Doris McGonagill – Widerfahrnis und Widerstand

Nr. 18    Juni 2011 TRANS: Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften


Sektion | Section: Stadt als Antwort. Wirklichkeitskonzeptionen literarischer Stadterfahrung

Widerfahrnis und Widerstand: Großstadterfahrung im erzählerischen Werk W.G. Sebald

Doris McGonagill (Utah State University, USA)

Email: doris.mcgonagill@usu.edu


 Konferenzdokumentation |  Conference publication


 

“Gleich bei der Ankunft, als der Zug […] langsam in die dunkle Bahnhofshalle hineinrollte, war ich ergriffen worden von einem Gefühl des Unwohlseins…”(1) Dieser Satz aus dem Spätwerk Austerlitz könnte als programmatisch für nahezu alle literarischen Gestaltungen von Großstadterfahrungen im Werk W.G. Sebalds gelten. Sei es Antwerpen, Brüssel, Manchester, London, Paris, Wien oder Prag, um nur einige Beispiele zu nennen, die porträtierten Metropolen lösen bei Sebalds Ich-Erzählern (und bisweilen auch bei den von ihnen porträtierten Figuren) ähnlich ambivalente Reaktionen aus: Unwohlsein, Verwirrung, Verwechslung und ein unbestimmtes Gefühl der Bedrohung. Gleichzeitig sind Großstadterfahrungen aufs Engste verbunden mit dem Diskurs über Gedächtnis und Erinnerung, der allen Werken Sebalds einbeschrieben ist. Als eine Art Katalysator löst die Stadterfahrung Erinnerung aus, die zumeist als bedrohlich, mitunter aber auch als (zu bestimmten Einsichten) befreiend empfunden wird.

Wiederholt wird unter Benutzung phototechnischer Begriffe und Analogien die Großstadterfahrung als Prozess der ‘Überblendung’ charakterisiert, für den ein spezifischer Erfahrungsmodus charakteristisch ist. Besonders deutlich wird auch das in Austerlitz:

“Aufgrund von dergleichen, in Antwerpen sozusagen von selbst sich einstellenden Ideen ist es wohl gewesen, daß mir der heute meines Wissens als Personalkantine dienende Wartesaal wie ein zweites Nocturama vorgekommen ist, eine Überblendung, die natürlich auch daher rühren mochte, daß die Sonne sich hinter die Dächer der Stadt senkte, gerade als ich den Wartesaal betrat.”(2)

Während Sebalds Erzähler sich allesamt in der Großstadt zwar dem leibhaften Erlebnis existentieller Einsamkeit ausgesetzt sehen, zeichnet sich aber auch gerade dort, in der Umgebung fremder Urbanität, die Möglichkeit einer andersartigen Wirklichkeitserfahrung ab. Deren vornehmstes Kennzeichen ist die Aufhebung strikter Unterscheidungen zwischen Vergangenheit und Gegenwart, Realität und Fiktion, eigener und fremder Identität. In einer Befindlichkeit, die sowohl Aspekte des Benjaminischen “Schocks” als auch der Simmelschen “Reizüberflutung” aufweist(3) und mit Bernhard Waldenfels’ Begriff des “Widerfahrnis” besonders angemessen beschrieben werden kann, produzieren die in die Großstadt katapultierten Ich-Erzähler hypertrophierende Verbindungen zwischen den entlegensten Bereichen des Wissens und der Erinnerung. Diese transzendieren den normalen Wahrnehmungsmodus und können zu überraschenden Einsichten, aber auch zur schwindelerregenden mise en abyme führen.

Das Brisante dieser grenzgängerischen Großstadterfahrung liegt meines Erachtens eben darin, dass das Erleiden der (mitunter im Rekurs auf die tradierte Melancholietypologie geschilderten) Einsamkeit und das Aufscheinen von Verbindungen, die raum-zeitliche Grenzen sprengen, einander gegenseitig zu bedingen scheinen. Die Einsamkeit wird zum Ermöglichungsgrund einer neu- und andersartigen Gemeinsamkeit. Wiederholte Ansätze zur einer Theoretisierung dieses Erlebnis- und Verstehensmodus geraten Sebalds Erzählern zu Diskursen mit ebenso tiefreichenden philosophischen Wurzeln wie weitreichenden epistemologischen Implikationen.

Die individuelle Erfahrung wird gleichzeitig komplementiert durch eine allgemeinere, denn die Stadt fungiert auch als Kontaktadresse für diverse kollektive Erinnerungsorte, zuvörderst Museen, Bibliotheken und Archive. Das Konzept der “Erinnerungsorte” geht auf den französischen Historiker Pierre Nora zurück.(4) Nora zufolge kann Geschichte im späten 20. Jahrhundert nur als “raumgewordene Vergangenheit”(5), als Erinnerungs- oder Gedächtnisstätte gedacht werden.(6) Die Orte, im geographischen wie im übertragenen Sinne, an denen sich der kollektive Erinnerungsdiskurs in besonderer Weise kristallisiert, bezeichnet Nora mit dem Terminus lieux de mémoire.(7) Im Zuge der “topographischen Wende” der Kulturwissenschaften sind Ort und Raum als reale und virtuelle, als physische, territoriale und als symbolische Kategorien beleuchtet worden.(8) Ihre Schichtungen und Verschachtelungen sind ebenso ins Blickfeld geraten wie die Frage, auf welche Weise individuelle und kollektive Erfahrung in öffentlichen Räumen koinzidieren, wie diese Räume von Macht- und Herrschaftskonstellationen durchzogen sind und wie sie rhetorisch gebunden sind.

 

I. Stadtraum als historischer Resonanzraum

Die Stadt, der architektonische Ort par excellence, ist als “Erinnerungsträger”(9) einer durch Unrecht und Gewalt geprägten Vergangenheit im Zuge der zeitgenössischen Diskurse über Gedächtnismetaphorik und Erinnerungskultur zunehmend ins Blickfeld geraten. Einschlägige Beiträge zum kulturwissenschaftlichen Gedächtnisdiskurs sind auf die Prämisse gegründet, dass städtischen Topographien immer die Erfahrungen, kulturellen Praktiken, sozialen Verhaltensmuster und symbolischen Ordnungen der Vergangenheit als sichtbare Signaturen einbeschrieben sind.(10) In seiner Monographie Present Pasts. Urban Palimpsests and the Politics of Memory betrachtet Andreas Huyssen die Stadt als Bühne kultureller Inszenierungen, in denen die Schrecken der Vergangenheit als Erinnerungsspuren gleichsam in Form urbaner Palimpseste aufscheinen.(11) Die kulturwissenschaftlichen Arbeiten Sigrid Weigels, die verschiedentlich auf die soziologischen Paradigmen Georg Simmels zurückgreifen, gehen gleichfalls von der Annahme aus, dass Stadtbilder in der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur immer zugleich auch Geschichtsbilder sind und somit Verweischarakter besitzen.(12) Wie zahlreiche andere Arbeiten zur literarischen Erinnerungskultur(13) blicken auch Huyssen und Weigel zurück auf Walter Benjamin, der den Begriff der “raumgewordenen Vergangenheit” im Passagen-Werk geprägt und die Stadt als prominente Erinnerungsszene bestimmt hat.(14) Wie ich im Folgenden zeigen werde, zitieren Sebalds Texte verschiedene Aspekte sowohl von Benjamins urbaner Phänomenologie als auch von Benjamins Geschichtsverständnis und Gedächtnismodell (vor allem dessen archäologisches Verfahren).(15)

Kollektive Erinnerungsorte, insbesondere Archive, werden in Sebalds Texten – in Entlehnung von Argumentationsfiguren Michel Foucaults und Jacques Derridas(16) – hinsichtlich der ihnen eingeschriebenen Ordnungsstrukturen und Hierarchisierungsmechanismen kritisch hinterfragt. Die Umrisslinien einer subtilen Sebaldischen Kritik werden sichtbar, in welcher die oben beschriebenen individuell-assoziativen Verknüpfungsmuster als alternatives Strukturmodell angeboten werden. Denn selbst die Anlage einzelner Gebäude (etwa des Justizpalastes in Brüssel, des Zentralbahnhofs in Antwerpen, der Pariser Nationalbibliothek oder der Gare d’Austerlitz(17)) wie auch die Anlage bzw. die Vernichtung oder der Verfall ganzer Straßenzüge und Stadtviertel (etwa des vormaligen Judenviertels in Manchester(18)) kann zum Sinnbild kollektiver (Leid-)Erfahrung geraten, sind diese Orte doch vielmals Begegnungsstätten mit einer – in der Stadtarchitektonik gleichsam zu Stein gewordenen – unheilvollen frühkapitalistischen, imperialistischen, kolonialgeschichtlichen oder nationalsozialistischen Vergangenheit.(19)

Die folgenden Ausführungen versuchen Sebalds Darstellung urbaner Räume im Kontext literarisch gestalteter Großstadterfahrungen der Moderne zu verorten. Dabei werde ich auf die Stadt als Erinnerungs- und Wahrnehmungsraum, als Körper, Palimpsest, Labyrinth, Unterwelt, historisches Lesebuch und Netzwerk zu sprechen kommen. Gelegentlich werden meine Ausführungen auf Raumkonzepte, Erinnerungsdiskurse und Gedächtnistheorien verweisen, mittels derer man die Topographie der Großstadt im Werk Sebalds theoretisch perspektivieren und auf ihren systematischen Stellenwert hin befragen kann. Das konzeptionelle und begriffliche Werkzeug dazu stellen, wie bereits angedeutet, insbesondere Walter Benjamin und Michel Foucault zur Verfügung. Aber auch auf die innovativen Raumtheorien Marc Augés und Edward W. Sojas, die Sebalds tatsächlichen, imaginativen und textuellen Großstadtwanderungen besonders nahe zu stehen scheinen, werde ich in knapper Form zu sprechen kommen. Alle diese Ansätze können meines Erachtens dazu beitragen, unser Verständnis bestimmter Aspekte der Stadterfahrung bei Sebald zu vertiefen und zu präzisieren. Abschließend werde ich den Begriff des “Widerstands” aus dem Titel meines Aufsatzes aufnehmen und knapp skizzieren, wo ich – in Anlehnung an die Ausführungen J.J. Longs(20) – in Sebalds Großstadtdarstellungen Momente des Widerstands, der Verweigerung und der Subversion sehe.

 

II. Literarische Stadterfahrung als Signum der Moderne

Spätestens Baudelaire und Rilke haben den Erfahrungsraum der Großstadt als konstitutiv für literarische Formulierungen der europäischen Moderne etabliert. Charakteristisch für die künstlerisch gestaltete Großstadterfahrung sind bestimmte “urbane” Wahrnehmungsmodi, die mit den Konstituenten der Flüchtigkeit, der nervösen Dynamik, des unablässigen Tempos, der Vermassung und des Ich-Verlusts assoziiert sind. Das dynamisierte Sehen der Großstadt geht Hand in Hand mit der Zurückweisung traditioneller mimetischer Darstellungsformen zugunsten ästhetischer Innovationen, die das Signum der Moderne tragen(21): Fragmentierung, Simultaneität, Polyperspektivität, Diskontinuität, die Überlagerung von Aspekten der Wahrnehmung, der Erinnerung und der Vorstellung sowie die Ausprägung (insbesondere im Bereich der Stadtprosa(22)) genreüberschreitender Hybridformen.(23)

Die Ausprägung dieser formalen Kriterien, die sich alsbald zu einer Poetik der Moderne verdichten, ist großenteils zu verstehen als Reflex auf die Totalität der modernen Großstadt, die sich einer Erfassung im inventarisierenden Gestus enzyklopädischer oder systematischer Darstellung verweigert, und deren semantische Fixierung in etablierten diskursiven Ordnungen oder tradierten Modellen linearer Narrativität prekär geworden ist. Inwieweit Sebalds Inszenierungen der Großstadt charakteristische Merkmale und Darstellungstraditionen der literarische Moderne adaptieren und modifizieren, führe ich unten aus.

In philosophischer, psychologischer bzw. soziologischer Perspektive kann die innovative Formensprache des europäischen Modernismus aufgefasst werden als Antwort auf Ansprüche, “denen sich der Erfahrende  ausgesetzt sieht, ohne dass vorgegebene Ordnungszusammenhänge diese abzudecken vermögen […].”(24) Insofern als der urbane Raum das erlebende Subjekt mit Ansprüchen konfrontiert, die es unvorbereitet treffen, betreffen, und zu überwältigen drohen, ist der eingangs verwendete Begriff des “Widerfahrnis” hilfreich, dem in Wilhelm Kamlahs Philosophischer Anthropologie eine zentrale Stellung zukommt(25) und den Bernhard Waldenfels als ein Grundphänomen der Erfahrung bezeichnet.(26)

Solche Widerfahrnisse, i. e. das unvermutet Zustoßende, das Fremde, Unbekannte, und Unerwartete, das in der Großstadt das Subjekt seiner Verstehens- und Handlungskompetenz beraubt, begegnen in Sebalds Texten vielerorten. Manchmal handelt es sich um unwahrscheinliche, glückhafte Zufälle oder Fügungen, Momente des Kairos. So etwa, wenn sich die Wege des Erzählers mehrfach zufällig und zum Teil nach mehrjähriger Unterbrechung mit denen des eponymen Protagonisten Jacques Austerlitz kreuzen.(27) Öfter – zumal in Schwindel.Gefühle.(28) – sind es an Freud gemahnende unheimliche und verunsichernde Koinzidenzen, die den Erzähler sogar zur Stadtflucht bewegen können. Einen Kulminationspunkt stellt beispielsweise die ungute Melange aus vager Bedrohung, unerklärlichem Wiederholungszwang und blankem Entsetzen dar, die Sebalds Narration um Identitätsverlust und die mysteriöse “Organizzazione Ludwig” in “All’Estero” dominieren. Zumeist sind Sebalds Figuren erleichtert, die fremde Stadt einigermaßen unbeschadet wieder zu verlassen. Ein symptomatischer Satz aus “Il ritorno in patria”, der in ähnlicher Form leitmotivisch auch in anderen Texten begegnet, lautet: “Erst als der Bus aus der Stadt hinausrollte, wurde mir allmählich ein wenig wohler.”(29)

In beiden Fällen, glückhaft oder bedrohlich, wird jedoch der Aufenthalt in der Großstadt zu einer Art Grenzgang, in dem übliche Wahrnehmungs- und Verstehensmuster überschritten werden. Manchmal werden diese Widerfahrnisse als unwillkürliche Assoziationen und (das Subjekt geradezu anfallende) Erinnerungen nach dem Vorbild von Marcel Prousts mémoire involontaire inszeniert. Typische Symptome des Widerfahrnis sind die rational nicht zu erklärende Ineinanderblendung von Vergangenheit und Gegenwart, Fiktion und Realität, Kunst und Leben. So glaubt der Sebaldische Erzähler in Schwindel.Gefühle. beim Verlassen der Stadt Heidelberg in einer lesenden Studentin “auf den ersten Blick und, wie ich mir sagte, ohne den allergeringsten Zweifel” Elisabeth von der Pfalz, die Tochter James I., zu erkennen.(30) In Nach der Natur erscheint dem Erzähler in einem mittelalterlichen Altarbild “jener ältere Mann, dem ich selber vor Jahren einmal an einem Januarmorgen auf dem Bamberger Bahnhof begegnet bin.” (31) Besonders in der Großstadt haben Sebalds Erzähler “Halluzinationen, denn etwas anderes war es ja nicht”, in denen sie Personen sehen, an die sie “jahrelang nicht mehr gedacht hatte[n]” oder “die sich mit Sicherheit nicht mehr am Leben befanden.” (SG, 41) “Einmal, in der Gonzagagasse, glaubte ich sogar, den bei Feuertod aus seiner Heimatstadt verbannten Dichter Dante zu erkennen.” (ibid.) Gemeinsam ist diesen Verwechslungen und Fehlleistungen(32), dass sie Verbindungen zur Vergangenheit und zu Verstorbenen herstellen oder persönliche Erlebnisse mit kollektiver (historisch und kunsthistorisch vermittelter) Erinnerung in Dialog setzen. Dabei geht Sebalds Inszenierung fast immer von einer konkreten, empirisch nachprüfbaren Ortsangabe (“in der Gonzagagasse”) aus.

Die Erfahrung der fremden Stadt ist in Sebalds Werk durchweg verbunden mit den Symptomen der “Übermüdung” und der “Sprachlosigkeit” (SG, 41). In der Einsamkeit und Anonymität der Großstadt, in der Mitmenschen lediglich als “Passanten” (ibid.) wahrgenommen werden, kommt den Sebaldischen Figuren das “Gefühl der Normalität” (SG, 40) abhanden.(33) Sie beklagen “eine besondere Leere” (SG, 41) und “undeutliche Besorgnis, die sich als Gefühl der Übelkeit und des Schwindels” (SG, 42) äußern kann. Schließlich werden, wenn in “All’Estero” der Erzähler seinen Wien-Aufenthalt in Bildern der Zersetzung und des Verfalls artikuliert, in stilisierender Überhöhung literarische Präfigurationen aus Hofmannsthals Chandos-Brief zitiert: “Die Konturen von Bildern, die ich festzuhalten suchte, lösten sich auf und die Gedanken zerfielen mir, noch ehe ich sie richtig gefaßt hatte.” (SG, 42).

Wie sehr das Großstadterlebnis zunächst ex negativo bestimmt ist, dokumentiert in dieser spezifischen Textpassage auch die Häufung von verneinenden Nomina wie “das Unbegreifliche” “die Unfähigkeit” und “Unmöglichkeit” (alle SG, 40). Bei allen Symptomen der Krise, deren Diagnosen durch den Erzähler selbst von dem Verdacht auf eine Lähmung bis zur Befürchtung einer “Krankheit des Kopfes” (SG, 42) reichen, ist das Großstadterlebnis in Sebalds Texten dennoch gekennzeichnet durch eine Art doppelter Perspektive. Als liminaler Raum, als Zwischen-, Schwellen-, Grenz-, oder Übergangsbereich, öffnet der städtische Raum (wie die oben zitierten Passagen angedeutet haben) in privilegierter Weise Möglichkeiten zur Begegnung mit der Vergangenheit und dem Unbewussten. Wiederholt werden Stadtbesuche auch ausdrücklich als Katabasis, als Eingang oder Eintritt in eine Art Unterwelt beschrieben, in ein Reich, in dem man den Toten begegnet.(34) Die Fremdheitserfahrung des Individuums in der Großstadt ist also verbunden mit einer Art Entgrenzungszustand, dessen destruktives wie produktives Potential aus der Erschütterung geläufiger Wahrnehmungsmodi erwächst.

Dabei scheinen die Erfahrungen der Entfremdung, des Ausgesetztseins und der Ich-Dissoziation, deren Aufarbeitung im rationalen Diskurs bzw. mittels tradierter Funktionen der Ordnungsbildung unmöglich scheint, in proportionalem Verhältnis zur Möglichkeit einer intuitiven Einsicht in übergreifende historische Zusammenhänge zu stehen. Die Reise in fremde Städte etabliert den Kontakt mit einer kollektiven Geschichte der Gewalt. Gleichzeitig repräsentiert diese Begegnung mit dem Anderen auch eine Begegnung mit einem Teil des fragmentierten Selbst. Besonders dramatische Beispiele finden sich in der Max-Aurach-Erzählung in den Ausgewanderten, im dritten Teil von Nach der Natur (in beiden Texten figuriert Manchester als prominenter Schauplatz), in Austerlitz (Antwerpen, London, Prag), und, wie bereits zitiert, in Schwindel.Gefühle. (Wien, Verona, Venedig).

Schließlich handelt es sich bei Sebalds Großstadtdarstellungen immer auch um Begegnungen mit dem Korpus literarisch gestalteter Großstadterfahrung der Moderne etwa bei Baudelaire, Hofmannsthal, Rilke, Benjamin, Kafka und anderen.(35) Dieses zeichnet sich durch bestimmte thematische Konstanten und ästhetische Darstellungskonventionen aus. Orientierungs- und Wahrnehmungsstörungen, Depersonalisierungserfahrungen und Fragen nach deren adäquater poetischer Repräsentation spielen in diesem Zusammenhang eine zentrale Rolle.(36) Um den Grad der Literarisierung von Sebalds Stadterfahrungen präziser bestimmen zu können, wende ich mich im Folgenden seiner Adaption der charakteristischen Formensprache literarischer Urbanität zu.

 

III. Sebalds narrative Strategien in der Tradition der Großstadtliteratur der Moderne

Es wurde bereits deutlich, dass man zahlreiche Charakteristiken der modernen Großstadtliteratur im Werk Sebalds wiederfindet. Seine dystopischen Darstellungen europäischer Metropolen referieren nicht vorrangig auf die urbane Wirklichkeit, die Stadt als Lebensraum, sondern vielmehr auf die Stadt als Reflexions- und Erinnerungsraum. Indem städtische Topographien vor allem in assoziativer Überformung mit subjektiven Bewusstseinsgehalten, imaginierten Szenarien und digressiven Erinnerungsdiskursen erscheinen(37), bezeugen sie zwar einerseits die moderne Erschütterung traditioneller Referenzansprüche – und reihen sich in die amimetische Tradition modernistischer Städtebilder ein, in denen die sinnliche Großstadtwahrnehmung “nur noch in den Brechungen einer subjektiven Instanz aufscheint.”(38) Andererseits wird die Großstadt jedoch zum Auslöser einer Erinnerungs- und Vorstellungsbewegung, die im charakteristischen Verweisungsgestus Sebaldischer Texte nicht nur auf einen individuell-relevanten Assoziationsgehalt hindeutet, sondern metonymisch eingebunden ist in einen kollektiven Erinnerungsdiskurs.

Ein gutes Beispiel dafür ist Austerlitz’ Beschreibung seines kurzen Aufenthaltes in Nürnberg (A, 317-320). Der Protagonist, der nie zuvor “deutschen Boden betreten” hat, fühlt sich “von einer unübersehbaren Menschenmenge, die, nicht anders als Wasser im Flussbett, über die gesamte Breite der Straße dahinströmte” (A, 317) sogleich in seiner individuellen Bewegungs- und Handlungsfähigkeit eingeschränkt. Das Gefühl steigert sich beim Gang durch die Nürnberger Fußgängerzone ins Beunruhigende und Bedrohliche (A, 318f.). Austerlitz hat “in zunehmendem Maß das Gefühl, ankämpfen zu müssen gegen eine immer stärker werdende Strömung…”, und, nachdem ihm “von Minute zu Minute banger geworden” war, ist er schließlich unfähig weiterzugehen und steht “mit benommenen Sinnen” (A, 319). Dass mit der Nennung Nürnbergs die Assoziation nationalsozialistischer Reichsparteitage aufgerufen wird, macht Sebalds Text explizit (A, 317). Der eigentliche Grund für Austerlitz’ Unwohlsein wird jedoch subtiler vermittelt, bezeichnenderweise in Form eines architektonischen Kommentars:

“…es beunruhigte mich, daß ich, wenn ich emporblickte an den Fassaden zu beiden Seiten der Straße […] weder an den Eckkanten , noch an den Giebeln, Fensterstöcken oder Gesimsen eine krumme Linie erkennen konnte oder sonst eine Spur der vergangenen Zeit.” (A, 318)

In charakteristischer Überlagerung von Wahrnehmung und Reflexion wird hier die Ursache für das Unbehagen des Protagonisten mit der Verdrängung beziehungsweise Verweigerung historischer Erinnerung bezeichnet.(39) Deutsche Täterschaft wird gleichsam fortgeschrieben in der Absage an eine Gedächtnisstätte: “Unerträglicher, schrecklicher wird dem Reisenden dieser Ort der Täterschaft, wenn sich die Täter dem Erinnerungsprozess verweigern.”(40) In einem Land, das geschichtliche Erinnerung verbannt zu haben scheint, ist Sebalds erzählerisches Projekt im Wesentlichen darüber definiert, städtischen Erfahrungsraum als historischen Resonanzraum zu identifizieren. Typischerweise werden dabei Momente des Erzählgeschehens isoliert, d. h. aus dem Geschichtsfluss herausgelöst, und in einen Erinnerungsdiskurs eingebunden, der immer wieder die Affinität zwischen Gegenwart und Vergangenheit herausstreicht.

Eine Verbindung von modernistischen Darstellungskonventionen der Großstadtliteratur und spezifischem Geschichtsbewusstsein spiegelt sich auch in anderen Facetten von Sebalds narrativer Strategie. So kann man beispielsweise den bewussten Verzicht auf narrative Linearität und Kausalität wie auch Sebalds kritische Diskussion eines privilegierten (erhöhten) Erzählerstandpunktes in diesem doppelten Zusammenhang verstehen. Linearität und Kausalität werden in Sebalds Texten durch lockere Assoziations- und Analogiebeziehungen ersetzt, die zum einen mythisch-archaische Denkweisen amalgamieren und sich Entlehnungen aus Benjamins Geschichtstheorie sowie Horkheimers und Adornos Aufklärungskritik verdanken. Zum anderen korrespondieren Sebalds Darstellungsmittel aber auch mit typisch modernistischen Repräsentationsmodi, die sich angesichts komplexer Großstadterfahrungen herausgebildet haben. Deren Inkommensurabilität, die sich dem beschreibenden, ordnenden und inventarisierenden Zugriff entzieht, wird gleichsam abgebildet in Sebalds digressivem Erzählduktus, seiner Mischung von Genres und Stimmen(41) sowie dem unablässigen und scheinbar ziellosen Wandern vieler Sebaldischer Figuren, das sie mit den Sammlern, Wanderern, Spaziergängern und Flaneuren verbindet, welche die europäische Großstadtliteratur bevölkern.

Sebalds Abneigung gegen den erhöhten Blickwinkel(42) kann ebenfalls zum einen als Facette eines spezifischen Geschichtsverständnisses gelesen werden. Nach Sebalds Ansicht ist ein solcher Blick zumeist mit einem illegitimen oder inadäquaten Totalitätsanspruch verbunden. Reflexion eines aufklärungs- und herrschaftskritischen Diskurses, der zahlreichen Texten Sebalds eingeschrieben ist, wird Sebalds Kritik hier von Konzepten der Frankfurter Schule und Foucaults gespeist. Durch das Prisma von Foucaults Surveiller et punir(43)  blickt Sebald etwa auf das Panoptikum der Gefängnisarchitektur Jeremy Benthams zurück, das Foucault zum Symbol für die Herrschafts- und Überwachungsstrukturen moderner Zivilgesellschaften geworden war. Sebalds poetische Institutionen- und Gewaltanalyse zitiert Foucaults diskurskritische, ebenso wie dessen Heterotopie-Konzept(44) – beispielsweise in der wiederholten Erwähnung des (im “vormalige[n] Judenviertel” (DA, 232) Manchesters gelegenen) “sternförmigen Gefängnis Strangeways, einem überwältigenden panoptischen Bau, dessen Mauern so hoch sind wie diejenigen von Jericho” (NN, 86).(45) Zum anderen spiegelt Sebalds Ablehnung des privilegierten Blickpunktes auch den Souveränitätsverlust des modernen großstädtischen Subjekts, das in der umgebenden komplexen Wirklichkeit nicht mehr ordnungsstiftend zu wirken vermag.

Dennoch finden sich in Sebalds Prosa zahlreiche Beispiele für den Blick von oben auf die Stadt. Zumeist erscheinen die Versuche sich von einem erhöhten Standpunkt aus einen Überblick zu verschaffen jedoch bereits durch das negativ markierte textuelle Umfeld unter einem ungünstigem Vorzeichen und letztendlich zum Scheitern verurteilt. So ist in Austerlitz die melancholische Stadtansicht, die ein Prager Aussichtsturm gewährt (A, 355), textlich gerahmt von der frustrierten archivarischen Suche nach Spuren von Austerlitz’ Mutter. Ähnlich nimmt sich das von Schuldgefühlen begleitete Eingeständnis des Protagonisten aus, er habe die Besteigung des auf dem Glacis gelegenen Vorwerks von Terezín “nicht über [s]ich gebracht” (A, 397) oder seine Furcht, im Prager Staatsarchiv “über das Geländer in die Tiefe zu blicken” (A, 211).

Hinsichtlich der Großstadtschilderung am markantesten ist jedoch die Passage, in der die Besteigung des Südostturms der Pariser Bibliothèque National beschrieben wird,

“wo man von dem sogenannten Belvedere aus die gesamte im Laufe der Jahrtausende aus dem jetzt völlig ausgehöhlten Untergrund herausgewachsene Stadtagglomeration überblickt, ein fahles Kalksteingebilde, eine Art von Exkreszenz, die mit ihren konzentrisch sich ausbreitenden Verkrustungen weit … hinausreicht bis an die im Dunst jenseits der Vorstädte verschwimmende äußerste Peripherie. […] Mehr in der Nähe sahen wir die verschlungenen Verkehrswege, auf denen Eisenbahnzüge und Automobile hin- und herkrochen wie schwarze Käfer und Raupen. Es sei seltsam, sagte Lemoine, er habe hier heroben immer den Eindruck, daß sich dort drunten lautlos und langsam das Leben zerreibe, daß der Körper der Stadt befallen sei von einer obskuren, unterirdisch fortwuchernden Krankheit …” (A, 401).(46)

Die Stadt erscheint in dieser mit kaustischer Ironie (“dem sogenannten Belvedere”) und vanitas-Bildlichkeit (“Käfer und Raupen”) durchsetzten Diagnose als heillos kranker Organismus.(47) Wir sehen auch hier jene Betonung der “beunruhigenden und bedrohlichen Seiten des städtischen Lebens”, die Benjamin bereits in der Großstadtliteratur des 19. Jahrhunderts konstatiert hatte.(48) Dieser Eindruck wird noch verstärkt, wenn im Folgenden das Unangenehme der oben zitierten Stadtschilderung mit einem Ausblick auf die von den Nationalsozialisten in der Stadt begangenen Gräueltaten ins Unheilvolle gesteigert wird. In allegorischer Überhöhung heißt es da: “Eine tintenfarbene Wetterwand neigte sich über die nun in den Schatten versinkende Stadt […]. Sowie man den Blick in die Tiefe senkte […] erfaßte einen der Sog des Abgrunds …” (A, 402). Der physische Blick nach unten wird zu einer Art archäologischem Röntgenblick. Ihm offenbaren sich die

“verschiedenen Schichten, die dort unten auf dem Grund der Stadt übereinandergewachsen sind. Auf dem Ödland zwischen dem Rangiergelände der Gare d’Austerlitz und dem Pont Tolbiac, auf dem heute diese Bibliothek sich erhebt, war beispielsweise bis zum Kriegsende ein großes Lager, in dem die Deutschen das gesamte von ihnen aus den Wohnungen der Pariser Juden geholte Beutegut zusammenbrachten.” (A, 402f.)(49)

Die palimsestische Struktur der Stadt lenkt den Blick in die Tiefe der Vergangenheit. Beim Lesen der urbanen Topographie wird die Stadt zum Geschichtsbuch. Sebalds Darstellung koinzidiert mit Benjamins Analyse des Erinnerungsvorgangs in der Berliner Chronik, in der Benjamin ein archäologisches Verfahren als paradigmatisch für die Freilegung verschütteter Erinnerungsschichten bestimmt hat.(50)

Der beunruhigende Blick von oben und aus der Distanz wird jedoch von Sebald als defizitär in noch einer anderen Hinsicht bemängelt. Zwar liefert die soeben zitierte Textpassage ein Beispiel für die Verbindung eines Blicks in die Tiefe mit einer tiefgreifenden historischen Einsicht. Gewonnen wurde diese bezeichnenderweise im großstädtischen Raum, in welchem das Individuum auf besondere Art die Spuren kollektiver Geschichte zu lesen vermag. Doch die Annahme, dass die Ansicht von einem erhöhten Standpunkt notwendig zu einem Gewinn an historischer Einsicht verhelfe, ist irrig. In diesem Zusammenhang scheint es bedeutsam, dass hier nicht dem zentralen Protagonisten Austerlitz oder dem Erzähler selbst der Blick aus der Höhe gelingt. Vielmehr wird diese Passage in einer Konstellation periskopischen Erzählens (“sagte X, sagte Y….”) in nur sehr indirekter Weise vermittelt. Zumeist erweckt der totalisierende Blick aus der Höhe jedoch nur die Illusion eines (topographischen oder historischen) Überblicks.(51) Dies illustriert eine Stelle in den Ringen des Saturn, die den Besuch des Erzählers in der Kuppelrotunde des Panoramas von Waterloo erinnert, “in dem man von einer im Zentrum sich erhebenden Aussichtsplattform die Schlacht […] in alle Himmelsrichtungen übersehen kann.” (RS, 151) Der Über- und Rundblick, mittels dessen das Panorama dem Besucher einen Eindruck von der Totalität des Schlachtgeschehens zu vermitteln sucht, wird vom Erzähler als Täuschung missbilligt, die auf einer “Fälschung der Perspektive” beruhe: “Wir, die Überlebenden sehen alles von oben herunter, sehen alles zugleich und wissen dennoch nicht, wie es war.” (RS, 151)(52) Die Frage “Hat man von solchem Platz aus den vielberufenen historischen Überblick?” (RS, 152) wird verneint: “Ein deutliches Bild ergab sich nicht.” (RS, 153) Der Blick aus der Höhe und aus der Ferne, zumal in der künstlerischen Repräsentation von Geschichte(n), wird Sebalds Erzählern aus verschiedenen Gründen problematisch: Zum einen kann die implizierte Abstraktion den Details menschlicher Existenz und menschlichen Leidens nicht gerecht werden.(53) Zum anderen steht Sebalds skeptischer Erzähler in der Tradition modernistischen Zweifels an der Erkennbarkeit und Darstellbarkeit von Wirklichkeit.

Ein Beispiel dafür, wie sich Sebalds Texte über die Schilderung von Realitätseindrücken hin zu Reflexionen über repräsentationsästhetische, epistemologische und ethische Fragen bewegen, vermag die zitierte Textstelle auch Sebalds Vorliebe für die Peripherie, für Liminalität und Diskontinuität erklären.(54) In seinen Großstadtdarstellungen wird diese besonders augenfällig, denn hier bemüht sich Sebald auch auf der Referenzebene um die Unterminierung traditioneller Gegensätze, etwa von Zentrum und Peripherie, Belebtheit und einsamer Leere.(55) Immer wieder kommen Sebalds Wanderer unversehens von den belebten Straßen und Plätzen der Zentren weg und geraten in menschenleere, verlassene Regionen. So berichtet der Erzähler in den Ausgewanderten, dass er in Manchester zunächst “planlos herumwanderte zwischen den im Verlauf der Zeit ganz und gar schwarz gewordenen Monumentalbauten aus dem vorigen Jahrhundert” bis ihn schließlich seine “sonntäglichen Exkursionen über die Innenstadt hinaus in die unmittelbar angrenzenden Bezirke”(DA, 230f.) geführt hätten. Auch hier ist die eingeschränkte Handlungskompetenz des Subjekts in der Großstadt auffällig (grammatisch reflektiert in der Objektstellung des Ichs). In Nach der Natur beschreibt der Erzähler, er “geriet” bei solchen Wanderungen in Manchester

“in eine[…] Art Niemandsland hinter den Bahnhöfen, in eine niedrige und anscheinend zum Abbruch bestimmte Häuserzeile mit aufgegebenen Läden, auf deren Schildern die Namen Goldblatt, Grünspan und Gottgetreu, Spiegelhalter, Solomon, Waislfisch und Robinsohn zu lesen waren.” (NN, 86)

Spuren der vergessenen Kapitel der Stadtgeschichte wie etwa des ehemaligen Judenviertels finden sich vor allem an der Peripherie der Stadt. Und die Sebaldischen Figuren finden diese Spuren zumeist zufällig oder absichtslos, geleitet von Beweggründen, die ihnen selbst uneinsichtig und die rational nicht nachzuvollziehen sind.(56) Sie müssen allerdings eine Art Offenheit für das Erlebnis mitbringen, die in der Großstadterfahrung und der mit ihr verbunden Habitualitätsunterbrechung in idealer Weise gegeben scheint. Der gezielte Versuch, durch das Aufsuchen bestimmter Orte eine Begegnung mit Geschichte (sei es der eigenen, sei es einer kollektiven) herbeizuführen, schlägt hingegen gewöhnlich fehl.(57)

“[D]as ziellose Durchwandern der Stadt” Wien führt den Erzähler in “All’Estero” (SG, 42) von “der inneren Stadt” in die Leopoldstadt und Josefstadt bis zur “Venediger Au hinter dem Praterstern” und “den großen Spitälern des Alsergrunds” (SG, 39). Die bis zum Subjektzerfall führende Vereinzelung und Entfremdungserfahrung wird in dieser Textpassage besonders schmerzhaft spürbar, sind doch diese Stadtwanderungen mit dem oben besprochenen, vom Erzähler selber diagnostizierten “Niedergang” (SG, 43) verbunden, der mit völligem Ich-Verlust zu enden droht.(58)

Auch Austerlitz führen seine “nächtlichen Exkusionen” (A, 183) durch London vom Zentrum in die Vororte,

“immer fort und fort, auf der Mile End und Bow Road über Stratford bis nach Chigwell und Romford hinaus, quer durch Bethnal Green und Canonbury, durch Holloway und Kentish Town bis auf die Heide von Hampstead, südwärts über den Fluß bis nach Peckham und Dulwich oder nach Westen zu bis Richmond Park.” (A, 182)

Wiederum ist die oben beschriebene zentrifugale Dynamik der Sebaldischen Stadtbeschreibungen erkennbar.(59) Bei seinem Prager Aufenthalt verläuft sich Austerlitz gar und kann die Stadtmitte zunächst überhaupt nicht finden.(60) Die Unübersichtlichkeit der Stadt scheint ins Labyrinthische gesteigert und gerät, vielleicht vom genius loci inspiriert, zur an Kafka geschulten Allegorie für die Petrifizierung undurchschaubarer Herrschaftshierarchien.

Auf vergleichbare Weise ist an anderer Stelle die Beschreibung des labyrinthischen Brüsseler Justizpalastes zu verstehen (A, 42-45). Aufgrund seiner “jedes Vorstellungsvermögen übersteigenden inneren Verwinkelung” (A, 44) und “singulären architektonischen Monstrosität” (43) kommt diesem “mehr als siebenhunderttausend Kubikmeter umfassenden Gebäude” (A, 43) eine besondere Bedeutung in Austerlitz’ Architektur- und Herrschaftsdiskurs zu. Es gebe, führt der Protagonist aus, in diesem “auf dem ehemaligen Brüsseler Galgenberg” (A, 42) errichteten Koloss aus Belgiens Kolonialzeit “Korridore und Treppen[…], die nirgendwo hinführten, und türlose Räume und Hallen, die von Niemandem je zu betreten seien und deren ummauerte Leere das innerste Geheimnis sei aller sanktionierten Gewalt.” (A, 43).

Die Beschreibung der Stadt im Bild des undurchdringlichen Labyrinths kulminiert in Austerlitz in einer Fusion von Stadtkritik und Sprachkritik, die sowohl Hofmannsthals Chandos-Brief als auch Wittgensteins Philosophische Untersuchungen vergegenwärtigt(61):

“Wenn man die Sprache ansehen kann als eine alte Stadt, mit einem Gewinkel von Gassen und Plätzen, mit Quartieren, die weit zurückreichen in die Zeit, mit abgerissenen, assanierten und neuerbauten Vierteln und immer weiter ins Vorfeld hinauswachsenden Außenbezirken, so glich ich selbst einem Menschen, der sich, aufgrund einer langen Abwesenheit, in dieser Agglomeration nicht mehr zurechtfindet, der nicht mehr weiß, wozu eine Haltestelle dient, was ein Hinterhof, eine Straßenkreuzung, ein Boulevard oder eine Brücke ist. Das gesamte Gliederwerk der Sprache, die syntaktische Anordnung der einzelnen Teile, die Zeichensetzung, die Konjunktionen und zuletzt sogar die Namen der gewöhnlichen Dinge, alles war eingehüllt in einen undurchdringlichen Nebel.” (A, 179)

Der Architekturexperte Austerlitz parallelisiert den mit seiner Identitätskrise einhergehenden Sprachverlust mit den Orientierungsschwierigkeiten in der hermetischen Großstadt, die sich, “eingehüllt in einen undurchdringlichen Nebel”, den heuristischen Bemühungen des Subjekts entzieht. Als “labyrinthisch” werden in Austerlitz darüber hinaus insbesondere die städtischen Bahnhöfe, aber auch die Wissensarchive beschrieben (siehe unten).(62)

Schließlich verwendet Sebald im Kontext seiner Großstadtbeschreibungen immer wieder das Bild des Netzwerks. Die Anregung dazu scheint zum einen der diskursanalytischen Machttheorie Michel Foucaults zu entstammen, was in Austerlitz’ Ausführungen zur “Idee eines Netzwerks” (A, 48f.) besonders augenfällig wird. Die Prominenz von Bahnhöfen und Zugreisen im Text ist auch in diesem Zusammenhang bedeutsam. Zum anderen verdankt sie sich aber der Stadtliteratur Rilkes und Kafkas:

“Wie oft, dachte ich bei mir, bin ich nicht schon so in einem Hotelzimmer gelegen, in Wien, in Frankfurt oder in Brüssel, und habe, die Hände unterm Kopf verschränkt […] mit wachem Entsetzen auf die Brandung des Verkehrs gehorcht, die zuvor schon stundenlang über mich hinweggegangen war.” (SG, 72)

Die berühmte Anfangspassage der Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge klingt in dieser Formulierung ebenso nach wie der Schlusssatz von Kafkas “Urteil”. Darüber hinaus hat die Logik des Netzwerks für Sebald auch einen poetologischen Stellenwert, denn sie kennzeichnet sein eigenes poetisches Verfahren, lokale Örtlichkeiten und globale Geschichte(n)(63) in Verbindung zu bringen.

Sebalds Großstadtdarstellungen gelingt die Frei- und Darlegung von Spuren traumatisierter Erfahrung und Innerlichkeit auf zweierlei Weise: der von Austerlitz beschriebenen labyrinthischen Struktur der Metropolis Rechnung tragend konzipiert der Autor erstens statt eines chronologisch-linearen Erzählstrangs verschiedene Erinnerungsräume, in denen sich mehrere Bild- und Erinnerungsschichten und –geschichten überlagern.(64) Austerlitz selbst scheint dieses poetische Verfahren in seinen gedächtnistheoretischen Exkursen zu kommentieren:

“Es scheint mir nicht, sagte Austerlitz, daß wir die Gesetze verstehen, unter denen sich die Wiederkunft der Vergangenheit vollzieht, doch ist es mir immer mehr, als gäbe es überhaupt keine Zeit, sondern nur verschiedene, nach einer höheren Stereometrie ineinander verschachtelte Räume…” (A, 265)

Diese Verräumlichung von Erinnerung resultiert – wie es im Text heißt – in einer Aufhebung der Trennlinie zwischen den Lebendigen und den Toten. Sie resultiert auch, mit potentiell problematischen ethischen Implikationen, in einer Verbindung von Erinnerungsbildern des Erzählers mit Erinnerungen seiner biographischen Subjekte (in die jene mitunter nahezu nahtlos übergehen oder eingebettet sind) und somit in einer Aufhebung der Distanz “zwischen dem Zeitzeugen und dem Zeugen der nachfolgenden Generation.”(65) Häufig kommt es aber auch zu einer Fusion mit literarischen, mythischen, biblischen oder künstlerisch vorformulierten “Urszenen”(66), die gleichsam als Prismen im Prozess der Neupositionierung und Orientierungssuche des durch das Widerfahrnis bedrohten Subjektes fungieren. Damit sich das Subjekt nicht abhanden kommt, spiegelt es sich – in einem Versuch der Selbstvergewisserung – in einem kulturell verbürgten Anderen (siehe unten).

Zweitens aktiviert Sebalds Verbindung individueller Lebens- und Leidensgeschichten mit einem Netzwerk der Gewalt (das in architektonischen Formulierung wie dem Justizpalast in Brüssel oder der Antwerpener Centraal Station seine Ausdrucksform findet) auch das archäologische Gedächtnismodell, das Benjamin in seinem Denkbild “Ausgraben und Erinnern” formuliert hat.(67) Benjamins Betonung eines doppelt-gerichteten Objekt- und Subjektbezugs, der den Gegenstand der Erinnerung ebenso wie das erinnernde Subjekt in den Blick nimmt – histoire (erzählte Geschichte) ebenso wie discours (den Modus der Vermittlung)(68) – scheint mir geradezu eine “Vor-Schrift” für Sebalds Nieder- und Umschrift von Erinnerung. Sebalds verräumlichendes Verfahren und urban motivierte und inszenierte Rekonstruktionen von Erinnerung in verschiedenen, einander überlagernden Schichten bzw. ineinandergeschachtelten Räumen soll abschließend an Textbeispielen aus Austerlitz und Nach der Natur erläutert werden:

In Austerlitz wird die Erfahrung der Großstadt bewusst als Eingang in die tieferen Schichten des Unter- und Unbewußten gestaltet. Als Bewegung nach unten und in die Dunkelheit erscheint bereits die Anfangsszene, in welcher der Zug, mit dem der Ich-Erzähler in Antwerpen ankommt, langsam nach unten in die dunkle Bahnhofsvorhalle der Centraalstation einfährt. Sofort befällt ein großstadttypisches “Gefühl des Unwohlseins” den von “Kopfschmerzen und unguten Gedanken geplagten” Erzähler (A, 5f.). Das “künstliche Halbdunkel” des Nocturamas, das der Erzähler gleich nach seiner Ankunft aufsucht, bestärkt diesen Eindruck. Noch deutlicher wird die Abwärtsbewegung allerdings bei der Schilderung verschiedener Pariser Lokalitäten, insbesondere in den bedeutungsvollen Beschreibungen der Gare d’Austerlitz und der Bibliotheque Nationale de France am Quai François Mauriac. Die allegorischen Andeutungen historischer Fluchtlinien sind in beiden Textpassagen vielfältig. Vor der Einfahrt in den Bahnhof, von dem aus Transporte in die Vernichtungslager organisiert wurden, werden “die von der Bastille herkommenden Métrozüge”(69) (man beachte den symbolischen Gestus dieser temporalen Gleitbewegung, die von der Örtlichkeit ausgehend auf ein zeitübergreifendes Netzwerk der Gewalt hinweist!), “nachdem sie die Seine überquert haben, […] gewissermaßen verschluckt […] von der Fassade.” (A, 408). Die Grenze zwischen überirdischem und unterirdischem Bereich wird durchstoßen, und genauso wie beim Eintritt in den Hades muss zunächst ein Fluss überquert werden. “[E]ine aus Balken und Brettern roh zusammengezimmerte Bühne mit galgenähnlichen Gerüsten und allerhand verrosteten Eisenhaken” (A, 408) vermittelt, zusammengenommen mit den “ausgerupften Taubenfedern, die überall auf den Bodenbrettern herumlagen” (A, 409), unmissverständlich den Eindruck, man befinde sich am Schauplatz “eines ungesühnten Verbrechens.” (ibid.)(70) Dem Erinnerungspalimpsest der Großstadt scheinen überall Spuren eingeschrieben, die auf eine von Gewalt geprägte Vergangenheit hinweisen.

Die Schachtelung von Erinnerungsräume wird in dem Elementargedicht Nach der Natur besonders deutlich. Auch hier steht der Besuch der fremden Großstadt (Wien) im Zeichen der Grenzüberschreitung. Wiederum ist die Transgressionserfahrung mit Momenten der Überforderung und drohenden Ich-Verlusts verbunden. Bei der Betrachtung des Altdorfer-Gemäldes “Lot und seine Töchter” im Kunsthistorischen Museum verbindet sich für den Erzähler die im Hindergrund (i. e. an der Peripherie!) des Bildes dargestellte Zerstörungsszene mit der Erinnerung an die Bombardierung Nürnbergs im August 1943. Eine Stadtdarstellung im Bild des Renaissancemeisters evoziert eine zeitlich und geographisch völlig andere Stadterinnerung. Die Schachtelung von Erinnerungsräumen wird zusätzlich dadurch kompliziert, dass nicht tatsächlich die eigene Erinnerung des Erzählers aktiviert wird, sondern dass diese (imaginierte) Erinnerung auf Erzählungen seiner Mutter basiert, und in den Zeitraum vor seiner Geburt zurücklaufen, ja – so schlägt der Text vor – mit dem Tag seiner Empfängnis zusammenfallen. Schließlich werden die verschiedenen Erinnerungsschichten noch mit dem kollektiven historischen Wissen verbunden, dass “Gomorrah” das britische Code Wort für die Zerstörung Hamburgs war.(71)

“Als ich dieses Gemälde […] sah, war es mir, seltsamerweise als hätte ich all das zuvor schon einmal gesehen, und wenig später hätte ich bei einem Gang über die Friedensbrücke fast den Verstand verloren. ” (NN, 74f.)

Ausgelöst durch die Ansicht der (malerisch vermittelten) Zerstörung einer Stadt (“Nürnberg in Flammen”) gerät die Verschachtelung verschiedener Städtebilder und Erinnerungsschichten (Wien wird zum Rahmen für Nürnberg, wird zum Rahmen für Hamburg) zum persönlichen Widerfahrnis und zur akuten Bedrohung. Dabei erscheint die eigene Erfahrung alttestamentarisch präfiguriert, denn die biblische Zeugung des “neue[n] Geschlecht[s] der Moabiter”(NN, 74) wird narrativ kurzgeschlossen mit den persönlichen Umständen des nachgeborenen Erzählers.

 

Widerfahrnis und Widerstand – Versuch einer Zusammenfassung

Sebalds Stadtlandschaften sind hochgradig konstruierte Räume, in denen verschiedene Zeitstufen, Realität und Imagination, Eigenes und Fremdes, Innen und Außen überblendet werden. In allen narrativen Texten Sebalds erscheinen Städte als privilegierte Erinnerungsszenarien, als bedeutungsvolle Topographien, in denen die Bilder des Unbewussten der Kultur (und manchmal auch des Bewussten) mit den Erinnerungsspuren des Individuums koinzidieren. Die Architektur der Stadt erscheint als Paradigma kolonialer Macht- und Herrschaftsansprüche, industrieller Fortschrittsgläubigkeit, kapitalistischer Allmachtswünsche, nationalsozialistischer Gewalt, Folter und Massenvernichtung. Ihre baulichen Strukturen gleichen Zenotaphen, die Verlust und Abwesenheit anmahnen.(72)

Dem Vergessen und Verschwinden mancher Stadträume (wie des verfallenden Judenviertels, der abgerissenen Arbeitersiedlungen aus dem 19. Jahrhundert, der überbauten Lagerhäuser jüdischen Beuteguts) ist die Permanenz der Räume der Macht, Ordnung und Monumentalität gegenübergestellt. Gebäude und ganze Stadtteile erscheinen als steingewordener Ausdruck einer Geschichte der Gewalt, Zerstörung und Unterdrückung, deren Spuren in verschiedenen Schichten des architektonischen Palimpsests eingegraben sind. Auch die großstadttypischen Sammelzentren offizieller Erinnerungsverwaltung und ihrer Institutionen (Archive und Bibliotheken, in geringerem Maße auch Museen) werden zu Kristallisationspunkten der Sebaldischen Kritik. Und immer wieder begegnen Transitbereiche wie Bahnhöfe, Wartehallen und Hotels, die, statt kommunikations- und identitätsstiftend zu wirken, Einsamkeit und Ähnlichkeit produzieren und mit Marc Augés Begriff der “Nicht-Orte” angemessen bezeichnet sind.(73) Darüber hinaus lässt sich die Mehrzahl der großstädtischen Räume, die Sebalds Texte beschreiben, als Heterotopien Foucaultscher Prägung qualifizieren, in denen eine problematische gesellschaftliche “Normalität” gerade in der Abweichung konstruiert wird.

Traditionelle Kategorien (wie Zentrum und Peripherie) werden in den untersuchten Texten zwar aufgerufen, aber sogleich transzendiert, indem die Sebaldischen Erzähler die Peripherie zum eigentlichen Zentrum ihrer Aufmerksamkeit machen. Gerade dort, in den Randbereichen, begegnet ihnen kulturell, historisch oder individuell Bedeutsames. Die Sebaldischen Städte erscheinen als Psychographien sowohl der Kultur, die sie hervorgebracht und geprägt hat, als auch des Subjekts, das sie aufsucht. Der großstadtspezifische Wahrnehmungsmodus ist denn auch in der doppelten Optik von Kollektiv und Individuum zu sehen, als Abbild der “historisch gewordenen” urbanen Realität wie auch als Reflexion der modernen Verfasstheit ihrer zerrissenen Besucher.

Sebalds Großstadtdarstellungen stehen aber auch im Spannungsverhältnis von historischer Referenzialität, literarisch-inspirierter Darstellungskonvention und erkenntnistheoretischer Reflexion: gleichermaßen geprägt von lebensweltlich-realen Aspekten (siehe die dokumentarischen Materialien, die Sebald einarbeitet), von der Vergegenwärtigung von Prätexten und von Sebalds epistemologischer Skepsis ist die Metropolis eigenen Gesetzen unterworfen, die sich der rationalen Aufarbeitung entziehen. Das Labyrinthische akzentuiert die Tiefendimension historischer Erinnerungsebenen, aber auch ihre epistemische Undurchdringbarkeit.

Dennoch folgen die Erzähler in Sebalds Texten im Wesentlichen den Maßgaben des Benjaminischen Forschers, der archäologisch arbeitet. Indem dieser verschüttete Schichten wieder freizulegen versucht und die Scherben vergessener Leben wieder zusammensetzt, arbeitet er gegen den Prozess des Vergessens an. Sebalds Erzähler tun dies auf mäandernden Pfaden und in einem digressiven Schreibstil, der die (machtpolitisch-verdächtigen) Ordnungsprinzipien strikter Hierarchie und Linearität zurückweist. Mittels einer Poetologie, die einen niedrigen Erzählerstandort, lockere, individuell-assoziative Verknüpfungsmuster und eine peripatetische Inszenierung als alternative Strukturmodelle privilegiert, artikuliert Sebald eine Kritik, die sich dem dominanten Ordnungsdiskurs entgegenstellt und in einer neuartigen Weise Erinnerungs- und Reflexionsräume eröffnet. Das Netzwerk, das Sebald so mit seinen eigenen Texten webt, steht den inhaltlich aufgerufenen Netzwerkassoziationen (Metropolis, modernes Verkehrs- und Transportsystem, Verflechtung von Macht- und Herrschaftsstrukturen) diametral entgegen.

Indem städtische Räume aus der verlässlichen Verortung im Raum-Zeit-Kontinuum herausgelöst und als Erinnerungs- und Reflexionsräume konzipiert werden, erweisen sie sich innerhalb der aufgezeigten Konzeptionsweisen als nicht stabil: Ein Ort ist “never simply itself […], but is, rather, its own emigrant” hat Adam Z. Newton beobachtet.(74) Das bevorzugte Aufsuchen von Rand-, Zwischen- und Transiträumen (etwa des programmatisch als “Salle des pas perdus” bezeichneten Wartesaals, in dem der Erzähler und Austerlitz eingehende Gespräche haben) kontrastiert die starre Topographie der Gewalt und gesichtslose Anonymität der Stadt mit der lebendigen Dynamik individueller Begegnung und empathetischer Vorstellungskraft.

So macht beispielsweise die Beziehung zwischen dem Erzähler und dem in Trauma erstarrten Austerlitz – in der Mitte postmoderner, großstädtischer Entfremdung – Hoffnung darauf, dass das Wiederfinden eines authentischen Selbst vielleicht doch möglich sein könnte. (75) Darin besteht der eigentliche Widerstand, den Sebalds Texte ausüben.

 


Anmerkungen:

1 W.G. Sebald, Austerlitz [im Folgenden zitiert als A]. München: Hanser, 2001, p. 5. 2 ibid., p. 9. Siehe auch Die Ausgewanderten. [Im Folgenden zitiert als DA] 5. Aufl. Frankfurt a. M.: Fischer, 2000, p. 244. Zur Verbindung von Photographie, Topographie und Erinnerung in Sebalds Werk siehe auch Alexandra Tischel, “Aus der Dunkelkammer der Geschichte. Zum Zusammenhang von Photographie und Erinnerung in W.G. Sebalds Austerlitz“, in: W.G. Sebald. Politische Archäologie und melancholische Bastelei, edd. Michael Niehaus und Claudia Öhlschläger. Berlin: Erich Schmidt, 2006, pp. 31-45. 3 Georg Simmel, “Die Großstadt und das Geistesleben” [1903], Gesamtausgabe, edd. Rüdiger Kramme, Angela Rammstedt und Otthein Rammstedt, VII: Aufsätze und Abhandlungen 1901-1908. Frankfurt: Suhrkamp, 1995, pp. 116-131. 4 Pierre Nora, Zwischen Geschichte und Gedächtnis, übers. Wolfgang Kaiser. Frankfurt a. M.: Fischer, 1998. Siehe auch ders., ed., Erinnerungsorte Frankreichs. München: Beck, 2005. 5 Walter Benjamin, Das Passagen-Werk. In: Gesammelte Schriften, ed. Rolf Tiedemann, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1982, V.2, p. 1041. 6 Cf. Christiane Weller, “Die Melancholie des Ortes. Stadt, Gewalt und Erinnerung”, in: W.G. Sebald. Schreiben ex patria/Expatriate Writing, ed. Gerhard Fischer. Amsterdam und New York: Rodopi, 2009, pp. 493-507, hier p. 494. 7 Dazu gehören nach Nora beispielsweise auch symbolträchtige, identitätsstiftende Denkmäler, Kunstwerke, Museen, Archive, Rituale, Fahnen und “Texte, die Neues schufen und eine Tradition begründeten … ” (Zwischen Geschichte und Gedächtnis, p. 7). 8 Siehe beispielsweise Severin Müller, Topographien der Moderne. Philosophische Perspektiven – literarische Spiegelungen, ed. Matthias Fischer. München: Peter Kirchheim, 1991. Als Beleg für das anhaltende Interesse insbesondere an sprachlichen und literarischen Raum- und Räumlichkeitskonzeption mag der Verweis auf die diesjährige Jahrestagung der Österreichischen Gesellschaft für Germanistik dienen, die unter dem Thema “Topographie und Raum in der deutschen Sprache und Literatur” (18.-21. Mai 2011) stattfand. 9 Weller, op. cit., p. 495a. 10 f. Sigrid Weigel, “Reading the City: Between Memory-image and Distorted Topography. Ingeborg Bachmann’s Essays on Rome (1955) and Berlin (1964)”. In: Urban Visions. Experiencing and Envisioning the City, ed. Steven Spier. Liverpool: Liverpool University Press und Tate Liverpool, 2002, pp. 23-36, insb. p. 23. 11 Andreas Huyssen, Present Pasts. Urban Palimpsests and the Politics of Memory. Stanford, CA: Stanford University Press, 2003. 12 In German-language literature of the post-1945 period, images of cities are always at one and the same time images of history, inscriptions of collective memory onto a topography.” (“Reading the City”, p. 23). 13 Zum Thema Literatur und Gedächtnis bzw. Literatur als Medium des Gedächtnisses siehe auch den von Astrid Erll und Ansgar Nünning herausgegebenen Band Gedächtniskonzepte in der Literaturwissenschaft. Theoretische Grundlegung und Anwendungsperspektiven. Berlin und New York: Walter de Gruyter, 2005. 14 Siehe meine Fn. 5. Siehe auch Benjamins Berliner Chronik, Berliner Kindheit um Neunzehnhundert, die Studie über Baudelaire und das Passagen-Werk. 15 Benjamin führt aus, “… daß das Gedächtnis nicht ein Instrument zur Erkundung der Vergangenheit ist, sondern deren Schauplatz. Es ist das Medium des Erlebten, wie das Erdreich das Medium ist, in dem die toten Städte verschüttet liegen. Wer sich der eigenen verschütteten Vergangenheit zu nähern trachtet, muss sich verhalten wie ein Mann, der gräbt.” Benjamin, Berliner Chronik, in: Gesammelte Schriften, VI, pp. 465-519, hier p. 486. 16 Jacques Derrida, Mal d’Archive: Une Impression Freudienne. Paris: Éditions Galilée, 1995 [Archive Fever: A Freudian Impression, übers. Eric Prenowitz. Chicago und London: University of Chicago Press, 1996]. Vergleiche J. J. Longs überzeugende Diskussion des Archivs in W.G. Sebald. Image, Archive, Modernity. New York: Columbia University Press, 2007, insb. pp. 149-167. Als Paradebeispiel des modernistischen Archivs dient Longs archivkritischer Studie die Beschreibung der französischen Nationalbibliothek in Austerlitz. (Siehe auch meine Besprechung unten). 17 Siehe insb. A, pp. 8-18, 42-45, 388-405 und 408-410. 18 Siehe insbesondere DA, p. 232f. Zu nennen wäre in diesem Zusammenhang auch das von der neuen französischen Nationalbibliothek überbaute Camp Austerlitz und die Lagerhäuser, in denen zur Besatzungszeit konfiszierter jüdischer Privatbesitz gehortet wurde. Siehe dazu die Arbeiten James L. Cowans, der in akribischer Recherche die Quellen für Sebalds Darstellung in Austerlitz ausfindig gemacht hat: “W.G. Sebald’s Austerlitz and the Great Library: History, Fiction, Memory. Part I”, in: Monatshefte, 102, 1 (2010), pp. 51-81, sowie ders., “Sebald’s Austerlitz and the Great Library: A Documentary Study”, in: W.G. Sebald. Schreiben ex patria/Expatriate Writing, pp. 193-212. 19 In seiner Behauptung einer engen Verflechtung dieser Epochen (etwa des Zusammenhangs zwischen Kolonialismus und Naziherrschaft) entlehnt Sebald zum Teil Argumentationsfiguren Hannah Arendts (siehe Huyssen, “Gray Zones of Remembrance,” in: A New History of German Literature, edd. David Wellbery und Judith Ryan. Cambridge, Mass. und London, England: Harvard University Press, 2004, p. 971). Zu Sebalds Geschichtsverständnis, insbesondere seiner These einer schicksalhaften Kontinuitätslinie von bürgerlicher Expansionspolitik, Kapitalismus, Kolonialismus und Holocaust, siehe auch Anne Fuchs, Die Schmerzensspuren der Geschichte: Zur Poetik der Erinnerung in W.G. Sebalds Prosa. (Köln/Weimar/Wien: Böhlau, 2004) und den von Anne Fuchs und J.J. Long herausgegebenen Band W.G. Sebald and the Writing of History. (Würzburg: Königshausen & Neuman, 2007) sowie Alan Itkins Artikel “Eine Art Eingang zur Unterwelt”: Katabasis in Austerlitz“, in: Markus Zisselsberger, The Undiscover’d Country. W.G. Sebald and the Poetics of Travel. (Rochester, NY: Camden House, 2010), pp. 161-185. 20 Siehe insb. W.G. Sebald. Image – Archive – Modernity (cf. meine Fn. 16) sowie ders., “Disziplin und Geständnis. Ansätze zu einer Foucaultschen Sebald-Lektüre”, in: W.G. Sebald. Politische Archäologie und melancholische Bastelei, pp. 219-239. 21 Dass in der Großstadtliteratur der Referenzanspruch alsbald zugunsten des Interesses an einer neuen Formsprache zurücktritt, hatte bereits Walter Benjamin in seiner Baudelaire-Studie diagnostiziert (“Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus”, in: Gesammelte Schriften, edd. R. Tiedemann und H. Schweppenhäuser, I, 2. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1974, pp. 509-690.) 22 Florian Alexander Henke, Topographien des Bewusstseins: Großstadtwahrnehmung, Erinnerung und Imagination in der französischen Literatur seit Baudelaire, Dissertation Universität Freiburg, 2005, p. 5f. http://www.freidok.uni-freiburg.de/volltexte/2240/pdf/Henke_Topografien_011412.pdf (25. Juli 2011). 23 Vergleichbar sind diese formellen Innovationen etwa mit der Entdeckung von Collage und Photomontage durch die künstlerische Avantgarde des frühen 20. Jahrhunderts oder auch mit der Momentaufnahme der Photographie. 24 Hartmut Cellbrot, “Anspruch und Antwort in Stadterfahrungen am Beispiel von Musil und Rolf Dieter Brinkmann”, in: TRANS: Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaft, 18 (2011). http://www.inst.at/trans/18Nr/plenum/cellbrot18.htm (28. Juli 2011).
Die folgende Darstellung orientiert sich im Wesentlichen an Cellbrots Ausführungen, dem ich auch den Hinweis auf Bernhard Waldenfels verdanke. 25 Philosophische Anthropologie. Sprachkritische Grundlegung und Ethik. Mannheim/Wien/Zürich: Bibliographisches Institut, 1972. Nachdruck 1984. Siehe insb. §3 “Handlung und Widerfahrnis”, pp. 34-40. Hier bestimmt Kamlah Widerfahrnisse als Geschehnisse, die uns widerfahren “bezogen auf unsere Bedürftigkeit.” (p. 36; Hervorhebung im Original). 26 Cf. Bernhard Waldenfels, Bruchlinien der Erfahrung. Phänomenologie – Psychoanalyse – Phänomenotechnik, 3. Aufl., Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2002, insb. pp. 54-60. Siehe auch Cellbrot, Anspruch und Antwort, Fn. 1. 27 Diese Begegnungen kommen “rein zufälligerweise” (42), “auf eine [dem Erzähler] bis heute unbegreiflichen Weise” (40) und “durch eine eigenartige Verkettung von Umständen” (50) zustande. Zu diesen nach “langer Zeit rein zufällig erfolgte[n] Zusammentreffen” siehe auch p. 60. 28 Frankfurt a. M.: Eichborn 2001 [1990]. Künftig zitiert als SG. 29 ibid., p. 190. Der Kontext hier ist des Erzählers anfänglicher Aufenthalt in Innsbruck. Vergleiche in diesem Zusammenhang auch die Eingangspassage der Max Aurach gewidmeten Erzählung in DA (insb. pp. 219-236), in der die Einsamkeits- und Entfremdungserfahrung des Erzählers in Manchester beschrieben wird, sowie Austerlitz’ Beschreibung seines Besuchs in Nürnberg (A, pp. 317-320). 30 SG, 278. Im Folgenden werden durch Siglen markierte Textangaben in Klammern auch im Haupttext aufgeführt. 31 Frankfurt a. M.: Fischer, 1995 [1988]. (Künftig zitiert als NN.) Hier p. 8. 32 Siehe in diesem Zusammenhang auch Jan-Henrik Witthaus, “Fehlleistung und Fiktion. Sebaldsche Gedächtnismodelle zwischen Freud und Borges”, in: W.G. Sebald. Politische Archäologie und melancholische Bastelei, pp. 157-172. 33 Im Zusammenhang mit der in Sebalds Großstadtschilderungen immer wieder beschriebenen Erfahrung der Einsamkeit und Sprachlosigkeit sind die Überlegungen des Anthropologen Marc Augé hilfreich, der in seiner Studie Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit (Frankfurt a. M.: Fischer, 1994. [1992]) eine Theorie der Nicht-Orte (Non-lieux) entwickelt hat. Mit diesem Begriff bezeichnet Augé Räume der gebauten Umwelt, vornehmlich im urbanen und suburbanen Bereich, deren engdefinierte Funktion als Transiträume authentische zwischenmenschliche Begegnungen von Individuen und sozialen Gruppen nicht zulässt. Aufgrund dieser Negativ-Eigenschaft, für welche auch die Erfahrung des Ephemeren, des Verschwindens und der Absenz charakteristisch ist, spricht Augé diesen Räumen ihre Identität als Orte im anthropologischen Sinne ab. Als instabile, anonyme, solitäre Durchgangsbereiche der flüchtigen Begegnung und individuellen Vereinsamung sind die Nicht-Orte nach Augé charakteristisch für die “Übermoderne”. Als Beispiele solcher Nicht-Orte nennt Augé moderne Autobahnen, Einkaufzentren und Flughäfen, aber auch typisch Sebaldische Lokalitäten wie Bahnhöfe, Wartesäle, Hotels, Museen und Bibliotheken. Ausführlicher dazu siehe Öhlschläger, Beschädigtes Leben. Erzählte Risse. Freiburg i.Br./Berlin/Wien: Rombach, 2006, insb. pp. 137-139. 34 “Die […] Stimmen der Toten sind unausweichlich mit der Stadt verbunden.” (Weller, op. cit., p. 502). Siehe auch Itkin, “Eine Art Eingang zur Unterwelt”, insb. p. 163f., und meine Besprechung der Bahnhöfe und Wissensarchive in Austerlitz (unten) . 35 Von den zahllosen Beiträgen zur Sebaldliteratur, die sich intertextuellen Bezügen widmen, sind folgende in unserem Zusammenhang besonders interessant: Bianca Theissen, “Prose of the World: W.G. Sebald’s Literary Travels” (in: The Germanic Review 79.3 (2004), pp. 163-179), und Richard Bales, “Homeland and Displacement: The Status of the Text in Sebald and Proust”, in: W.G. Sebald. Schreiben ex patria/Expatriate Writing, pp. 461-474. 36 Cf. Maria E. Brunner, “Gesteigerte Formen der Wahrnehmung in Schwindel. Gefühle“, in: W.G. Sebald. Schreiben ex patria/Expatriate Writing, pp. 475-492, insb. p. 475. 37 Cf. Henke, op. cit., diverse, zuerst p. 6. Cf. auch Antje Wischmann, Verdichtete Stadtwahrnehmung. Untersuchungen zum literarischen und urbanistischen Diskurs in Skandinavien 1955-1995. Berlin: Berliner Wissenschafts-Verlag 2003, p. 14 et al.). 38 Henke, op. cit., p. 9. 39 Ähnlich wie Hannah Arendt hat auch Sebald diese Verweigerung des Erinnerungsprozesses häufig in Texten und Interviews angemahnt. 40 Weller, op. cit., p. 505. 41 Sebalds Arrangements dieser Multiplizität von Stimmen sind, wie er selbst betont hat, geschult an Thomas Bernhards periskopischem Verfahren. “Ich würde sein Verfahren als periskopisch bezeichnen, als Erzählen um zwei Ecken herum – eine sehr wichtige Erfindung für die epische Literatur dieser Zeit.” (W.G. Sebald, “Ich fürchte das Melodramatische,” Gespräch mit Martin Doerry und Volker Hage, in: Der Spiegel, 11, 2001). 42 In Form eines Blickes aus der Distanz und von oben, einer Draufsicht, eines Panoramas, einer Luftaufnahme, “einer Schau aus der Vogelperspektive” von “einem künstlichen, ein Stück über der Welt imaginierten Punkt” (RS, 103). 43 Surveiller et punir – la naissance de la prison. Paris: Gallimard 1975. (Überwachen und Strafen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1977). 44 Das Konzept der Heterotopie und ihrer ordnungssystematischen Bedeutung entwickelt Foucault in dem Vortrag Andere Räume (in: Barck, Karlheinz et al., Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Leipzig: Reclam 1992, pp. 34-46). Heterotopien sind demnach Räume, die der Utopie wie auch der Alltagsnorm entgegengestellt sind, Illusionsräume und Kompensationsräume, “virtuelle Orte” wie auch “wirkliche Orte, wirksame Orte, die in die Einrichtung der Gesellschaft hineingezeichnet sind, sozusagen Gegenplatzierungen oder Widerlager, […] gewissermaßen Orte außerhalb aller Orte, wiewohl sie tatsächlich geortet werden können.” (p. 39) Diese Gegenplatzierungen oder Widerlager sind für Foucault besonders akkurate Indikatoren der Normen, Regeln und Widersprüche der Gesellschaft, die sie etabliert. Institutionelle Orte wie Gefängnisse, Krankenhäuser oder Psychiatien (sogenannte Abweichungsheterotopien) rechnet Foucault ebenso der Kategorie des “anderen Raumes” zu wie Museen, Bibliotheken, Archive, Tiergärten, Parkanlagen oder Friedhöfe. Sebalds poetische Gesellschaftsanalyse schätzt solche Orte der Präzision wegen, mit der sie Rückschlüsse auf die sie etablierende Gesellschaft zulassen. Wie die Erinnerungsorte sind auch Heterotopien charakterisiert durch ein besonderes Reflexionspotential, dessen Aktivierung historisch-gesellschaftliche Einsichten vermitteln kann. (Zu Sebalds Foucault-Rezeption siehe auch Öhlschläger, Beschädigtes Leben. Erzählte Risse, pp. 135-137). 45 Cf. auch A, 208f. Siehe auch Öhlschläger, Beschädigtes Leben. Erzählte Risse, insb. p. 113, und Long, W.G. Sebald. Image, Archive, Modernity, insb. p. 14. 46 Wie entscheidend Sebalds Geschichtsverständnis durch seine “Vorstellung von einer lautlosen Katastrophe, die sich ohne ein Aufhebens vor dem Betrachter vollzieht” (NN, 77) geprägt ist, zeigt sich in zahlreichen seiner Werke. Dazu Ausführlicheres in Neil Christian Pages, “Tripping: On Sebald’s ‘Stifter'”, in: The Undiscover’d Country, pp. 213-246, insb. p. 234, und in Gunther Pakendorf, “Als Deutscher in der Fremde. Heimat, Geschichte und Natur bei W.G. Sebald”, in: W.G. Sebald. Schreiben ex patria/Expatriate Writing, pp. 91-106, insb. p. 99. 47 Zur pathogenen Stadt siehe Eike Gebhardt, “Die Stadt als moralische Anstalt. Zum Mythos der kranken Stadt”, in: Die Unwirklichkeit der Städte. Großstadtdarstellungen zwischen Moderne und Postmoderne, ed. Klaus R. Scherpe. Reinbeck bei Hamburg: Rowohlt, 1988, pp. 279-303. 48 “Charles Baudelaire”, p. 542. 49 Siehe dazu die Arbeiten James L. Cowans (cf. meine Fn. 18). 50 Siehe oben (meine Fn. 15). 51 Siehe in diesem Kontext auch Öhlschlägers Kommentar zur etymologischen und epistemologischen Dimension von “Schwindel” in Beschädigtes Leben. Erzählte Risse, p. 155. 52 Cf. Moser, op. cit, p. 50. 53 “The view from above and the view from afar have the tendency to diminish or even obliterate human presence in common; these are artificial, object-oriented viewpoints […], avoiding any treatment of particular human suffering.” Maya Barzilai, “Melancholia as World History: W.G. Sebald’s Rewriting of Hegel in Die Ringe des Saturn“, in: Anne Fuchs und J. J. Long: W.G. Sebald and the Writing of History, pp. 73-89, hier p. 85. 54 Siehe dazu Christian Mosers ausgezeichneten Aufsatz, “Peripatetic Liminality: Sebald and the Tradition of the Literary Walk”, in: The Undiscover’d Country, pp. 37-62. 55 In dieser Hinsicht scheint Sebalds Projekt dem des amerikanischen Stadtplaners Edward W. Soja verwandt (Thirdspace: Journeys to Los Angeles and Other Real-and-Imanined Spaces. Cambridge, Mass.: Blackwell, 1996, siehe insb. pp. 53-82). Mittels eines sogenannten “trialektischen” Raumkonzepts versucht Soja neuartige Repräsentationsstrategien zu finden, die traditionelle binäre Modelle (etwa die Gegenüberstellung von Zentrum und Peripherie, Innen- und Außenraum, Wirklichkeits- und Vorstellungsraum) transzendieren. Nur so glaubt Soja der komplexen Überlagerung von Orten und Geschichten (places and histories) in urbanen Räumen gerechter werden zu können. Insbesondere Sojas zwischen performativer Inszenierung und theoretischer Reflexion changierender Ansatz (in dem die Bewegung durch den Stadtraum nahezu organisch in den theoretischen Raum des Diskurses einfließt) scheint Sebald nahe zu stehen. 56 Auch der Besuch der Feste Breendonk in der Anfangspassage von Austerlitz ist durch eine Verkettung solcher Zufälligkeiten motiviert (cf. A, 28). 57 Das gilt im Wesentlichen für Austerlitz’ gezielte Suche nach Spuren seiner Familien- und Kindheitsgeschichte. Ähnlichlautend hat sich Sebald auch in Interviews geäußert. Siehe insb. Jean-Pierre Rondas, “‘So wie ein Hund, der den Löffel vergisst’: Ein Gespräch mit W.G. Sebald über Austerlitz“, in: Literatur im Krebsgang: Totenbeschwörung und memoria in der deutschsprachigen Literatur nach 1989, edd. Arne De Winde und Anke Gilleir. Amsterdam: Rodopi, 2008, pp. 351-363. 58 Signal für den Subjektzerfall ist auch der Besuch des Erzählers bei dem “an seelischen Störungen” leidenden Ernst Herbeck (SG, 44-57), der als eine Art Doppelgängerfigur und Zerrbild des Erzählers erscheint. Auch von Herbeck (dessen Biographie in zahlreichen Aspekten mit der Robert Musils verschränkt wird) erfahren wir, er habe “sich Nachts in den Straßen von Wien herumgetrieben” (SG, 45). 59 Die ebenfalls zum Ausdruck kommende Vorliebe für Listen und Inventare attestiert darüber hinaus wie sehr der (Benjaminische) Sammler Sebald jener Ästhetik des Nebeneinanders verpflichtet ist, welche die Formensprache literarischer Urbanität so nachhaltig bestimmt. 60 “Wie ich aber auf dem Plan später sah, habe ich das Zentrum nicht, wie ich zuerst meinte, in einer mehr oder weniger geraden Linie erreicht, sondern bin in einem weiten Bogen […] um es herumgegangen … ” (A, 287) 61 Cf. Öhlschläger, Beschädigtes Leben. Erzählte Risse, insb. p. 139f. 62 Siehe insbesondere die Beschreibungen der Antwerpener Centraal Station (A, 10-19), des Hauptbahnhofs an der Wilsonova in Prag (charakterisiert als ein “Bahnhofslabyrinth”, das einer “festungsartigen Anlage” ähnelt und nur über eine “ins Untergeschoß hinabführende Taxirampe” zu erreichen scheint; A, 310f.) und der Pariser Gare d’Austerlitz (A, 408-410). Von den Wissensarchiven sind insb. das Prager Staatsarchiv (A, 207-213) und die (neue) Pariser Nationalbibliothek (A, 388-395 und 400-405) bedeutsam. Detailliertere Besprechungen der Gare d’Austerlitz und der Nationalbibliothek finden sich unten. 63 Siehe dazu Barbara Huis Artikel “Mapping Historical Networks in Die Ringe des Saturn“, in: The Undiscover’d Country, pp. 277-298. 64 Cf. Öhlschläger, Beschädigtes Leben. Erzählte Risse, insb. p. 108f. 65 Ibid., p. 109. Ein problematisches Beispiel wäre in Austerlitz die Einbettung eigener Erinnerungen und Befindlichkeit in die Passage, in der, über intertextuelle Anspielungen, die Folter Jean Amerys in Breendonk evoziert wird. Der Abschnitt ist dem größeren Kontext der Antwerpenpassage am Romananfang eingelagert (A, 28-40, insb. p. 37). Zur Perspektivierung dieses speziellen Sebaldischen Verfahrens siehe auch Andreas Huyssen, “Grey Zones of Remebrance”, insb. p. 972f. 66 So etwa in dem oben besprochenen Hofmannsthal-Zitat. Zu biblischen Allusionen in Sebalds Texten siehe unten. 67 Benjamin, Gesammelte Schriften IV.1, p. 400. Cf. auch Öhlschläger, Beschädigtes Leben. Erzählte Risse, p. 108f. 68 Cf. Öhlschläger, Beschädigtes Leben. Erzählte Risse, p. 10. 69 Cf. Deane Blackler, Reading W.G. Sebald. Adventure and Disobedience. Rochester, NY: Camden House, 2007, p. 203. 70 In der Bibliothèque Nationale fährt der Besucher gar “über ein Förderband ins Untergeschoß” (A, 391). Dieser “Abwärtstransport” (wieder erscheint das Subjekt seiner Handlungsfreiheit beraubt!), der zunächst an einer “mit einer Vorhängekette verschlossenen Schiebetüre” (ibid.) endet, führt schließlich in ein Labyrinth (“Bibliothekswald” A, 392), das “eigens zur Verunsicherung und Erniedrigung der Leser” (A, 392) konzipiert scheint. Die “innere Bastion der Bibliothek” (A, 392) hat sich alsbald nicht nur als “unbrauchbar erwiesen bei der Fahnung nach Spuren” (A, 395) persönlicher Geschichte, sondern ihre architektonische Verfasstheit erinnert gar an die brutalen Gewalt der Feste Breendonk. (Siehe dazu J.J. Longs klarsichtige Besprechung unpersönlicher archivarischer Wissensspeicherung in W.G. Sebald. Image, Archive, Modernity, insb. pp. 149-167.) Diese Assoziation wird nachträglich gleichsam sanktioniert, wenn der Leser erfährt, dass sowohl das Gelände um den Gare d’Austerlitz als auch das Areal, auf dem die Nationalbibliothek errichtet wurde, einst Lagerhäuser beherbergte, die mit der Beute aus jüdischen Haushalten gefüllt war (s.o.). 71 Es handelt sich hier somit auch um eine Vorausdeutung auf Sebalds Luftkrieg und Literatur. (München: Hanser, 1999). 72 Cf. Weller, op. cit., p. 496. 73 Cf. Augé, op. cit., p. 121. (Siehe auch meine Fn. 33) 74 Adam Z. Newton, The Elsewhere: On Belonging at a Near Distance. Reading Literary Memoir from Europe and the Levant. Madison: University of Wisconsin Press, 2005, p. 60. Auch zitiert in Christopher C. Gregory-Guider, “The ‚Sixth Emigrant’: Traveling Places in the Works of W.G. Sebald”, in: Contemporary Literature 46.3 (2005), pp. 422-449, hier p. 423. 75 Vgl. Markus Zisselsberger, “A Persistend Fascination: Recent Publications on the Work of W.G. Sebald”, in: Monatshefte, 101, 1 (2009), hier p. 92.


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For quotation purposes:
Doris McGonagill: Widerfahrnis und Widerstand: Großstadterfahrung im erzählerischen Werk W.G. Sebald –
In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 18/2011.
WWW: http://www.inst.at/trans/18Nr/II-3/mcgonagill18.htm

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