Rezeption und Möglichkeiten für Jura Soyfer in Japan

 

Naoji Kimura (Tokyo) [ Bio ]

 

Unter den japanischen Germanisten ist Stefan Zweig sehr bekannt, aber der in der russisch-ukrainischen Stadt Charkow geborene Jura Soyfer gar nicht, zunächst einmal wohl deshalb, weil dieser in der gängigen deutschen Literaturgeschichte nicht genannt wird. Es gibt Dutzende von japanischen Germanisten, die sich seit Jahren mit der Wiener Jahrhundertwende beschäftigen, aber nur wenige, die sich für die deutschsprachige Bukowina-Literatur mit den repräsentativen Schriftstellern spezialisieren: Alfred Margul-Sperber, Rose Ausländer, Moses Rosenkranz, Alfred Kittner und Paul Celan mit einer umfangreichen Sekundärliteratur. Goethe war nie in Wien, aber nicht zu vergessen, dass Franz Grillparzer ihn in Weimar besuchte und der geistreiche Theaterkritiker Hermann Bahr aus Linz ihn dauernd zitierte.

Wie Moritz Csáky in seinem Beitrag „Die Wiener Moderne“ im Sammelband: Rudolf Haller (Hg.), Nach Kakanien. Annäherung an die Moderne (Wien/Köln/Weimar 1996) hervorhebt, „bereits in den neunziger Jahren [des 19. Jahrhunderts] hatte Hermann Bahr in seiner Rezension der Nagl’ schen Deutschösterreichischen Literaturgeschichte sich dagegen verwahrt, die deutschsprachigen Literaturen der Monarchie als deutsche Literatur zu bezeichnen“ und leitete damit die Wiener Moderne mit ein. Erschienen sind bisher in Japan Werkausgaben von Adalbert Stifter, Hugo von Hofmannsthal, Karl Kraus usw., weil sie nicht zuletzt auch enge literarhistorische Beziehungen zu Goethe aufzuweisen hatten. Von Stefan Zweig als Goethe-Verehrer gibt es aus den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts sogar eine 19bändige Gesamtausgabe in japanischer Sprache, aber kein übersetztes Werk von Jura Soyfer. Apropos: Stefan Zweig zählt in China zu den meistgelesenen deutschsprachigen Schriftstellern. Im November 2012 fand in Peking ein internationales Stefan Zweig-Symposium statt, das inzwischen in Zhang Yi / Mark H. Gelber (Hrsg.), Aktualität und Beliebtheit. Neue Forschung und Rezeption von Stefan Zweig im internationalen Blickwinkel (Würzburg 2015) dokumentiert ist.

Dagegen wurde in der japanischen Germanistik gegenüber der großstädtischen Wiener Moderne die sogenannte Heimatdichung seit Peter Rosegger schon früh herausgestellt, nachdem Stifter nicht nur als Böhmischer Dichter der goethischen Naturfrömmigkeit, sondern auch als Dichter der Ehrfurcht vor den einfachen Dingen entdeckt worden war. In den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts wurde dann besonders nach dem Anschluß die volkhaften Dichter ostmärkischer Herkunft vorübergehend in japanischer Übersetzung gelesen und teilweise als Nazi-Schriftsteller gefeiert. Nach Hermann Schäfers Deutsche Dichter der Gegenwart. In Ihr Leben und ihre Werke (Tokyo 1944) sind es etwa Richard Billinger, Graf Anton Bossi-Fedrigotti, Bruno Brehm, Franz Karl Ginzkey, Mirko Jelusich, Hans Kloepfer, Erwin Guido Kolbenheyer, Max Mell, Karl von Möller, Hubert Mumelter, Franz Nabl, Josef Georg Oberkofler, Josef Friedrich Perkonig, Erwin H. Rainalter, Franz Tummler, Karl Heinrich Waggerl, Josef Weinheber, Josef Wenter.

Nach dem Krieg kehrte allerdings eine Wende in der Wertschätzung andersartiger österreichischer Dichtung mit der Parole „Deutsche Literatur kommt aus Österreich“ ein. Ein erstes Anzeichen in der Aufmerksamkeit für Jura Soyfer scheint denn auch vorgelegen zu haben in dem betrffenden Artikel des Meyers Enzyklopädischen Lexions Band 22 (1978): „Soyfer, Jura, *Charkow 8. Dez. 1912.†KZ Buchenwald 16. Febr. 1939, östr. Schriftsteller. Sohn russ. Aristokraten, die nach Ausbruch der Oktoberrevolution nach Wien emigrierten. Ab 1934 Mitglied KPÖ, 1938 von den Nationalsozialisten verhaftet. S. schrieb lyr. und dramat. Werke. Bekannt wurden seine an Nestroy geschulten aktuellen und geistreichen Szenenfolgen für Kleinkunstbühnen, in denen er gegen soziale Ungerechtigkeit kämpfte und, v. a. in den Jahren vor dem Anschluß Österreichs, die Borniertheit und den polit. Illusionismus des Bürgertums anprangerte.“

Über Jura Soyfer heißt es ferner in der weitverbreiteten Studienausgabe des Brockhaus: „Pseudonyme Jura, Georg Anders, Fritz Feder, Norbert Noll, Walter West, Österr. Schriftsteller, *Charkow 8. 12. 1912, †KZ Buchenwald 16. 2. 1939; Sohn einer russisch-jüd. Industriellenfamilie, die nach Ausbruch der Oktoberrevolution nach Wien emigrierte. Bereits als Schüler war S. Mitarbeiter eines sozialdemorat. Kabaretts in Wien sowie der sozialdemokrat. ‚Arbeiter-Zeitung’. Ab 1934 Mitgl. der KPÖ, 1938 von den National- sozialisten verhaftet. S.s Werk – Lyrik, Reportagen, ein Romanfragment, Bühnentexte – beruft sich auf das Vorbild H. Heines. Bekannt wurden v. a. seine an J. N. Nestroy geschulten aktuellen und geistreichen Szenenfolgen für Kleinkunstbühnen (‚Weltuntergang’, 1936); ‚Der Lechner Edi schaut ins Paradies’, 1936; ‚Astoria’, 1937; ‚Vineta’, 1937; ‚Broadway- Melodie 1492’, 1937), in denen er den polit. Illusionismus des österr. Bürgertums anprangert und die sein leidenschaftl. Engagement gegen soziale Ungerechtigkeit und Nationalsozialismus belegen.“ Ein Porträtsfoto von Jura Soyfer ist beigegeben, und in der Sekundärliteratur ist u. a. angegeben: Grenzüberschreitungen, Gattungen, Literatur- beziehungen, J. S., hg. v. H. Arlt (1995). Da das Erscheinungsjahr der Enzyklopädie 2001 war, ist das Buch: Donald G. Daviau (Hrsg.), Jura Soyfer and His Time (Riverside, CA 1995) noch nicht verzeichnet.

Wenn Heine das frühe Werk Jura Soyfers beeinflußt hat, hat er freilich auch mit der Heine-Forschung in Japan etwas zu tun. Nach der ersten begeisterten Aufnahme in der Meiji-Zeit war der Liebeslyriker während des Zweiten Weltkrieges als Pariser Freund Karl Marx’ faktisch verboten, und gleich nach dem Krieg wurde er von der linksausgerichteten Germanisten vereinnahmt. Außerdem hat er gerade in Karl Kraus einen scharfen Kritiker, der ihn als journalistisch heruntersetzt. Der junge Jura Soyfer scheint also in erster Linie wie damals einige japanische Heine-Forscher als literarischer Kommunist verhaftet worden zu sein, zumal die KPÖ, seit Mai 1933 illegal, nach 1938 gegen das NS-Regime kämpfte, was darauf hinweist, daß er in aufsehenerregender Weise gegen den Anschluß Österreichs durch Hitler eingestellt war. Die Zeitgeschichte bis zum ‚roten Wien’ um 1920 herum wird in einem Bildband Wien (1989) von Josef Schweikhardt und Dieter Josef folgendermaßen zusammengefaßt: „Die politischen Zusammenstöße zwischen Sozialdemokraten, Christlich- sozialen und Deutschnationalen nehmen kein Ende. Demonstrationen und Arbeiteraufstände lösen einander ab. Die Kinderkrankheit der Demokratie werden zum Infekt. Schließlich brennt der Justizpalast, und Engelbert Dollfuß wird ermordet. Indem unter Bundeskanzler Schuschnigg der Nationalsozialist Seys-Inquart Staatsrat wird, ist das ‚braune Wien’ schon vorbereitet. 1938 findet der ‚Anschluß’ statt. Hitler zieht im Triumph zum Heldenplatz.“

Dabei scheint die politische Haltung der Christlichsozialen insofern sehr problematisch gewesen zu sein, als sie einerseits den deutschen Nationalsozialismus klar ablehnten, andererseits aber mit Hinweis auf die einstige deutsche Kaiserkrone der Habsburger doch großdeutsch gedacht haben. Ein so großer Gelehrter wie Heinrich Ritter von Srbik täuschte sich mit einer solchen tausendjährigen Reichsidee. Sein Friedrich Meinecke gewidmetes zweibändiges Werk Geist und Geschichte vom deutschen Humanismus bis zur Gegenwart (München/Salzburg 1950) kam zu spät heraus. Als Zeitdokument steht beispielsweise etwas verstört im Vorwort Jakob Frieds Nationalsozialismus und katholische Kirche in Österreich (Wien 1947) geschrieben: „Die Masse des österreichischen Volkes war im Jahre 1938 über den plötzlichen Einbruch der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Österreich sehr überrascht. Man hat von der Propaganda und den Methoden der Partei im Deutschen Reich wohl vieles gehört, man hat die Versuche der österreichischen Nationalsozialisten auch immer wieder erlebt, hat es aber kaum für möglich gehalten, daß Österreich eine Beute dieser politischen Bewegung werden könnte. Als es aber dann doch geschah, war man der nationalsozialistischen Propaganda ausgeliefert, da eine äußere Gegenwehr unmöglich war.“

Aber die japanischen Liebhaber der Jahrhundertwende haben meist nur die schöne habsburgische Barockstadt mit dem Wienerwald vor Augen und interessieren sich weder für das rote noch braune Wien. Sie kümmern sich lediglich als Literarhistoriker nicht einmal um die begriffliche Unterscheidung von großdeutsch, kleindeutsch und ganzdeutsch, die erst seit 1848 gemacht worden sein soll, worauf Raimund Friedrich Kaindl hinweist: Österreich, Preußen, Deutschland. Deutsche Geschichte in großdeutscher Beleuchtung. (Wien/Leipzig 1926). Während Joachim C. Fests Hitler Biographie bereits 1975 in japanischer Übersetzung erschien, ist Friedrich Heer: Der Glaube des Adolf Hitler. Anatomie einer politischen Religiosität (München 1968) noch lange nicht in Angriff genommen, weil man in Japan wohl an einer religiösen Fragestellung nicht gewöhnt ist, um Europa geistesgeschichtlich zu begreifen.

Nebenbei bemerkt, ist Buchenwald mit dem Hauptthema „Holocaust“ in der deutschen Germanistik besonders durch Richard Alewyns Diktum bekannt: „Zwischen uns und Weimar liegt Buchenwald. Darum kommen wir nun einmal nicht herum.“ Auch wurde Ernst Wiecherts Der Totenwald (1945) bereits im Jahre 1952 ins Japanische übersetzt, so daß das Konzentrationslager Buchenwald auch den japanischen Germanisten im Gegensatz zum humanen Weimar der Goethezeit ein grauenvolles Symbol der Inhumanität des Dritten Reiches wurde. Das Buch ist ansonsten in Manfred Karnicks Aufsatz „Die größere Hoffnung. Über ‚jüdisches Schicksal’ in deutscher Nachkriegsliteratur“ in: Stéphan Moses / Albrecht Schöne (Hrsg.): Juden in der deutschen Literatur (Frankfurt am Main 1986) besprochen worden. Aber wahrscheinlich hat kaum jemand in Japan zur Kenntnis genommen, daß Jura Soyfer dort ermordet wurde. Geschweige denn, daß der Bericht des Jenaer Geschichtslehrers Ernst-Emil Klotz So nah der Heimat. Gefangen in Buchenwald 1945-1948, der erst 1992 herausgegeben wurde, auch der Öffentlichkeit in Deutschland weitgehend unbekannt geblieben sein dürfte.

Im Zusammenhang mit Holocaust spricht man doch in Japan nicht gern vom selbst angerichteten Massaker in Nanking, redet heuchlerisch immer nur von Auschwitz und denkt gar nicht an Dachau, einem der ersten nationalsozialistischen Konzentrationslager. Während des Zweiten Weltkrieges wurden dem Lager 125 Außenstellen und Kommandos angeschlossen, die die Rüstungsindustrie in Süddeutschland und Österreich mit Arbeitskräften versorgten. Im Jahre 1991 wurde zwar Nico Rosts 1948 erschienenes Tagebuch Goethe in Dachau ins Japanische übersetzt, aber haupsächlich wegen der Goethe-Lektüre, womit sich der Autor im Lager tröstete und Lebenskraft schöpfte. Unter dem 27. April 1945, nachmittags 3.30 Uhr findet sich der folgende, an Jura Soyfer gemahnende Eintrag: „Einige unserer Pfleger versorgten die Kranken so gut wie möglich; wir verteilten die restliche Breikost und steckten den Halbverhungerten kleine Stückchen Zucker in den Mund – viel mehr haben wir ja selber nicht. / Zwölf von ihnen habe ich gefragt, woher sie kommen – alle zwölf konnten keine Antwort mehr geben – sie waren schon tot. / Der dreizehnte, ein Junge von kaum zwanzig Jahren, dem ich Wasser brachte, antwortete: ‚Aus Buchenwald. Wir waren zweitausendvierhundert Mann, als wir evakuiert wurden.“ Im übrigen kann sich Jura Soyfers „Dachaulied“, das vor Jahren in China viel gelesen worden sein soll, sich möglicherweise auf die durch das eigene Volk an chinesischen Intellektuellen verübten Grausamkeiten während der Kulturrevolution beziehen.

Im Laufe der Nachkriegsjahre ist glücklicherweise die einschlägige Fachliteratur über die österreichische Geschichte und Kultur aus Gesamtüberschau wie Friedrich Heers Europäische Geistesgeschichte (gekürzte Ausgabe 1982), Carl E. Schorskes Fin-de-Siècle-Vienna. Politics and Culture (1983), Willy Haas’ Die Belle Epoque in Texten. Bilder und Zeugnissen (1985), William M. Johnstons The Austrian Mind (1986) und Claudio Magris’ Der habsburgische Mythos in der österreichischen Literatur (1990) ins Japanische übersetzt worden, und alle fünf Werke gelten bis heute bei den japanischen Gebildeten als richtungsweisend für das Verständnis der habsburgischen Tradition in Österreich. Gefolgt wurden sie 1994 von der Übersetzung des Sammelwerkes Fin-de-Siècle. Zu Literatur und Kunst der Jahrhundertwende (Studien zur Philosophie und Literatur des neunzehnten Jahrhunderts, Band 35).

Damals war also das Interesse japanischer Germanisten an wiederentdeckter österreichischer Literatur sehr groß, zumal Hermann Broch noch vor Robert Musil in japanischer Sprache erschlossen wurde. Als aber im Jahre 1983 Ernst Joseph Görlich: Einführung in die Geschichte der österreichischen Literatur, Wien 1983 ewas verspätet ins Japanische übersetzt worden war, fand sich im Rahmen des österreichischen Modernismus fast unbemerkt von den nach Deutschland ausgerichteten Germanisten eine Anmerkung, in London sei 1943 eine kleine Anthologie Mut, Gedichte jünger Österreicher erschienen, unter deren Mitarbeitern die Namen von Fritz Brainin und Jura Soyfer eine Erwähnung verdienten. Der letztere, der 1939 mit 26 Jahren in Buchenwald ums Leben kam, habe sich frühzeitig einen Namen gemacht mit seinen Stücken Der Lechner-Edi schaut ins Paradies, Vineta sowie Broadway-Melodie 1492.

Wenn Jura Soyfers literarisches Hauptverdienst in seiner kabarettistischen Zusammenarbeit besteht, wird er sich als Künstler ohne weiteres an die lange Tradition der Wiener Volksstücke anschließen können. Auch wenn mit seiner Literaturgeschichtsschreibung seinerzeit viel umstritten, weist der bedeutende Literarhistoriker Josef Nadler in seinem Beitrag „Österreich im deutschen Gedanken“ zum Sammelband Deutscher Geist. Kulturdokumente der Gegenwart (Leipzig 1933) mit Albert Schweitzers Einleitung „Ehrfurcht vor dem Leben“ darauf hin: “Man mag den Dramenstil dieser Stadt wie immer nennen, sie hat ihren Wiener Stil von den ersten selbständigen Versuchen des sechzehnten Jahrhunderts über das höfische Barockspiel und die Stegreifbühnen vor den Toren, über Mozart, Grillparzer, Raimund, Nestroy bis zu Hofmannsthal, Schnitzler und Wildgans. Ob grob oder fein, ob offenherzig oder in stilvoll drapierten Falten, dieses Theater hat sich den Geist bewahrt, aus dem es geboren wurde, den Geist des echten Komödianten.“ Gemeint ist die geschichtliche Welt als Theatrum Mundi. Aber in der in den 1970er Jahren des 20. Jahrhunderts von dem österreichischen Presseamt publizierten Broschüre The Theatre in Austria von Hilde Haider-Pregler ist Jura Soyfer leider nicht berücksichtigt.

Daß Jura Soyfer jedoch mit seinem virtuellen Exil nach London auch in einen anderen Kontext als bloß Nestroy-Anhänger oder „junge Österreicher“ gehört, zeigt eine Stelle in Gunter E. Grimm / Hans-Peter Bayerdörfer (Hrsg.): Im Zeichen Hiobs. Jüdische Schriftsteller und deutsche Literatur im 20. Jahrhundert (Königstein/Ts. 1985). Es handelt sich dabei um ein gescheitertes deutsch-jüdisches Gespräch der 20er Jahre im 20. Jahrhundert: „Im Bereich der Literatur spiegelt sich diese Katastrophe schon allein in der umfangreichen Liste der Namen derer, denen ein Gespräch ohnehin unmöglich wurde, sei es, daß sie im Konzentrationslager starben oder ermordet wurden, wie Erich Mühsam, Arno Nadel, Arthur Silbergleit, Gertrud Kolmer, Georg Hamann, Jura Soyfer, Fritz Löhner-Beda, Fritz Grünbaum, Peter Hammerschlag, sei es, daß sie in der Bedrohung durch das NS-Regime oder im Exil Hand an sich legten, wie Kurt Tucholsky (1935), Egon Friedell (1938), Ernst Toller (1939), Ernst Weiss (1940), Walter Hasenclever (1940), Walter Benjamin (1940), Carl Ein- stein (1941), Stefan Zweig (1942) und Alfred Wolfenstein (1945).“

Da jenes Gespräch zum tragischen Ende verurteilt war, lautete nun die Fragestellung: „Statt des hoffnungsvollen Vertrauens auf ein bereits etabliertes, zukünftig Früchte tragendes Gespräch steht jetzt die Frage nach dem ‚Warum’ im Zentrum, d. h. warum dieser Versuch, ein Gespräch zu führen, trotz Ausblick und Hoffnung, in der Katastrophe endete.“ In der deutschen Germanistik war die Dokumentation des ersten deutsch- israelischen Symposions von bahnbrechender Bedeutung für den hier angedeuteten literaturgeschichtlichen Zusammenhang gewesen. Die Vorgeschichte dafür schilderte Wilfried Barner ausführlich in seinem aufschlußreichen Beitrag „Jüdische Goethe-Verehrung vor 1933“, wozu auch Stefan Zweig eindeutig gehörte, wovon seine Autobiographie Die Welt von gestern beredtes Zeugnis ablegt. Schließlich wurde eine Anthologie von Goethes Gedichten bei Reclam seit 1927 in seiner Zusammenstellung und mit seinem hervorragenden Kommentar gelesen, bis sie am Ende des 20. Jahrhunderts von einer philologisch gründlicheren eines deutschen Goetheforschers ersetzt wurde. Was für ein geistiges Verhältnis zu Goethe Jura Soyfer als Dichter von morgen gehabt hat, ist noch zu klären.

„Goethe und Österreich“, worüber besonders Nadler und August Sauer gründlich arbeiteten, ist überhaupt ein beliebtes Thema auch in der japanischen Goethe-Forschung. Obwohl Goethe von Jugend an Wien wie Paris vermied, wurde er ja von Kaiser Joseph II. geadelt, sah Marie-Antoinette auf ihrer Hochzeitsreise nach Frankreich in Frankfurt aus der Ferne und verfolgte ihre Halsbandgeschichte bis nach Italien. Er ließ gewiß als Theaterdirektor in Weimar die großen Dramen deutscher Tragiker aufführen, brauchte aber zur Abwechselung des Publikums gleichsam wie in den griechischen Trilogien leichte lustige Stücke. Deshalb unterhielt er durch einen Unterhändler gute Beziehungen zum Wiener Volkstheater und ließ oft Wiener Operetten spielen. In Karlsbad, Marienbad oder Teplitz hatte der Weimarer Dichter Gelegenheit genug, mit den hohen Persönlichkeiten aus Wien zusammenzutreffen.

Zugegeben, daß Jura Soyfer, nur noch ein paar Jahre älter als Georg Büchner, unglücklicherweise zu früh gestorben ist, hat er in seinen jungen Jahren seine geistigen Anlagen und Fähigkeiten noch nicht voll entfalten können. Seine relativ wenigen Werke könnten zu Lebzeiten schon in Vergessenheit geraten sein, weil niemand sich nach seinem Tode darum gekümmert hat. Es scheint, daß sie sich in der Tat noch nicht dessen würdig erwiesen haben, bei der berüchtigten Bücherverbrennung vom 10. Mai 1933 diffamiert zu werden. Denn er wird in dem mit zahlreichen Fotos von Wilfried Bauer illustrierten Buch Die verbrannten Dichter (1983) von Jürgen Serke nicht genannt. Aufgezählt werden Schriftsteller diverser Herkunft, für die sich die japanische Germanisten spontan interessieren würden: Ernst Toller, Else Lasker-Schüler, Armin T. Wegner, Franz Jung, Ivan und Claire Goll, Albert Ehrenstein, Walter Mehring, Klabund, Erich Mühsam, Jakob Haringer, Irmgard Keun, Hans Henny Jahnn, Oskar Maria Graf, Theodor Kramer, Ferdinand Hardekopf, Alfred Döblin, Carl Einstein, Walter Benjamin, Franz Hessel, Walter Hasenclever, Salomo Friedländer, Ernst Weiß, Rahel Sanzara, Max Hermann-Neiße, Paul Zech, Paul Kornfeld, Gertrud Kolmer, Adam Kuckhoff, Jakob van Hoddis, Eugen Gottlob Winkler, Ernst Ottwalt, Johannes R. Becher.

Bei den ausgeführten Autoren-Porträts handelt es sich um „Berichte, Texte und Bilder einer Zeit“ über die vergessenen Dichter der dreißiger Jahre, deren Lebensläufe in der Bild-Zeitschrift STERN serienmäßig vorgestellt wurden. In einem Göttinger Park befindet sich ein kleines Denkmal mit dem bekannten Warnruf Heinrich Heines: „Das war ein Vorspiel nur, dort wo man Bücher / Verbrennt, verbrennt man auch am Ende Menschen.“ Die Verse gehen im Anschluß an ein historisches Gedenken bis auf die Taten des ersten chinesischen Kaisers Shih Huang zurück, der im Jahre 221 v. Chr. das ganze Reich zum erstenmal einigte und u.a. überdrüssig der endlosen gelehrten Streitigkeiten hunderte oppositionelle Konfuzianer samt ihren Schriften verbrannte.

Aber sowohl in der Literatur wie auch in der Kunst gibt es eine gewisse objektive Größenordnung. Auch bei den Schriftstellern jüdischer Herkunft muß man ohne Überheblichkeit nach sachlicher Wertschätzung und zeitbedingter Popularität fragen. In dem vorhin angeführten Sammelwerk Im Zeichen Hiobs sind nach der Einleitung die Interpretationen von nachstehend genannten Autoren enthalten, die einigermaßen einen fachlich feststehenden Literaturkanon darstellen: Arthur Schnitzler, Else Lasker-Schüler, Karl Wolfskehl, Jacob Wassermann, Karl Kraus, Alfred Döblin, Franz Kafka, Max Brod, Lion Feuchtwanger, Arnold Zweig, Kurt Tucholsky, Franz Werfel, Nelly Sachs, Ernst Toller, Joseph Roth, Elias Canetti, Paul Celan. Es fällt zwar auf, daß der Name Stefan Zweig fehlt. Es kann aber darauf zurückgeführt werden, daß er wie etwa Hermann Hesse zu populär ist, um zu Studienzwecke eigens erläutert zu werden oder von grüblerischen Fachleuten ernstgenommen zu werden. Zumindes bei Jura Soyfer müßte man zugeben, daß ein Romanfragment So starb eine Partei nicht dazu ausreicht, seinen literarischen Rang zu begründen. Von den anderen bekannteren Schriftstellern gibt es mehr oder weniger japanische Übersetzungen, und die meisten Germanisten kennen mindestens ihre Namen. Es fragt sich dann, offen gestanden, ob Jura Soyfer in der österreichischen Literaturgeschichte schon einen solchen Rang errungen hat oder früher oder später erreichen wird, wenn er auch in Japan noch kaum bekannt ist. Immerhin ist es sehr erfreulich, daß er seit Jahren in einer literarischen Gesellschaft seines Heimatlandes eine liebevolle persönliche Pflege genießt.

Es gibt zu allerletzt ein Buch wie Dietmar Griesers Alte Häuser-Grosse Namen. Ein Wien-Buch (Wien 1986), dessen Vorwort folgendermaßen beginnt: „Zu den großen Mysterien jeglicher Kultur zählt der schöpferische Moment: jene – nach Stefan Zweig – ‚geheimnisvolle Sekunde des Übergangs, da ein Vers, eine Melodie aus dem Unsichtbaren, aus der Intuition eines Genies durch graphische Fixierung ins Irdische tritt.’ Zweig hat mit seiner leidenschaftlichen Neugier für diesen subtilen Vorgang seine vornehmlich auf Künstlerhandschriften gerichtete Sammelpassion begründet und sich dabei auch auf das bekannte Goethe-Wort berufen, um die großen Schöpfungen ganz zu begreifen, müsse man sie nicht nur in ihrer Vollendung gesehen, sondern auch in ihrem Werden belauscht haben.“ Sicherlich befindet sich Jura Soyfer ebenfalls noch im Übergangsprozeß seiner Rezeption und bedarf für seine nachgeholte künstlerische Vollendung einer freundlichen Betreuung der Nachwelt, die eben darin besteht, verschollene Überreste seiner Entwicklung zu sammeln und der Öffentlichkeit in einem Archiv zu präsentieren. Das würde ihm wieder abgebrochene Weltzugänge verschaffen. Dann wird er mit seinen literarischen Werken erneut Anschluß an die „Jugend in Wien“ (Katalog 1974) und mit seinem Schicksal an die heikle Zeitgeschichte um 1938 finden.