypische Metaphern vorgezogen werden. Die Politiker benutzen die metaphorischen Gestalten der Natur, des Lichtes und der Dunkelheit, der Hitze und der Kälte, der Gesundheit und der Krankheit, der Schiffahrt und Navigation. Solche Metaphern stützen sich auf universale Archetypen und bilden eine Grundlage für das gegenseitige Verständnis unabhängig von der Kultur und der Konjunktur. Sie erscheinen in den wichtigsten Teilen der Reden [Cit. nach Будаев, Чудинов 2008: 49]. Neben den archetypischen Metaphern kommen im Wahldiskurs die Kriegs-, Sport- und Theatermetaphern vor. Vgl. Sie Wörter und Wortgruppen als Kriegsmetaphern, die Wahlen als Kampf darstellen, der verschiedene Phasen durchläuft [vgl. Кириллов 2007: 15]:

Wahlkampf – struggle – предвыборная борьба
Pre-emptive campaign strategy – стратегия упреждающей кампании
Defence – защита
Mobilization – мобилизация

Die Sportmetaphern assoziieren die Wahlen mit einem Langlauf, deren Teilnehmer die Strecke vorfristig verlassen können. Manchmal wird der Wahlkampf mit einer Teamarbeit oder einem Brettspiel verglichen [vgl. Кириллов 2007: 17]:

Entering the race, the least-contested presidential race – вступая в президентскую гонку
Playing the Holocaust card – разыгрывая карту холокоста
Verlieren/gewinnen – проиграть/выиграть

Die Theatermetaphern bezeichnen politische Ereignisse als ein Theatergenre: drama, comedy, tragedy, spectacle, show. Die politische Tätigkeit wird der eines Schauspielers gleichgesetzt:

Eine Rolle spielen – играть роль

Auch andere Realien des Lebens werden metaphorisch umgedeutet. In dem Wahlkampf der CDU wurde eine Transportmetapher verwendet: eine Vorfahrt für die Arbeit. Im Wahlkampf in Samara haben die Gegner des Kandidaten vom “Einigen Russland”, D. Asarov, der Umweltminister der Region war, einen “feurigen Gruß” von ihm an die Wähler gerichtet:

пламенный привет от Дмитрия Азарова.

Das war eine böse Anspielung auf die Waldbrände im Sommer 2010 im Gebiet Samara, die er als Umweltminister zu verantworten hatte.

 

Die Unterschiede im Wahldiskurs

Die Unterschiede im Wahldiskurs liegen auf dem Gebiet des gesellschaftlich-politischen Lebens. In den westlichen Demokratien ist die Wahlpropaganda auf die Entwicklung der Eigeninitiative der Bürger gerichtet. So hieß die zentrale Aussage der CDU für den Wahlkampf:

“Die alte Sicherheit, der Staat regelt alles, gilt nicht mehr. Die alte Sicherheit, der Markt regelt alles, ist jüngst ad absurdum geführt worden”. “Wir brauchen mehr Eigeninitiative, Eigenverantwortung und Selbstverantwortung.”

Es geht also um die Verkürzung der Machtdistanz. In Russland wird diese Idee nicht Ernst genommen. Sie wird von den Vertretern der Žirinovski-Partei verkündet. Die Machtdistanz ist in Russland immer noch zu groß. Als Beispiel kann man eine Losung des Bürgermeisterkandidaten vom “Einigen Russland” D. Asarov anführen:

Выбор за Вами, результат за мной (Sie haben zu entscheiden, ich garantiere das Resultat).

Der Kandidat, der auch gewählt worden ist, verspricht also, alles selbst machen zu können, ohne dabei mit Hilfe der Bevölkerung zu rechnen. Auf solche Weise distanziert er sich, sperrt sich von der Bevölkerung ab.

Die Steigerung der Machtdistanz in Russland ist auch darin zu sehen, dass Moskau in vielen Regionen die Oberhand gewinnt und die Entscheidungen von oben aufdrängt. So werden die Gouverneure nicht mehr gewählt, sondern ernannt. Solche Gouverneure bringen Ideen mit, die der Bevölkerung der Regionen fremd sind. So ist beispielsweise in der Region Samara gegen den Willen der Bürger die Moskauer Zeit eingeführt worden, so dass es im Oktober schon fast um 15 Uhr dunkel wird und die Einwohner um eine Stunde Tageslicht beraubt worden sind. Da gab es eine Graffiti dagegen:

Долой московское время! (Weg mit der Moskauer Zeit!)

Die Steigerung der Machtdistanz kommt auch darin zum Ausdruck, dass im Wahlkampf die Kandidaten von verschiedenen Parteien keine gleichen Chancen haben, sich an die Wähler zu wenden. “Einiges Russland” hat grünes Licht, die Kandidaten von anderen Parteien werden verschwiegen. So wurde z.B. in Samara V. Tarchov, der vom “Gerechten Russland” kandidierte, die Möglichkeit entzogen, im Fernsehen zu sprechen. So wird dem Wähler gezeigt, wer zu entscheiden hat.

Es kommt sogar dazu, dass den Kandidaten, die sich selbst vorgeschlagen haben, das Recht entzogen wird, zu kandidieren. Die in Samara von der Wahlliste gestrichenen Kandidaten haben sich mit einem Brief an Präsidenten Medvedev gewandt, in dem sie die Situation beschreiben [Самарский курьер, № 4 (137), 30.09.2010].

Die Unterschiede im Wahldiskurs betreffen auch bestimmte Tendenzen. So sind die Diskurse verschieden zeitlich ausgerichtet. Im Westen lässt sich die Tendenz beobachten, dass die Reden zukunftsorientiert sind. Der prognostische Charakter der Reden läßt dem Wähler freien Spielraum, trägt zur Entfaltung der Eigeninitiative und des Unternehmungsgeistes bei. Wenn auch kritisiert wird, bezieht sich die Kritik oft auf mögliche Handlungen der Gegnerpartei. In Russland ist der Wahldiskurs vielmehr rückwärts gerichtet; die Wahlkandidaten üben Kritik an den Übeltaten der Gegenpartei oder einzelner ihrer Mitglieder. Somit werden nur wenige positive Lösungen in Aussicht gestellt.

 

Fazit

Der interkulturelle Vergleich des Wahldiskurses in Ost und West zeigt gemeinsame und unterschiedliche Züge. Die Informationsgesellschaft, die sich sowohl im Westen als auch im Osten etabliert hat, bewirkt eine ähnliche Entwicklung des politischen Lebens weltweit. Doch das Tempo dieser Entwicklung ist nicht gleich. Unterschiedlich bleiben auch Kulturen und Mentalitäten. Deshalb sind auch Unterschiede in Wahldiskursen von verschiedenen Ländern vorhanden

Die Analyse zeigt, dass der Wahlkampf im Westen, obwohl er im Ganzen als manipulativer Prozess zu charakterisieren ist, doch auch positive Züge besitzt, indem mögliche Entwicklungsperspektiven vorgestellt werden und somit die Eigeninitiative gefördert wird. In Russland aber ist dieser Prozess im Wesentlichen rückwärts gewandt.

 

Literatur:

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