(01.09.1922 – 04.09.2015)
Am vierten September letzten Jahres verstarb Leslie Bodi, emeritierter Professor der Germanistik an der Monash University in Melbourne, wo er zu den Gründungsprofessoren der Universität gehörte und zugleich Gründungsprofessor und langjähriger Leiter (1963-1987) des dortigen Germanistischen Instituts war. Dies ist nicht nur der Nachruf auf einen außergewöhnlichen Wissenschaftler, sondern auch auf einen väterlichen Freund und Gefährten für die Anliegen, die mit der Erforschung des Österreichischen Deutsch und der plurizentrischen Sichtweise auf das Deutsche insgesamt, verbunden waren und sind. Geboren in Budapest in einer säkularen jüdischen Familie, verbrachte er etliche Jahre während seiner Kindheit auch in Mailand und besuchte deutsche Schulen. So war er immer in mehreren Sprachen gleichzeitig zu Hause, wie er selbst bekannte: „Ich habe immer in drei Sprachen, in mehreren sich teils überdeckenden Welten und Kulturen gelebt, im Ungarisch des östlichen, im Deutschen und österreichischen des westlichen Mitteleuropa und im Australischen Englisch, das eine Kategorie für sich darstellt – dann marginal auch noch in der jüdischen Welt.” Es war genau letzteres, was dazu führte, dass ihm das Studium an der Universität verweigert wurde. Er absolvierte daher eine Lehre als Schriftsetzer, um später in der Firma seiner Eltern arbeiten zu können. Der Zweite Weltkrieg verhinderte auch das, die elterliche Firma wurde zerstört und Leslie Bodi wie viele andere ungarische jüdische Mitbürger in ein deutsches KZ deportiert, das er 1945 mit nur 42 Kilogramm Gewicht knapp überlebte.
Nach dem Krieg begann er Germanistik zu studieren, um an der Universität zu arbeiten. Die Niederschlagung des ungarischen Aufstandes von 1956 und der Einmarsch der Sowjets machten auch dieses Ziel zunichte, sodass er mit seiner Frau Marianne und Tochter Anna nach Australien auswanderte, wo bereits ein Teil seiner Familie lebte. Nach einer kurzen Periode am Newcastle University College wurde er 1960 an die neu gegründete Monash University berufen und wirkte als Founding Professor der Germanistik, wo er das Fach mit einem jungen Team von exzellenten Akademikern von Grund aufbaute. Was in einer solchen Situation zu tun oder nicht zu tun war, sagte er selbst in seiner Dankesrede anlässlich der Verleihung des Friedrich Gundolf Preises der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung: „Man tat nicht so, als wäre man ein Großgermanist irgendwo im deutschen Sprachraum, benahm sich nicht als Emigrant, der schleunigst wieder heimkehren will, man jammerte nicht über die Enge der Verhältnisse, man versuchte nicht bedingungslos assimiliert zu tun. Man suchte, neue Möglichkeiten zu öffnen und Dinge eher zu ändern, als sie zu akzeptieren.” Sich selbst bezeichnete er als “antipodisch-kakanischen Germanisten”. Das fasst knapp und treffend Leslie Bodis lebenslange Einstellung zu seiner Arbeit zusammen: Persönliche Bescheidenheit und großes berufliches Engagement, das soweit ging, dass er sich mit den jeweiligen Dekanen mehr als einmal in heftige Diskussionen verstrickte, für deren Vehemenz er sich am nächsten Tag mit einer großen Bonboniere entschuldigte, sodass bald ein ganzer Kasten voll davon war. Seine mitteleuropäische Herkunft, aufgewachsen in einer multikulturellen Umgebung, seine sprachliche Vielseitigkeit und das darauf aufbauende Verständnis für die Verschiedenheiten zwischen den deutschsprachigen Ländern und der Vielfalt Zentraleuropas führten dazu, die Plurizentrik von Literaturen und Sprachen zu betonen und diese Vielfalt aus verschiedenen Perspektiven und nicht einseitig zu betrachten. Das machte ihn zu einem faszinierenden Lehrer und inspirierenden Doktorvater, der viele Generationen von australischen Germanisten ausgebildet hat. Dazu gehörte unter anderem auch Michael Clyne, Sohn emigrierter österreichischer Eltern und weltberühmter Soziolinguist und Multilingualismusforscher, der bei ihm studierte und 1965 als erster ein Doktorat an der geisteswissenschaftlichen Fakultät der Monash University abschloss und mit seinem 1984 publizierten Buch “Language and Society in the German Speaking Countries” das Konzept der Plurizentrik innerhalb der deutschsprachigen Linguistik eingeführt hat. Leslie Bodi war damit sowohl als Lehrer als auch als Wissenschaftler ein wichtiger Wegbereiter der Plurizentrik innerhalb der Germanistik im Allgemeinen, indem er die Eigenständigkeit der österreichischen Literatur (und des Österreichischen Deutsch) zu einem Zeitpunkt betonte, als die Germanistik noch völlig dem monozentrischen Konzept folgte und die plurizentrische Sichtweise als Sakrileg betrachtet wurde. Basis dafür war das Wissen und die persönliche Erfahrung, dass eine “Sprache” mehrere Kulturen und Literaturen beherbergen kann. Im Mittelpunkt seiner Reflexionen standen besonders Fragen der Selbstidentifikation von modernen multikulturellen Industriegesellschaften und Gesellschaften wie Australien, wo die Mehrheit der Bevölkerung vor zwei Generationen zugewandert war. Wesentliche Quellen waren ihm dabei die Österreichisch-Ungarische Monarchie und dessen multikulturelle Verfasstheit sowie Australien als multikulturelles Einwanderungsland. Sein Buch “Tauwetter in Wien” über die Prosa der Aufklärung ist heute das Standardwerk über eine sonst vernachlässigte komplexe Periode der Entwicklung Österreichs und Zentraleuropas. Der Sammelband “Literatur, Politik, Identität – Literature, Politics, Cultural Identity“ (Reihe: Österreichische und internationale Literaturprozesse) kann als Vermächtnis eines vielseitigen und weit über die Grenzen seines Faches wirkenden Wissenschaftlers und Lehrers angesehen werden, der wesentlich zur Weiterentwicklung seines Faches und des Verständnisses einer multikulturellen Welt beigetragen hat. Sein reiches Leben und Wirken hat weite Anerkennung in der Fachwelt gefunden und sich in der Verleihung zweier Ehrendoktorate, dem deutschen Bundesverdienstkreuz, der Goethe Medaille und dem Österreichischen Ehrenzeichen für Wissenschaft und Kunst niedergeschlagen. Leslie Bodi hinterlässt seine Frau Mari, seine Tochter Ana und seine Enkelin Sarah. Wir werden ihn als umfassend gebildeten Humanisten und Mahner, inspirierenden Wissenschaftler und als lieben Freund in Erinnerung behalten.
Rudolf Muhr (Graz) [ Bio ]