Nr. 18    Juni 2011
TRANS: Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften

Section | Sektion: Signs and the City. In honor of Jeff Bernard

Symbolisierungsprozesse von Städten in literarischen Texten
der Frühen Moderne¹

Magdolna Orosz (Budapest) [BIO]

Email: magdolna.orosz@gmail.com


 Konferenzdokumentation |  Conference publication


 

Zusammenfassung:

Die Zeit der k.u.k.-Monarchie war eine Periode der raschen wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklung und der Urbanisierung, die bestimmte Prozesse von Zentrenbildung einleiteten, die an der literarischen Wahrnehmung von zu Metropolen gewordenen Städten der Monarchie erkennbar sind. Die Stadt funktioniert in der Literatur oft als realer Ort und symbolischer Raum von Identitätsbildung und Identitätsverlust: Die Großstadt kann als Ort moderner Zeit- und Raumerfahrung, neuartiger Selbst- und Fremderkenntnis erlebt und literarisch gestaltet werden. Am Beispiel von Texten ausgewählter österreichischer und ungarischer Autoren wird die kulturelle, ethnische und sprachliche Vielfalt der Monarchie und ihrer Metropole sowie ihre Rolle für die Etablierung erzählter Textwelten untersucht, in denen die Stadt als Kulisse und Generator von Fremdheit, von oft gestörter Selbsterfahrung funktioniert. Es wird untersucht, wie die Selbst- und Fremderfahrung des modernen Individuums in der narrativen Konstruktion der analysierten Textwelten zum Ausdruck kommt, wodurch auch eine vielfache und vielfältige Thematisierung der Gefährdung des autonomen Individuums erkennbar wird.

 

Summary:

The historical period of the k.u.k.-Monarchy was characterized by profound economical and cultural changes of urbanisation introducing some center building processes which can be clearly observed in the literary perception of such cities of the Monarchy evolving to metropolises. In literature the ’city’ often functions as a real location and, at the same time, as a symbolical place of identity building as well as of loss of identity: the city/the metropolis can be experienced and literarily constructed as a place of a modern perception of time and place and of a novel experience of the self and of foreignness. The cultural, ethnical, linguistical diversity and heterogeneity of the Monarchy and her metropolises/urban centers, as well as their function in establishing their textual worlds will be investigated on the basis of some works of Austrian and Hungarian writers. Particular interest will be paid to the construction of narrative textual worlds, and to the problem how a specific perception of the modern individuum is generated through this experience of his/her narrated environment obtaining symbolical meanings.

 

1. Raumkonzepte in der Analyse literarischer narrativer Texte

In den letzten Jahren zeichnet sich in der Kulturwissenschaft und der kulturwissenschaftlich orientierten Literaturwissenschaft – nach dem grundlegenden „cultural turn” und innerhalb diesem einem „pictorial turn” – auch ein „spatial”, „topographical” oder „topologischer turn” ab, der bestimmte Raumkategorien bzw. die Kategorie des ‚Raumes’ als grundlegende Analysekategorie setzt, denn „[f]rom various perspectives, […] space is a social construction relevant to the understanding of the different histories of human subjects and to the production of cultural phenomena” (Warf/Arias 2008: 1). Gegenüber einer Vorherrschaft der Kategorie der ‚Zeit’ behauptet Foucault in einer bereits 1967 entstandenen Schrift, „die aktuelle Epoche [wäre] eher die Epoche des Raumes”, denn „[w]ir sind in der Epoche des Simultanen, wir sind in der Epoche der Juxtaposition, in der Epoche des Nahen und des Fernen, des Nebeneinander, des Auseinander” (Foucault 1992: 34). Von dieser Feststellung ausgehend definiert er seine Raumtypen, darunter die für unsere Epoche charakteristische Form der Heterotopie (Foucault 1992: 39) als „anderen Raum”, der mit unterschiedlichen Kriterien wie „generelle kulturelle Relevanz, funktionale Veränderbarkeit, Integration von Unvereinbarem, Heterochronie, Begrenztheit sowie illusionäre kompensatorische Aufgaben” (Ubl 2002) beschrieben werden kann und – obwohl Foucault mit der Heterotopie „ein statisches Konzept von Raum: im Sinne eines Bündels von Platzierungen” verfolge – „bietet [sie] sich […] als Referenz einer über die physikalischen Gegebenheiten hinausgehenden Analyse von Orten an” (Ubl 2002).

Die unterschiedlichen – philosophischen, mathematischen, geographischen u.a. – Annäherungen an den Raum seit etwa Descartes und Newton finden ihre Weiterführungen in den verschiedenartig etikettierten „Wenden” und ihren Begrifflichkeiten, deren Unterschiede und Berührungspunkte nur mühsam auseinandergehalten werden können (aber eben sollten). Günzel ordnet „der generellen Thematisierung des Raumbegriffs” den „spatial turn” zu, wobei die „Problematisierung der Repäsentationsformen von Raum” seiner Meinung nach den „topographical turn” kennzeichnen soll (Günzel 2007: 13). Außerdem gebe es nach Günzel auch einen „topological turn”, indem „unter topologischen Gesichtspunkten zunächst danach gefragt [wird], was gleich bleibt, wenn ein Betrachter meint, etwas habe sich verändert” (Günzel 2007: 21), wodurch der Akzent auf abstrakte Raumstrukturen gelegt wird, was eine strukturalistisch geprägte Annäherungsweise bei unterschiedlichsten Repräsentanten einer solchen Auffassung nahegelegt hat (vgl. Günzel 2007: 25f.).

Die kulturwissenschaftlich geprägte Topographie, wie sie Sigrid Weigel versteht, wendet sich – in ihren amerikanischen bzw. europäischen Theoriebildungen jedoch auf unterschiedliche Weise – der „Untersuchung der Bedeutung topographischer und kartographischer Kulturtechniken für die Konstitution von Kulturen” (Weigel 2002: 165) zu und hat in der literarischen Topographie solche Vorläufer mit ihren verschiedentlich ausgeprägten Raumbegriffen wie Michail Bachtin, Walter Benjamin, Gaston Bachelard (Weigel 2002: 157) und in der Philosophie, Kulturtheorie oder Historiographie u.a. Ernst Cassirer, Georg Simmel, Michel Foucault, Fernand Braudel, Carl Schmitt, Oswald Spengler (Weigel 2002: 159ff.) aufzuweisen, deren Vorstellungen auf ihre Differenzen hin genauer zu untersuchen wären, um ihren Beitrag zu heutigen Entwicklungen genau ermessen und in eine definitorisch und methodologisch gut umrissene Theorie sowie in die Analysepraxis umsetzen zu können (das ist bis heute in vieler Hinsicht ein Desiderat kulturwissenschaftlicher Forschungen geblieben).

Der ‚Raum’ funktioniert außerdem seit längerem als Kategorie narratologischer Analysen in einer vor allem strukturalistisch begründeten Narratologie, die jedoch neue Ansätze, die neuerdings als „neue Narratologien” bezeichnet werden(2), in sich integrieren und kulturelle Aspekte berücksichtigen kann. Der Begriff ‚Raum’ erlangt in Lotmans Überlegungen eine entscheidende Bedeutung für die Beschreibung der Struktur von künstlerischen (und daher auch narrativen) Texten, indem davon ausgegangen wird, daß das Kunstwerk als „ein in gewisser Weise abgegrenzter Raum” (Lotman 1993: 311)(3) bzw. seine Struktur mit abstrakten, räumlichen Kategorien durchaus beschrieben werden kann. Lotman operiert dabei mit mengentheoretischen Begriffen, denn der ‚Raum’ bzw. die ‚Teilräume’, in die der ‚Raum’ eines Textes geteilt wird, sind für ihn eigentlich Mengen im mathematischen Sinne, mit deren Hilfe sich die abstrakte semantische Ebene von Texten beschreiben läßt: „Raum ist: »die Gesamtheit homogener Objekte (Erscheinungen, Zustände, Funktionen, Figuren, Werte von Variablen u. dgl.), zwischen denen Relationen bestehen, die den gewöhnlichen räumlichen Relationen gleichen (Ununterbrochenheit, Abstand u. dgl.). Wenn man eine gegebene Gesamtheit von Objekten als Raum betrachtet, abstrahiert man dabei von allen Eigenschaften dieser Objekte mit Ausnahme derjenigen, die durch die gedachten raumähnlichen Relationen definiert sind.«” (Lotman 1993: 312). Auf diese Weise wird die abstrakte Textstruktur modelliert, so daß auch andere Kategorien des Modells wie das Sujet [=Geschichte] und die Figur von Raumkategorien ausgehend definiert werden: Das Sujet ist die Entfaltung eines Ereignisses (Lotman 1993: 339), das auf der Grenzüberschreitung zweier oppositioneller Räume einer Figur aufgebaut ist, und die Figur wird eben als „Grenzgänger” zum ‚Handlungsträger’ (Lotman 1993: 431ff.). Das so verstandene Raummodell funktioniert dann „als Sprache für den Ausdruck anderer, nichträumlicher [=semantischer] Relationen des Textes” (Lotman 1993: 330). Durch den so definierten ‚Raum’-Begriff läßt sich ein System verschiedener ‚Raum’-Arten (d.h. von ‚semantischen Räumen’) in literarischen narrativen Texten herausarbeiten, die eigentlich eine Beschreibung der abstrakten semantischen Struktur der erzählten (Text)welt bedeutet. In diesem Modell funktioniert der ‚Raum’ als Kategorie der abstrakten semantischen Struktur, gleichzeitig aber auch als eine Kategorie zur Beschreibung der in der erzählten Welt konstruierten konkreteren ‚Räume’, wobei die Aufteilung auf beiden Ebenen (deren Zusammenziehung einen kritischen Punkt dieses Modells bedeutet) von vornherein kulturell geprägt ist, indem der Charakter der Räume und die Art der Ereignisse durch die jeweilige Kultur und ihre Annahmen bestimmt wird: „Historische und national-sprachliche Raummodelle werden zum Organisationsprinzip für den Aufbau eines ‚Weltbildes’ – eines ganzheitlichen ideologischen Modells, das dem jeweiligen Kulturtyp eigentümlich ist” (Lotman 1993: 313).

In der Lotmanschen Konzeption wird der Raumbegriff auf einer abstrakten und einer konkreteren Ebene zugleich verwendet (vgl. Orosz 1999)(4), wodurch verschiedene Abstraktionsebenen vermengt werden. Gleichzeitig wird aber damit die kulturell bedingte Einrichtung der erzählten Welt betont. Diese Eigenschaft verbindet Lotmans Vorstellungen mit kulturwissenschaftlichen oder kulturwissenschaftlich geprägten literarischen Analysen(5), denn damit wäre auch ein Ansatzpunkt für die die Kulturalität und die räumlichen Figurationen des Erzählens untersuchenden Analysen gegeben, weil der kulturelle Aspekt auf einer tieferen Ebene des Lotmanschen Modells als allgemeine Bedingtheit erscheint und (vom konkreten Text, dem Untersuchungsaspekt und der Kultur abhängig) jeweils weiter spezifizierbar ist. Außerdem ließe sich die mengentheoretische, mithin topologische Grundlage der Lotmanschen Theorie, die bei Renner eine explizite Theoretisierung erhält (vgl. Renner 1983; Renner 2004), in die Nähe der topologischen Raumstudien bringen – somit könnte Lotmans Konzeption durch ihre Kulturalität und ihre eigentlich topographische Fundierung den Zwecken narratologischer Textanalysen dienen und in die topologisch sowie topographisch gerichteten kulturwissenschaftlichen und kultursemiotischen Untersuchungen eingebunden werden, um sowohl abstrakte als auch symbolhafte Gliederungen erzählter Welten beschreiben sowie ihre Funktionierungen im kulturellen Kontext erschließen zu können.

 

2. Raumsemantik und die Konstruktion von Identität und Fremdheit in literarischen Texten der k.u.k.-Monarchie

Die Bedeutung einer Raumsemantik kann sich in der Analyse literarischer Erzähltexte der Jahrhundertwende bzw. der Frühen Moderne erweisen, ihre Anwendung dürfte sowohl theoretische wie analytische Einsichten in tieferliegende Konstruktionsprinzipien von Textwelten bei einigen Autoren der untersuchten Epoche sowie allgemeinere Feststellungen über kulturelle Prozesse bringen. Dabei spielen real diagnostizierbare Entwicklungen von Zentrenbildung und Peripherisierung, Urbanisierung und Massenbildung sowie ihre literarische Fiktionalisierung bei der Reflexion von moderner Zeit- und Raumerfahrung, neuartiger Selbst- und Fremdwahrnehmung, Selbst- und Fremderkenntnis eine eminente Rolle, die auch Aufschluß über die als ‚Kommunikationsraum’ verstandenen Regionen der Monarchie, über Zentraleuropa(6) sowie über das „Spannungsfeld verschiedener Symbolsysteme” (Feichtinger 2005: 129) geben können, über den ‚Kommunikationsraum also, „in dem durch die Setzung oder Verwerfung von Elementen Lebenswelten und Machtverhältnisse ausverhandelt werden, ein Kommunikationsraum mit durchlässigen Abgrenzungen, da immer wieder neue Elemente hinzukommen” (Csáky 2005: 110f.).

Diese „Symbolsysteme”, die vielfache, heterogene oder sogar hybride Identitäten stiften und reflektieren, erscheinen in literarischen narrativen Texten oft als konkrete Raumkonstruktionen, die eine abstrakte Raumsemantik und dadurch symbolhaften Sinn etablieren. Die Selbst- und Fremderfahrung des modernen Individuums läßt tiefe Brüche erleiden, die Gefährdung des autonomen Subjekts, des autonomen Individuums wird allgemein erlebt (vgl. Titzmann 1989). Modellhaft dafür kann das „Wien des Fin de Siècle” stehen, das sowohl den Verzicht „auf Ganzheitsvisionen” als auch „Identitätsbedrohung”, „Verunsicherungen […] und Identitätskrisen unvermeidbar erscheinen” (Feichtinger 2005: 132) läßt.

2.1. Raumsymbolik und Identitätskrisen

In der deutschsprachigen und ungarischen Literatur der Jahrhundertwende und der Frühen Moderne können trotz ihrer scheinbaren Heterogenität gewisse Gemeinsamkeiten entdeckt werden: Auf Grund der Symbolisierung des Raumes der erzählten Geschichten ließen sich zwei Grundtypen feststellen, die mit dem historisch-politischen Wendepunkt des Zerfalls der Monarchie verknüpfbar sind. Die Varianten der vor allem individualpsychologisch motivierten, mythisiert-märchenhaften oder symbolhaften Raumgestaltung sind – in unterschiedlichen konkreten Formen – vor allem für die Periode vor dem Ersten Weltkrieg und vor dem Untergang der k.u.k.-Monarchie charakteristisch.

2.1.1. Symbolhafte Identitätszuschreibungen

Zwei kurze Erzählungen veranschaulichen die Mechanismen symbolischer Raumzuschreibungen. Sie können miteinander intertextuell verbunden werden: Leopold Andrians Der Garten der Erkenntnis und Hugo von Hofmannsthals Das Märchen der 672. Nacht, die im gleichen Jahr, 1895, erschienen sind, weisen eine gewisse, motivisch u.a. durch die Gartenmotivik und die Stadtbilder sowie durch den Mangel an richtiger Kommunikation belegbare Verwandtschaft auf (vgl. Paetzke 1990: 67; Paetzke 1992: 48).(7) Hofmannsthal selbst hebt die Grundzüge des Textes von Andrian in seinem 1918 entstandenen Aufsatz Zur Krisis des Burgtheaters hervor:

Es ist ein kurzer, traumartiger Lebenslauf, sehr schlicht erzählt, mit Nennung österreichischer Ortschaften, Erwähnung ganz alltäglicher Dinge. Aber durch Zusammendrängung und Unbestimmtheit entsteht der Charakter des Märchenartigen und dies Besondere ist nicht durch kalte Absicht erzeugt, sondern wie unbewußt, durch die eigene Ergriffenheit. (RA II, 248)

Der „Charakter des Märchenartigen” bestimmt auch die Raumsemantik: Es werden hier zwar geographisch situierbare Orte (das Konvikt, Bozen, Tirol, „auf dem Land”, „auf der Alm”, Italien und immer wieder Wien) genannt und als Räume der erzählten Welt eingeführt, sie werden aber durch ihre Ausgestaltung, d.h. durch ihre die Unterschiede nivellierende Eigenschaft der ‚Schönheit’ als einander ähnliche und quasi identische gesetzt: „Die Schlösser auf dem Land im Herbst waren schön” (GE, 11), und die Figur „hatte […] vieles in Bozen gern: die grünen Kirchtürme, den feuchten tiefen Klang der Glocken, die immer läuteten und den Frühling, wenn die Obstbäume blühten” (GE, 15), und in Wien

liebte [er] die großen Barockpaläste in den engen Gassen und die tönenden Inschriften an unseren Monumenten und den spanischen Tritt der Pferde und die Uniformen der Garden und den Burghof an Wintertagen, […] und er liebte die großen Feste, die alle feiern (GE, 20f.).

Die Textwelt, indem sie auch traditionelle Erzählmuster wie das des Abenteuer- und Reiseromans (Sorg 1996: 247) und des Bildungsromans (Rieckmann 1983: 68) teilweise wiederaufnimmt, teilweise ins Negative wendet(8), baut auf dem Strukturprinzip linearer Verkettung und zeitlichen Nacheinanders auf, obwohl diese einfache Struktur durch die Aufteilung der erzählten Welt komplizierter wird: Neben den Geschehnissen in der fiktiven „realen” Welt der (Haupt)figur Erwin gibt es eine „Parallelgeschichte” in seiner „inneren”, „virtuellen” Welt, die durch seine subjektiven Wahrnehmungen (Träume, Eindrücke, Gedanken, Wünsche) zustandekommt und für die Figur allmählich wichtiger (am Ende sogar ausschließlich erlebt) wird als seine „reale” Welt.

Erst wenn der Raum zum inneren Ort und damit zum Projektionsraum von Träumen und Ängsten wird, kann ein (allerdings endgültiger) Übergang zwischen Leben und Tod stattfinden. Er wird nach den Begegnungen mit dem „Fremden” herbeigeführt, die ebenfalls in Wien, d.h. im Raum der „Schönheit” stattfindet:

Alles hatte seine sinnreiche Schönheit: die Kathedralen des Mittelalters und die großen gelben Barockkirchen […] und die kleinen mittelalterlichen Kirchen im Gewirr der Häuser und die armen Kirchen der zwanziger Jahre in der Vorstadt. (GE, 31)

Der Übergang erfolgt jedoch in einem Teilraum, der nicht mehr durch „Schönheit” charakterisiert wird:

Dann gelangte er in die Vorstadt; aus einem niedrigen Haus floß Gesang und Musik vermengt auf die Gasse; […] Der Erwin ging hinein. In einem kleinen Zimmer, dessen Luft blau von Rauch und schwer vom Atem der vielen Menschen war, sprach beinahe gleichgültig, fast traurig, ein junger, magerer, geschminkter Mensch mit scheuen Augen, […] (GE, 35f.)

Der „Fremde” ist mit den Kategorien der „Schönheit” nicht mehr zu erfassen, denn er hat ein „niedrige[s] Gesicht” (GE, 37), das „Sanftmut und Bosheit, Furchtsamkeit und Drohung” (GE, 37) ambivalent vereinigt und bei der nächsten Begegnung ist seine Erscheinung „drohender” (GE, 45). Der „Fremde” als störendes Element in der auf Schönheit fixierten Welt der Figur ruft eine Veränderung des Raumes bzw. seiner Wahrnehmung herbei:

Unter dem Eindruck dieser Begegnung veränderte sich dem Erwin in der folgenden Zeit die Stadt [= Wien]; ihre Vielfaltigkeit, die ihn früher bewegte, verwirrte ihn jetzt und drohte ihm. An einem sehr heißen Tag fürchtete er sich vor der Musik, die in allen Straßen war; es schien ihm, als sei die Stadt damit wie mit einem trügerischen Gift durchtränkt (GE, 45)

Die Begegnungen mit dem „Fremden” führen deshalb eine steigende Angst herbei, weil die bisherige, auf „Schönheit” „Festlichkeit”, „Zeremonie” konzentrierte, zugleich reduzierte Wahrnehmung der Figur durch abweichende Züge und die Ambivalenz von Erscheinungen gestört wird. Der Fremde als Repräsentant einer unbekannten, unterdrückten Welt des Häßlichen, Nicht-Eleganten und „Formlosen”, des Triebhaften und Unbewußten(9) führt eigentlich das endgültige Scheitern der Hauptfigur herbei, die seine erstarrte Schönheitswelt nicht aufzugeben oder zumindest zu öffnen vermag und dadurch auch das letzte Ziel der „Erkenntnis” verfehlt. Erwins Weg führt „[...] statt zur befreienden Identitätsfindung immer mehr in das Gefängnis narzißhafter Selbstbespiegelung [...]” (Renner 1981: 116).(10)

Die Figur des Fremden und die damit verbundenen Möglichkeiten könnten zwar zu einer anderen Art von „Erkenntnis” führen, das würde aber einen „Abstieg” in die Tiefen des eigenen Ichs bedeuten, und erst das könnte auch eine Einsicht in die verborgenen Seiten der Welt herbeiführen. Die Hauptfigur ist aber nicht dazu fähig, diese Art „Erkenntnis” anzunehmen, sie bleibt auf sich selbst bezogen, eine Narzißfigur – „[...] er hoffte, daß, wenn er sie [=die Welt] erkannt hätte, ihm aus ihrem Bildnis sein Bildnis entgegenschauen würde” (GE, 54), deren selbstreflexive Welt zu keiner Erkenntnis (zu keinem richtigen Objektbezug) fähig ist.

Die Hauptfigur ist demnach unfähig, aus dem einen Interpretationsmodell, das durch die Eigenschaften von ‚strenger Form’, ‚Intellektualität’, ‚Schönheit’, ‚ästhetischer Weltsicht’, ‚Kommunikatonslosigkeit’ gekennzeichnet wird, auszutreten und in das andere, das durch ‚Formlosigkeit’, ‚Unbewußtes’, ‚Häßliches’, ‚Triebhaftes’ charakterisiert werden kann, einzutreten. Diese Unfähigkeit wird durch intertextuelle Bezugsfelder der biblischen Bezüge des Garten Eden, sowie der Nietzsche-Allusionen vertieft, so daß aber der Erzähldiskurs keine Festlegung auf ein (textextern-intertextuell) konzipiertes mögliches Muster, auf ein potentielles ideologisch-gedankliches Konstrukt als Lösungssuggestion aufzeigt.(11)

Darin ähnelt Andrians Text dem Märchen der 672. Nacht von Hofmannsthal, wo zwar eine Zweiteilung der Räume zu beobachten ist: in den Raum des „Landhaus[es], das er im Gebirg besaß” (EG, 48) und des dazugehörenden Gartens vor der Stadt, sowie in den der Stadt, in die die Figur, der Kaufmannssohn „wie ein Fremder” (EG, 53) zurückkehrt. Die beiden Räume unterscheiden sich hier durch ihre Eigenschaften der „Schönheit” bzw. „Häßlichkeit”: Das Haus des Kaufmannssohnes ist schön und prächtig, so sind auch seine Gegenstände, Kunstobjekte, die Blumen und Pflanzen im Garten, so wie auch er selbst „sehr schön war” (EG, 45), und auch seine Diener betrachtet er wie Gegenstände oder sogar Kunstobjekte, deren ästhetisch wahrgenommene Form ihm am wichtigsten zu sein scheint:

Dieses junge Mädchen war von denen, die man von weitem, oder wenn man sie als Tänzerinnen beim Licht der Fackeln auftreten sieht, kaum für schön gelten ließe, weil da die Feinheit der Züge verloren geht; da er sie aber in der Nähe und täglich sah, ergriff ihn die unvergleichliche Schönheit ihrer Augenlider und ihrer Lippen, und die trägen, freudlosen Bewegungen ihres schönen Leibes waren ihm die rätselhafte Sprache einer verschlossenen und wundervollen Welt. (EG, 48)

Die Stadt, in die er wegen der Lösung des Rätsels um die eventuelle Verleumdung seines Dieners kommt, ist im Gegensatz zum schönen und prächtigen Garten und Landhaus, mit der Eigenschaft „häßlich” charakterisierbar:

Neugierig, wie ein Fremder, ging er durch die bekannten Straßen und kam endlich an das Ufer eines kleinen Flusses, der zu dieser Jahreszeit fast ausgetrocknet war. Von dort folgte er in Gedanken verloren einer ärmlichen Straße, wo sehr viele öffentliche Dirnen wohnten. […] bog er dann rechts ein und kam in eine ganz öde, totenstille Sackgasse, die in einer fast turmhohen, steilen Treppe endigte. […] Er konnte in die Höfe der kleinen Häuser sehen; hie und da waren rote Vorhänge an den Fenstern und häßliche, verstaubte Blumen; das breite, trockene Bett des Flusses war von einer tödlichen Traurigkeit. (EG, 53f.)

Die Figur versucht seine Welt der „Schönheit” durch Requisiten zu retten, die sie an seine ästhetische Umgebung und die ästhetisch wahrgenommenen Dienerinnen erinnern: durch „einen altmodischen Schmuck aus dünnem Gold, mit einem Beryll verziert, der ihn irgendwie an die alte Frau erinnerte” (EG, 54) und „ein dünnes goldenes Kettchen” (EG, 54), das „das Bild des Mädchens […] mit den dunklen Köpfen der ehernen Göttinnen zu beiden Seiten” (EG, 54) wachruft sowie durch die nur als Erinnerung oder Einbildung evozierbare Schönheit seiner Wohnung,

[…] die Schönheit seines eigenen breiten Bettes, und auch die Betten […], die der große König der Vergangenheit für sich und seine Gefährten errichtet hatte, als sie Hochzeit hielten mit den Töchtern der unterworfenen Könige, für sich ein Bett von Gold, für die anderen von Silber; getragen von Greifen und geflügelten Stieren. (EG, 59)

Der Prozeß des Übergangs aus dem Landhaus/Garten in die Stadt bedeutet einen symbolischen Übergang aus dem Raum der „Schönheit” in die der „Häßlichkeit”, er bedeutet für den Kaufmannssohn auch eine Übertragung der Eigenschaften, über die früher seine kranke Dienerin (so wie in der Kette der Ersetzungen das kleine Mädchen im Glashaus und das Pferd, das ihn tödlich verletzte) verfügte, auf ihn selbst und somit seinen eigenen Tod: die Erkenntnis seiner ungenügenden Beziehung zur Welt und zu seinen Mitmenschen stellt sich erst im Moment seines Todes ein, so daß die Kommunikationslosigkeit, die Unfähigkeit zu menschlichen Beziehungen in beiden Zuständen erhalten bleibt und den Übergang aus der ästhetischen in die ethische Sphäre verhindert (vgl. Csúri 1999).

2.1.2. Identitätsspaltung und psychologisierte raumsemantische Projektionen

Zwei Romane, die ungefähr zur gleichen Zeit entstanden/ erschienen(12) und miteinander durch ihre gemeinsamen intertextuellen Vorlagen (Morton Prince: The Dissociation of a Personality und Sigmund Freud: Die Traumdeutung) verbunden sind, der Andreas-Roman von Hugo von Hofmannsthal und der Roman A gólyakalifa (Der Storchkalif) des ungarischen Dichters und Schriftstellers Mihály Babits gehören m.E. in eine „Kategorie” der Raumgestaltung, wo die erzählten Räume zu Projektionen seelischer Zustände verinnerlicht werden.

Beide Werke thematisieren die gestörte Identität einer Figur (bei Hofmannsthal sogar mehrerer Figuren) und repräsentieren zwei Lösungsversuche. Hofmannsthals Roman (bzw. dessen zusammenhängender Teil) erzählt die Geschichte eines jungen Mannes, dessen unsichere Identität sich auch in den Schwierigkeiten der Benennung, der Namengebung zeigt, die selbst eine Art Identifikation ist, indem die Hauptfigur zuerst (in den frühen Notizen des Autors) Leopold, dann aber Andreas heißt, wobei es noch ein Schwanken zwischen den Formen Andreas und Andres zu beobachten ist.(13) Andreas kommt aus Wien und wird durch Reisebegegnungen in Kärnten und Venedig mit verschiedenen Menschen, Gefühlen, Beziehungen, mit verschiedenen Aspekten/Teilen seiner eigenen Persönlichkeit konfrontiert.

In der erzählten Welt des zusammenhängenden Textteils dominiert die Venedig-Episode, wobei es sich um eine „kunstvolle Variation des ihm [= Hofmannsthal] schon vorgegebenen Venedig-Sujets” (Nienhaus 1992: 91ff.), d.h. um eine intertextuelle Bearbeitung eines traditionsreichen Motivs handelt. Venedig als symbolhafter Ort wirkt als räumlicher Katalysator der Identitätsproblematik, weil er eben verschiedene Gegensätze, „Lebensgenuß und Askese, Okzident und Orient, Nähe und Ferne, alle Kontraste und Extreme” (Wieser 1957: 408) kaum durchschaubar als Labyrinth verbindet. Die symbolhafte Bedeutung des Raumes konzentriert sich im Motiv der „Maske”, denn sie sichert eine scheinbare Identität, die die Ambivalenz von gleichzeitiger Identität und Nicht-Identität repräsentiert:

„dann trat aus einem Gäßchen ein Maskierter hervor, wickelte sich fester in seinen Mantel nahm mit beiden Händen ihn zusammen [...]. Andres tat einen Schritt vor und grüßte, die Maske lüftete den Hut und zugleich die Halblarve [...]. Es war ein Mann der vertrauenswürdig aussah und nach seinen Bewegungen und Manieren gehörte er zu den besten Ständen.” (EG, 198)

In der Ambivalenz von Schein und Sein ist Venedig zugleich eine gesteigerte Version des Ausgangsorts Wien, der ebenfalls von dieser sich im Theatermotiv äußernden Mehrdeutigkeit geprägt ist:

Zweifelhaft war ihm, ob er berichten solle, daß er ganz nahe einem Theater wohne. Das war in Wien immer sein sehnsüchtiger Wunsch gewesen. Vor vielen Jahren, als er zehn oder zwölf Jahre alt war, hatte er zwei Freunde, die im Blauen Freihaus auf der Wieden wohnten, […] wo in einer Scheune das „beständige Theater” errichtet war. (EG, 204).

Trotzdem sollte Venedig zum Ort revelativer Selbsterkenntnis werden, die durch die Einsicht in die Gespaltenheit und die Zusammenführung der abgespaltenen Persönlichkeitsteile erfolgen sollte (repräsentiert im Figurenpaar Maria-Mariquita bzw. in der bewußten vs. unbewußten Seite von Andreas, sowie im Figurenpaar Andreas-Gotthelf). Als Kontrastort zu Wien und Venedig erscheint Kärnten in Erinnerungsbildern. Hier sind auch die Figuren des Finazzerhofes und besonders Romana durch eine Konsistenz „in Unschuld und Reinheit” (EG, 216), eine für Andreas unerreichbare Einheit mit sich selbst und der Welt charakterisiert. Daß Kärnten nur als erinnerter Ort aufscheint bzw. daß dort auch Gegensätze (zwischen Andreas und Gotthelf bzw. zwischen Andreas Traumzuständen und Wachzuständen) auf Identitätsprobleme hindeuten, läßt auf die Schwierigkeit einer Lösung folgern: Die grundlegende Identitätsproblematik ließe sich durch „das Allomatische” als „die gegenseitige Verwandlung”, „die Verwandlung durch einen Anderen” (Pape 1975: 680)(14) lösen. Dazu wäre im Wertsystem des Romans eine Liebe notwendig, in der verschiedene Gegensätze, Triebhaftes und Geistiges, Höheres und Niedriges miteinander im Einklang sind und auch das angestrebte „Eins-werden mit sich selber” (Pape 1975: 691) ermöglicht würde.

Die Unsicherheit dieser Lösung wird auch durch die komplexen räumlichen Beziehungen des Textes hervorgehoben. Der aus dem Leben von Andreas erzählte Abschnitt beschränkt sich eigentlich nur auf einen Ort, worin die anderen Orte und andere Zeitabschnitte nur durch Erinnerung und Traum mehrfach eingebettet werden. Durch die erzähltechnische Verwendung des symbolhaften Ortes „Venedig” entsteht eine bestimmte Identifikation von Venedig mit Wien (durch die Motive „Maske” und „Theater” bzw. durch die Unsicherheiten der Benennung und die Identitätsstörungen) und gewissermaßen auch mit Kärnten und dem Finazzerhof, denn sie erscheinen ebenfalls als Erinnerungen in Venedig. Außerdem tauchen manche Elemente aus Wien (die Familie von Andreas, Kindheitsepisoden) in Kärnten auf, so daß diese Orte nicht scharf voneinander zu trennen sind, sondern gemeinsame Züge aufweisen, wodurch ein gewisser Ausgleich in ihrer Symbolik zustandekommt.

Im Roman Der Sorchkalif von Babits geht es ebenfalls – in teilweise phantastischer Ausprägung(15) – um gestörte Identität. In der erzählten Geschichte handelt es sich um eine Pubertätskrise: die Hauptfigur Elemér Tábory erlebt die Begegnung mit der Welt, mit dem notwendigen Erwachsenwerden und mit seiner eigenen Sexualität als eine Spaltung in ein Tages- und Traum bzw. Nacht-Ich. Das Ich des Tages ist ein guter Schüler mit hervorragender Intelligenz, der in einer wohlsituierten, harmonischen, ihn annehmenden familiären Umgebung lebt. Im zweiten Leben ist er ein eher dummer, unglücklicher Tischlerjunge, der gequält und gedemütigt wird:

Alles, alles stimmte gar entsetzlich überein. Mit gespenstischer Genauigkeit deckten einander auch die unansehnlichsten Regungen meiner beiden Leben. Wie zwei Papierstreifen, deren Formen einander aufs genaueste decken; jede Stunde, jede Minute war mit der entsprechenden im Einklang. (Sk, 108)

Sein Leben gestaltet sich zwischen den beiden Polen der Tages- und Nachtexistenz: obwohl er in seiner „eigentlichen” Welt erfolgreich weiterlebt, kommt es eben in Venedig zum Überhandnehmen der Ambivalenz, zum seine weitere Existenz bestimmenden Durchbruch seines zweiten Ichs. Das andere Ich setzt sein moralisch immer mehr herabgekommenes Leben fort, um am Ende Selbstmord zu begehen, der auch zum Tode des „eigentlichen” Ichs führt.

Die Annahme einer zusammengesetzten Persönlichkeitsstruktur wird zum strukturgestaltentenden Prinzip der fiktiven Welt:

Ist dies vielleicht auch bei anderen so? Hat vielleicht jedermann ein solches dunkles Ich, etwa verborgen, etwa unterbewußt, etwa als seiner Seele sündhaften, unglückseligen Bodensatz? Schon möglich… (Sk, 112)

Bei Babits werden die Persönlichkeitsteile ebenso auf zwei einander ausschließende komplementäre Seiten der menschlichen Persönlichkeit (Trieb und Geist, Sexualität und Sublimierung, moralisch Niedriges und moralisch Höheres, Bewußtes und Unbewußtes usw.) representierende Hälften reduziert wie in Andreas. Diese Strukturierung äußert sich auch in der symbolhaften Raumstruktur: Das glückliche Leben von Elemér Tábory ist an eine Kleinstadt, „[d]iese grünen Berge hier, in ihrer samtiger Pracht” (Sk, 19) und ihre durchschaubare natürliche und soziale Struktur gebunden.(16) Das unglückliche Ich lebt zuerst in einem Vorort einer (nicht genannten, aber als das damalige Budapest identifizierbaren) Großstadt, die undurchschaubar und menschenfremd, somit identitätsgefährdend ist:

Am sonderbarsten jedoch war der Kai. Die mächtigen Brücken wölbten sich beängstigend, Auf dem Depotplatz lungerten, taumelten mächtige, zerlumpte Gestalten, einsam wie Gespenster. Gewaltige Lichtstreifen warfen breite Schatten und zerflossen in Pfützen. […] Ich irrte im Nebel umher. (Sk, 150)

Außerdem funktioniert Venedig als Katalysator, die Stadt erscheint zwar als Ort der harmonischen Schönheit:

Auch treppige, glatte Marmorbrücken wölbten vor uns ihren greisen Rücken. Auf ihren Geländern waren die Marmorzapfen spiegelig-gelb angegriffen. […] Manchmal gelangten wir auf einen Campo hinaus. Auf den Mauern der Häuser prunkten bunte Marmortafeln, wie Seideneinsätze an schönen Frauengewändern. Es war dies ebenso eine Stadt der Glätte wie der Stille. Die Stadt der glatten Steine, des glatten Wassers. (Sk, 92)

Der schöne Schein der Stadt ist jedoch ambivalent und generiert mögliche Ambivalenzen, so daß dies den Übergang zwischen den oppositionellen Persönlichkeitsteilen hervorruft und Venedig als Ort der Spaltung hinstellt:

Alles war damals so schön, und ich fürchtete mich im geheimen, fürchtete mich an diesem Nachmittag, als fühlte ich, wie sich in meiner Seele das Gespenst regt, das ich in mir trug […]. Und abends spazierten wir auf der Merceria, ein bläulichweißer Lichtfluß humpelte glatt durch das Bett der engen Straße, […] wundervoll elegante, fremde Damen prunkten in der wundervollen Stadt […]. Und wir fuhren in einer Gondel auf dem Canale Grande, wo in den großen Salons der uralten Palazzi von den güldenen Zimmerdecken erhellte elektrische Lüster leuchten, und draußen leckte träger Schaum dunkel die Marmortreppen, leckte die faulenden rot-weiß-gestreiften Holzsäulen. Etelke war schön in Licht und Dunkel, und herrlich schön war die ganze Welt. […] Und an diesem Abend erwachte ich neuerdings zu meinem zweiten Leben. (Sk, 93)

Die Lösung der Identitätsproblematik ist bei Babits der des Andreas-Romans entgegengesetzt: Während es bei Hofmannsthal auf Vereinigung des gespaltenen Ichs ankommt, zeichnet sich bei Babits eine im Phantastisch-Psycho(patho)logischen verankerte skeptische Lösung ab, die die Vereinigung der getrennten Persönlichkeitsteile erst durch den Tod in einer „tödlichen Einheit” möglich macht.

2.2. Auf der Suche nach einer verlorenen Welt: Erinnerung und Raumprojektionen

Außer der vor allem symbolisch und psychologisch motivierten Raumzuschreibungen gibt es eine Raumgestaltung als Erinnerungsleistung aus der nachträglichen Perspektive mit ihren nostalgisch und/oder ironisch-kritisch geprägten Formen, in der die individualpsychologische Identitätsproblematik in eine historisch-sozial geprägte Perspektive eingebunden wird. Die „Wendezeit” vor und nach dem Zusammenbruch bietet sowieso einen Epocheneinschnitt, der sich durch die Funktionalisierungen des Raumes fiktiver erzählter Welten tiefgreifende Wandlungsprozesse analytisch erkennen läßt und der Literatur eine eminente Rolle in ihrer Reflexion zuschreibt.

Der Zerfall der k.u.k.-Monarchie nach dem Ersten Weltkrieg bedeutete das Auseinanderfallen einer geographischen Einheit, die von vornherein durch eine physikalische, politische soziale, kulturelle Vielfalt gekennzeichnet war, die vielfältige und komplexe Gegensätze und Ambivalenzen generierte und in literarischen Werken in unterschiedlichen Ausprägungen auch durch topographische Eigenarten erzählter Textwelten erkennbar wird. Der Untergang und die Vergangenheit der Österreichisch-Ungarischen Monarchie erscheint in der Zwischenkriegszeit in einer Reihe von literarischen Werken nicht nur deutschsprachiger Autoren in verschiedenartig ausgestalteten Erinnerungsbildern. Der Mythos der Monarchie, der Habsburgermythos wird geschaffen, „das alte habsburgische Österreich [wird] als eine glückliche und harmonische Zeit, als geordnetes und märchenhaftes Mitteleuropa” (Magris 2000: 19) angesehen, in der „Erinnerung wurde dieses Österreich zu einem »goldenen Zeitalter der Sicherheit«” (Magris 2000: 19). Die Mythisierung verdeckt zugleich aber die inneren Brüche, Heterogenitäten und Spannungen, die für die Monarchie charakteristisch waren, und die in den die untergegangene Welt erinnernd herbeirufenden Werken diese eben durch die Symbolik von Figurenkonstellationen und Raumgestaltungen aufzeigen und damit unterlaufen.(17)

Joseph Roths Roman Radetzkymarsch, der 1932 erschienen ist, rekonstruiert die untergegangene Welt der Monarchie in der Geschichte einer Familie vor dem Hintergrund der „großen” Geschichte(18) durch symbolische Raumzuschreibungen von Zentrum und Peripherie, jedoch „vornehmlich aus dem Blickwinkel der Peripherie” (Müller-Funk 2005: 306). Dabei erscheint einerseits der Raum des slowenischen Dorfes Sipolje der „bäuerlichen slowenischen Vorfahren” (Rm, 14) des Hauptmanns Trotta, des Helden von Solferino, dessen Vater „zu seinem Sohn slowenisch gesprochen” (Rm, 13) hatte, „obwohl der Junge nur ein paar Worte verstand und nicht ein einziges selbst hervorbrachte” (Rm, 13): ein Raum des Ursprungs und einer Selbstidentität, die in den nachfolgenden Generationen immer unsicherer wird. Auf der anderen Seite etabliert sich als Raum der Peripherie die Grenzgarnison im Osten der Monarchie, in der der Enkel des Helden von Solferino seine militärische Karriere unwürdig beendet, um dann zu Beginn des Krieges einen unheldenhaften Tod als Vertreter der dekadenten Enkelgeneration zu sterben. Die Grenzgarnison ist an der Grenze zu Rußland situiert und hat scheinbar nichts mit dem Zentrum des Reichs gemeinsam:

Die Stadt war so winzig, daß man sie in zwanzig Minuten durchmessen konnte. Ihre wichtigen Gebäude drängten sich aneinander in lästiger Nachbarschaft. Wie Gefangene in einem Kerkerhof kreisten die Spaziergänger am Abend um das regelmäßige Rund des Parkes. Eine gute halbe Stunde Marsch brauchte man bis zum Bahnhof. (Rm, 180)

Jedoch spiegelt der dürftige Ort das Zentrum im kleinen, fast wie eine Karikatur, ebenso wie der Enkel Carl Joseph eine abgeschwächte „Variante” des Großvaters und des die großväterlichen Werte und Tugenden weiterführenden Vaters wird:

Es war der letzte aller Bahnhöfe der Monarchie, aber immerhin: auch dieser Bahnhof zeigte zwei Paar glitzernder Schienenbänder, die sich ununterbrochen bis in das Innere des Reichs erstreckten. […] Einmal täglich, just um die Mittagszeit, schwang der Portier seine Glocke zu dem Zug, der in die westliche Richtung abging, nach Krakau, Oderberg, Wien. (Rm, 180)

Wien etabliert einen Raum, der über seine konkreten Eigenschaften hinaus symbolhafte Bedeutungen erhält: das Zentrum der Monarchie ist schön, breit, lebhaft, festlich und freundlich:

Das breite, sommerliche Gold des Nachmittags floß über Häuser und Bäume, Straßenbahnen, Passanten, Polizisten, grüne Bänke, Monumente und Gärten. […] Junge Frauen glitten wie helle, zärtliche Lichter vorbei. Soldaten salutierten. Scheufenster schimmerten. Der Sommer wehte milde durch die große Stadt. (Rm, 57)

Die Ausstrahlung des zentralen Raumes wird an den Rändern der Monarchie immer schwächer, sie erreicht jedoch die Orte, die gewissermaßen als Spiegelbilder des großen als kleine Zentren funktionieren, wie die slawische Stadt, in der Carl Joseph seine erste Dienstzeit verbringt, wo „[e]s schien, als wäre die Kaserne, als ein Zeichen der habsburgischen Macht von der kaiser- und königlichen Armee in die slawische Provinz hineingestellt worden” (Rm, 83). Sie ist auch die Bezirkshauptstadt W. in Mähren, wo der Vater von Carl Joseph auf seinen Posten die monarchischen Werte aufzubewahren versucht und dadurch zum Repräsentanten – symbolisch sogar zum Spiegelbild – des Kaisers wird:

Er selbst, der Bezirkshauptmann, hatte niemals den Wunsch gespürt, die Heimat seiner Väter zu sehn. Er war ein Österreicher, Diener und Beamter der Habsburger, und seine Heimat war die kaiserliche Burg zu Wien. […] so wäre es ihm genehm gewesen, in allen Kronländern lediglich große und bunte Vorhöfe der Kaiserlichen Hofburg zu sehn und in allen Völkern der Monarchie Diener der Habsburger. […] Er wünschte sich nicht, den Pflug über die gesegnete slowenische Erde zu führen. In dem entscheidenden Brief an seinen Sohn stand der Satz: »Das Schicksal hat aus unserm Geschlecht von Grenzbauern Österreicher gemacht. Wir wollen es bleiben.« (Rm, 174)

Durch die identifikatorischen Übertragungen zwischen Wien und der Bezirkshauptstadt, sowie dem Kaiser Franz Joseph und dem Bezirkshauptmann, die beide als Bewahrer einer väterlichen Macht funktionieren, wird eine Zentrierung auf den kaiserlichen Raum etabliert, der zumindest virtuell (z.B. durch das Bild des Kaisers und die überall erklingende Melodie) allgegenwärtig und als Vergleichsgröße angenommen wird, werden die Gegensätze zwischen Zentrum und Peripherie, heldenhaftem Großvater und dekadentem Enkel zwar in verschiedenen Formen artikuliert, sie zersprengen jedoch die erzählte Welt erst in dem Moment, der als ein radikaler Bruch mit der damaligen ambivalenten Balancieren interpretierbar ist: in dem des Attentat von Sarajevo, dessen Nachricht gleich eine symbolhafte Aufkündigung der monarchischen Einheit im die Unterschieden einebnenden Deutsch hervorruft:

Der betrunkene Graf Batthyanyi begann hierauf, sich mit seinen Landsleuten auf ungarisch zu unterhalten. Man verstand kein Wort. Die andern blieben still, sahen die Sprechenden der Reihe nach an und warteten, immerhin ein wenig bestürzt. Aber die Ungarn schienen munter fortfahren zu wollen, […]. Man bemerkte, […] an ihren Mienen, daß sie allmählich anfingen, die Anwesenheit der andern zu vergessen. […] Man fühlte sich beleidigt, […] Jelacich, ein Slowene, geriet in Zorn. Er haßte die Ungarn ebenso, wie er die Serben verachtete. Er liebte die Monarchie. Er war ein Patriot. […] Unmittelbar unter der ungarischen Herrschaft lebte ein Teil seiner Stammesgenossen, Slowenen und ihre Vettern, die Kroaten. Ganz Ungarn trennte den Rittmeister Jelacich von Österreich und von Wien und vom Kaiser Franz Joseph. (Rm, 412)

Das Zentrum Wien verliert damit seine Ausstrahlung, die Peripherien lösen sich symbolisch ab und verdrängen die nivellierende kaiserliche Macht: Der Roman evoziert damit die historische Entwicklung in einer Familiengeschichte, die selbst von einer Nostalgie für die Vergangenheit geprägt ist, und schafft damit eine (durch die Erzählerkommentare ironisch gefärbte) sehnsuchtsvolle und mythisierende Abrechnung mit dem Zerfall der Monarchie.

In Sándor Márais mit dem Untertitel Erinnerungen bezeichneten romanhaften Werk Bekenntnisse eines Bürgers, das 1934 in zeitlicher Nähe zu Roth Roman erschienen ist (der zweite Band folgte dann 1935, vgl. Fried 2007: 134), wird in der erzählten Welt das Heranwachsen eines jungen Menschen in der Monarchie in der Gattung entsprechenden Ich-Form erzählt. Der erste Teil umfaßt die Schilderung seiner Herkunft, seiner Kindheit und seiner Jugend, die eine Bildung zum „Bürger” bedeuteten, der zweite Teil beschreibt dagegen seine Identitätssuche nach dem Ersten Weltkrieg, nach dem Zerfall der Monarchie in verschiedenen Ländern Westeuropas, sowie seine resignierte Rückkehr zu einer etwas skeptischen Haltung als Bewahrer bürgerlicher Werte im Budapest der Zwischenkriegszeit.

Die Gegenüberstellung von Zentrum und Peripherie ist bei Márai ebenfalls da: der erste Teil etabliert als dominierenden Raum die in der Provinz, im Oberland situierte Heimatstadt Kaschau, die durch historische Traditionen und ihrer Kontinuität bestimmt ist:

Die Stadt nahm nur wenig Platz ein mit ihren engen Gassen und kleinen Märkten, die ihr in der einstigen Burg so kärglich zubemessen worden waren; über den gotischen Dächern, so genau in der Mitte der gedrängten Häusermasse, als wäre sein Platz mit dem Zirkel bestimmt worden, ragte der unvollendete, ungeschickt unter Dach und Fach gebrachte Halbturm des Doms empor. Die sechshundertjährige Kirche erhob sich hoch über die Stadt, Zentrum allen Lebens und Denkens, das sie durch Jahrhunderte umströmte: als hielte sie durch Zeiten und Zeitalter das Gleichgewicht der Stadt, Form gewordene Idee, die weithin sichtbar aus dem schmatzenden, sterblichen Alltagswirrwarr, aus dem Radau der Stadt herausragt. (BB, 64)

Die genaue Topographie der Stadt und darin des Hauses etablierend werden auch verschiedene soziale und kulturelle Identitäten postuliert: Die familiäre Identität wird einerseits durch einen Übergang vom ursprünglichen Deutschen zum (zentral-überwiegenden) Ungarischen gekennzeichnet, andererseits durch ein bürgerliches Selbstbewußtsein, das durch traditionelle Werte, Verhaltensmuster, sowie – trotz aller Verschiedenheit der Familienmitglieder – durch eine besondere Gleichmäßigkeit, aber auch von Krisenerscheinungen bestimmt wird:

Sie war eine komplizierte Familie, voller Zorn und Selbstaufopferung, […] sie waren Bürger, und als ich unter ihnen zu leben begann, kamen sie schon in eine gefährliche, krisenhafte Lebensphase des bürgerlichen Daseins. (Pv, 115)(19)

Neben der oberländischen Stadt erscheint das in der Kindheit besuchte (Vorkriegs-) Wien als Zentrum der monarchisch-ideologischen Ausstrahlung, das durch sein vielfältiges kulturelles Leben charakterisiert wird, das hohe und Populärkultur vereinigt:

Als Ganzes war diese Familie samt der Staffelei, dem verstimmten Klavier, […] der jugendfrischen und eleganten Armut, der schwebenden Lebensart so ziemlich das Beste, was Wien zu bieten hatte. Der alte Franz und die sechs Mädchen waren wenigstens ebenso und in dem Maße Wien wie der Stephansdom oder der Stock im Eisen. (BB, 95)

Wien als Raum der erzählten Geschichte lebt als später nur als Erinnerungsbild heraufbeschwörbarer Ort weiter und wirft seinen einflußreichen Schatten auf die anderen Orte im ersten Teil (wie bei Roth auf die Bezirkshauptstadt W. in Mähren).

In Márais Werk ist zugleich auch eine Umordnung des Zentrums zu beobachten. In der Textwelt der Bekenntnisse bildet der Ausbruch des Ersten Weltkriegs ein Grenzerlebnis, indem hier – ebenso wie in Roths Roman – ein unerwarteter Übergang aus einem Zustand sommerlicher Entspannung in eine gestörte Ruhe erzählt wird. Die Ruhe wird hier ebenfalls durch ein fernes Geschehen gestört, wodurch die Gegensätze zwischen Privatleben und großer Politik, von Peripherie und Zentrum, Land und Stadt als symbolhafte Räume der erzählten Welt postuliert werden, wobei die Naturmetaphorik auf den die alte Ordnung vernichtenden Sturm des Krieges übertragen werden kann(20):

Zur Jause wurde in unserem Laubengang gedeckt, ein wenig feierlicher als sonst. […] Dieser Verlobungsnachmittag sollte zu einem opulenten, feierlichen, vom reifen Frieden des Sommers untermalten, vollkommenen bürgerlichen Fest werden…
Wir saßen schon am Tische, als der Vizegespan in den Garten gerufen wurde. Ein Husar vom Komitat überreichte ihm in strammer Haltung einen Brief.
Er riß den Brief auf, kam zum Laubengang zurück, blieb auf der Schwelle stehen, schwieg. Er war kreidebleich […]
»Man hat den Thronfolger getötet«, sagte er mit einer gereizten Handbewegung.
[…] Die Zwiebelmustertassen in der Hand, saßen wir regungslos um den Tisch, irgendwie erstarrt an einem toten Punkt, wie in einer Pantomime. Ich folgte Vaters Blick, er richtete ihn ratlos zum Himmel.
 Der Himmel war hellblau, von einem dünnen Sommerblau. Nicht die kleinste Wolke zeigte sich. (BB, 198f.)

Der Moment des Übergangs ist ein „toter Punkt”, der die Grenze zwischen den Zuständen der Ruhe und des Aufruhrs und Zerfalls besonders bedeutend macht und die symbolträchtige Grenzerfahrung durch die semantische Raumgestaltung als Darstellung vom Ende einer Epoche interpretieren läßt.

Nach dem „Grenzereignis” des Ersten Weltkriegs verschiebt sich das Zentrum nach westeuropäischen Metropolen wie Berlin, Frankfurt, Paris und London, in denen sich der Ich-Erzähler seinen verlorenen bürgerlichen Wurzeln nachzugehen versucht. Diese Räume dienen als Orte des weiteren Bildungsprozesses und können nach ihrem Grad an Vertrautheit und Fremdheit skaliert werden: Im Gegensatz zur vertrauten deutschen Welt, deren Mentalität der eigenen am nächsten steht, denn „bei aller Fremdheit ähnelte sie der heimischen” (BB, 208), da sie „samt und sonders ein wenig unser Zuhause gewesen war” (BB, 211), erweisen sich Frankreich und Paris, „die Schwelle zum »wahren« Europa” (BB, 315) als völlig fremd, und sie lassen sich nur durch einen mühsamen Anpassungs- und Lernprozeß annähern. Ein weiteres Zentrum bedeutet „die geheimnisvolle englische Welt” (BB, 380), das zugleich einen weiteren Abschnitt des Lernprozesses darstellt: „Mir ging es in London wie einem, der eine höhere Klasse der europäischen Schule und dort wieder einen Sonderkursus besucht” (BB, 387).

Wenngleich Márais Werk die identifikatorischen Möglichkeiten des Ich-Erzählers durch die Erweiterung des Raumes im Europa der Zwischenkriegszeit und somit durch die Erweiterung der Selbsterfahrung des erlebenden Ichs ausweitet, kann dies auf die Dauer nicht wahrgenommen werden:

Ich hatte zehn Jahre in Europa verbracht wie ein fortgeschrittener, fleißiger Schüler, und auf einmal kam meine Situation grotesk und verlogen vor. Irgendwie war mein Leben nicht real, allem fehlte die unmittelbare, ertastbare Wirklichkeit, der Inhalt, ohne den das Leben in der Fremde mit der Zeit zu einer Aufgabe, einer Rolle wird. (BB, 393)

Das Ich vollzieht deshalb den umgekehrten Weg aus dem Fremden ins Eigene:

Ich war rundweg ein Provinzler geblieben in Europa […]. Ich mußte nach Hause – und nun lebe ich wieder zu Hause, nicht gut und nicht schlecht, nicht genießerisch und glücklich, eher unruhig, streitsüchtig, voller Nostalgie und Fluchtversuchen. […] Ich mußte mich der anderen Wirklichkeit, der kleineren Welt nähern, meine Rolle war zu Ende deklamiert, und es begann das Stammeln des Alltags […] Diesen Dialog konnte ich mir nur zu Hause vorstellen, auf ungarisch. (BB, 394)

Nach der Rückkehr des Ich-Erzählers nach Budapest wird diese Stadt zum Zentrum, in dem der Ich-Erzähler als Aufbewahrer der in den anderen („richtigeren”) Zentren kennengelernten wahren bürgerlichen Haltung weiterlebt, zum Schriftsteller wird und sich somit durch die Kunst vor einem Identitätsverlust rettet. Roth und Márai weisen Ähnlichkeiten in Bezug auf die Zentrum-Peripherie-Thematik und die Darstellung des Grenzerlebnisses der Auflösung auf. Allerdings geht Márais Werk in eine andere Richtung, indem es durch die Erweiterung der Sicht (das Leben in Westeuropa) eine Möglichkeit für die Rückkehr in einen postmonarchischen Raum und eine künstlerische Aufarbeitung des Traumas ermöglicht. Beide Werke blicken auf die Welt der Monarchie aus einer späteren Zeitperspektive zurück und setzen sie damit als eine vergangene Welt, deren Fortbestehen eben durch den im Erzählen konstruierten Gestus der Erinnerung gesichert wird.

 

3. Seelenräume – Erinnerungsräume

Die hier untersuchten Werke können als Beispiele für einen Umgang mit dem erzählten Raum und eine symbolhafte Topographie funktionieren, die unterschiedliche Typen dieses Umgangs zustandebringen. Der erste Typ etabliert „Landschaften der Seele”, solche Räume, die – trotz ihrer eventuellen konkret-geographischen Ausgestaltung wie Wien oder Venedig bei Hofmannsthal, Wien und die anderen Orte bei Andrian, der Ort auf dem Lande, die Großstadt und Venedig bei Babits – zu symbolhaften Orten einer Topographie werden, deren Elemente als Projektionsflächen für die psychologischen Regungen, die Identitätsprobleme, Spaltungen und Krisen der Figuren der erzählten Welten funktionieren.

Der zweite Typ erzählter Räume schafft „Landschaften der Erinnerung”, in die historische, soziale, ideologische, kulturelle Momente stärker hereingespielt werden, sie können deshalb auch als literarische Reaktionen aus nostalgischer, kritischer, ironischer Sicht auf den historischen und kulturellen Einschnitt des Weltkriegs und der Auflösung der Monarchie interpretiert werden. Die Topographien der hier analysierten Werke von Roth und Márai zeigen zugleich Varianten der Auseinandersetzung mit dem Mythos der Monarchie und ihrer untergegangenen Kultur auf, indem die Mythisierung die Brüche und Widersprüche des kulturellen Gedächtnisses, die Heterogenität und Vielfalt literarischer Erinnerungen repräsentiert.

 

Literatur

Siglen:


Fussnoten:

1 Der Beitrag entstand durch die Unterstützung des Ungarischen Nationalen Forschungsfonds im Rahmen des OTKA-Forschungsprojekts K 76871.
2 Zu den „neuen” oder „postklassischen” Narratologien vgl. u.a. Nünning/Nünning 2002, Nünning 2003, Orosz 2004.
3 Lotman steht mit seiner Auffassung über den grundlegenden räumlichen Charakter des künstlerischen Textes keineswegs allein (für eine kurze Übersicht über das Problem des Raumes in der Literaturtheorie vgl. Gradmann 1990: 1-20).
4 Zur kritischen Darstellung und Bewertung des Lotmanschen Modells vgl. auch Martinez/Scheffel 1999: 140ff.
5 Die Kulturwissenschaft lehnt sich jedoch kaum an Lotmans theoretischen und kulturwissenschaftlichen Vorstellungen an, eine intensive Rezeption und Anwendung seines Werks findet in literatursemiotischen Arbeiten von Michael Titzmann, Karl E. Renner, Jan-Oliver Decker, Hans Krah u.a. statt.
6 Die unterschiedlichen Bezeichnungen der Region wie Zentral-, Mittel-, Ostmitteleuropa u.a. sowie die dahinterliegenden ideologischen Vorstellungen werden hier nicht weiter diskutiert. Bei Csáky und seinen Nachfolgern funktioniert ‚Zentraleuropa’ „nicht als geografisch-politische Größe, […] sondern als ein komplexer Kommunikationsraum, der sich als ein übergreifendes Kultursystem definiert” (Feichtinger 2005: 129).
7 Theodorsen postuliert außerdem ebenfalls eine Prätextrelation zwischen Hofmannsthals Age of Innocence und Andrians Erzählung Der Garten der Erkenntnis (Theodorsen 2006: 218).
8 Es wird dabei weder ein richtiges Abenteuer noch eine richtige Bildung aufgezeigt. Es erfolgt damit nicht nur eine Wiederaufnahme traditioneller Erzählmuster, sondern auch ihre gleichzeitige Aushöhlung, ihre Entleerung, die die thematisch artikulierte Problematik des Textes strukturell auch begründet und vertieft.
9 Auf Grund intertextuell identifizierbarer Elemente kann diese Welt als solche bezeichnet werden; Rieckmann zufolge ist der Fremde eindeutig als eine Dionysos-Figur identifizierbar (Rieckmann 1983: 74ff.).
10 Renner versucht die im Garten der Erkenntnis artikulierte Problematik mit einem „psychosoziologischer Interpretationsansatz” anzunähern, wobei sie die Probleme der Textwelt als Niederschlag der Probleme des Autors deutet und konstatiert.
11 Das ist auch der wichtigste und wesentlichste Unterschied dieses Textes zu Beer-Hofmanns Erzählung Der Tod Georgs, die auch als ein Schlüsseltext der Jahrhundertwende angesehen werden kann, die eine positive Lösung suggeriert, die der Textwelt eher als ein ideologisch-gedankliches Konstrukt von außen auferlegt wird, auf Grund der Zusammenhänge der Textwelt – zumindest für den Leser – trotzdem als unvorbereitet und illusorisch bezeichnet werden dürfte.
12 Der längere zusammenhängende Text, der „zweite Entwurf” des Andreas läßt sich auf einige Wochen der Jahre 1912 und 1913 datieren (vgl. Pape 1974: 363f., Alewyn 1967: 133f.), der nie vollständig beendete Text und die nachgelassenen Notizen sind in der Kritischen Ausgabe erst seit 1982 vollständig zugänglich. Der Roman von Babits ist zwar 1916 in Buchform erschienen, er ist aber schon 1913 in der Zeitschrift Nyugat veröffentlicht worden (vgl. Rába 1983: 94)
13 Ähnliches gilt auch für einige andere Figuren (z.B. Maria - Mariquita, der Malteser).
14 Hier wird auch auf mögliche Quellen der Allomatik (Rosenkreuzer-Schriften) hingewiesen.
15 Auf Grund bestimmter Eigenschaften phantastischer Texte, z.B. der nicht aufgelösten/auflösbaren Ambiguität kann Der Storchkalif auch als phantastischer Roman betrachtet werden (Rába 1983: 94) Außerdem ist das Werk zugleich ein psychologischer Roman, der ein tiefgehendes psychologisches Problem in phantastischer Form behandelt.
16 Das erinnert in gewisser Hinsicht an die Episode auf dem Finazzerhof in Andreas.
17 Vgl. dazu die Studien des Grazer SFB-Moderne sowie u.a. Müller-Funk/Plener/Ruthner 2002; Feichtinger/Prutsch/Csáky 2003; Kerekes/Millner/Plener/Rásky 2004.
18 Roths Roman läßt sich dadurch auch als historischer Roman lesen, vgl. dazu Foster 2001. Man könnte Roths Werk einen „historischen Familienroman” nennen, der die „große” Geschichte durch die Privatgeschichte erzählt.
19 In der deutschen Übersetzung fehlt diese Passage, die Übersetzung stammt von mir, M.O.
20 Die auffallenden Ähnlichkeiten in der Naturmetaphorik (Sturm, mit Blitz, Donner, Regen und die zerstörende Wirkung) und der symbolhaften Raumgestaltung (Orte außerhalb der Stadt und des urbanen Milieus, Zivilbeschäftigung als Auszeit von Bürokratie, Schulalltag oder Militärdienst) lassen die beiden Szenen der Werke von Roth und Márai intertextuell auch miteinander verbinden.