Schau-Platz: Massenmord im Fernsehen. „Ich sah den Massenmord auf zwanzig Bildschirmen gleichzeitig.” Zu Haslingers Opernball

Peter Horn

University of the Witwatersrand

Abstract
Schau-Platz: Massenmord im Fernsehen. „Ich sah den Massenmord auf zwanzig Bildschirmen gleichzeitig.” Zu Haslingers Opernball

Was nicht auf dem Bildschirm der Fernsehsender erscheint, existiert praktisch nicht. Gerade Terrorakte brauchen die Öffentlichkeit der Medien, sie müssen ‚gesehen‘ werden. Da der Opernball als gesellschaftliches Ereignis der Reichen und Schönen für das Fernsehen aufgenommen wird, eignet es sich besonders für einen medienwirksamen Terrorakt. Der Erzähler „saß damals im Regieraum des großen Sendewagens. Vor (ihm) eine Wand von Bildschirmen.“ (9) Der Erzähler berichtet: „Ich sah den Massenmord auf zwanzig Bildschirmen gleichzeitig.” (11) Sein Sohn ist ein Kameramann im Gebäude. Er kommt bei der Giftgasattacke um, denn sein Vater erlaubt ihm nicht, zwischendurch hinauszugehen, um zu rauchen. Das Fernsehen wird zum Schauplatz des Schreckens: „Als die Menschen vernichtet wurden wie Insekten, schaute ganz Europa im Fernsehen zu.“ (9) „Millionen von Menschen aus ganz Europa schauten den Besuchern des Wiener Opernballs beim Sterben zu.“ … „Wir alle sahen zu und konnten nichts tun.” (10) Was die kleine Gruppe um den Geringsten, ihrem Anführer, vor laufenden Kameras hier inszeniert, ist eine moderne fernsehgerechte Wiederholung der Gaskammern in Auschwitz. Der Geringste selbst kommt dabei als Selbstmordattentäter ums Leben. Obwohl der Geringste über das gewöhnliche Leben gesagt hat, „Orientiert Euch nicht an den Perspektiven des gewöhnlichen Lebens. Es ist ausgelaugt und hat nichts mehr anzubieten. Es bezieht seine Höhen und Tiefen aus dem Fernsehapparat,“ (23) braucht er doch gerade den Fernsehapparat als Schau-Gerät für die Wirksamkeit seiner Terrorattacke.

Setting: Mass murder on television. „I saw the mass murder on twenty screens simultaneously.” Haslinger‘s Opernball

Everything that does not appear on the screen of a TV does not exist for all practical purposes. Terrorist acts in particular need the publicity of the media, they need to be ‘seen’. As the Opernball as an event of the rich and beautiful is recorded for television, it is particularly suited for a terrorist act geared toward the media. The narrator “sat in the control room of the big transmission vehicle. In front of him a wall of screens.“ (9) The narrator reports: „I saw the mass murder on twenty screens simultaneously.” (11) His son is a camera operator inside the building. He dies in the poison gas attack, because his father does not allow him to go outside to smoke. Television becomes a setting of horror: „When humans were destroyed like insects all of Europe watched it on television.“ (9) „Millions of people from all over Europe watched how the participants of the Opernball died” … „We all watched and could do nothing.“ (10) What the little group around the Least One, their leader, was enacting in front of running cameras is a modern media compatible repetition of the gas chambers of Auschwitz. The Least One dies a suicide assassin. While the Least One had said about everyday life: “do not orient your life after the perspectives of everyday life. It is depleted and has nothing to offer. It takes its heights and depths from the television set,“ (23) nevertheless, he needs the television set as the show device for his terror attack.

Massenmord; Fernsehen; Terror; Schrecken; Auschwitz

Nicht zufällig ist der Schauplatz des Terroranschlags im Opernball1 eine festliche gesellschaftliche Tanzveranstaltung, für ein ausgewähltes Publikum. Früher war der Tanzball für gehobene Gesellschaftsschichten ein wichtiges Element des Heiratsmarktes. Junge Frauen traten auf Debütantinnenbällen erstmals als erwachsene, heiratsfähige Personen auf. Auch heute dienen Bälle unter anderem dem Zweck des Sehens und Gesehenwerdens und das wird noch dadurch betont, dass die Veranstaltung im Fernsehen übertragen wird. Der große festliche Ball stammt aus dem 17. Jahrhundert, als die Hofgesellschaft in Frankreich zur Zeit Ludwigs XIV sich selbst so zur Schau stellte. Aber als Hauptstadt des Balls gilt heutzutage Wien. Der Wiener Opernball ist jedes Jahr der gesellschaftliche Höhepunkt der Ballsaison im Wiener Fasching. Er findet immer in der Wiener Staatsoper statt2. Wenn man keine Monarchie mehr hat, kann man sie wenigstens spielen. Richard Schmidleitner, einer der Ballbesucher erzählt:

Im Korridor stieß ich auf die Kaiser-Dynastie. Sie waren mit zwei Prinzessinnen offenbar auf dem Weg in die Philharmoniker-Bar. Wie an unsichtbaren Schnürchen gezogen, stellten sich die Menschen zu einem Spalier auf, verbeugten sich zu den Vorbeigehenden und sagten: ‚Kaiserliche Hoheit.‘ (343)

Der Anführer der Terroristen nennt sich der Geringste. Wenn man sich den Werdegang des Geringsten und seiner Familie ansieht, dann kann man sagen, dass neben den noch zu diskutierenden politischen Gründen für die Terroraktion sicher auch das private Rachegefühl des Unterprivilegierten gegen die gesellschaftliche Oberschicht eine Rolle gespielt hat. Der Vater des Geringsten fühlt sich wie ein Stück Dreck: „Über ihm gab es eine unüberschaubare Hierarchie“ (25). Menschen wie der Geringste und seine Anhänger sehen sich in der Moderne „Prozessen der Entzauberung, Enttäuschung, Desillusionierung und Kränkung, des Verlustes an Sicherheit, Orientierung, Geborgenheit und Weltvertrauen“ ausgesetzt. (Stulpe 2010:124) Während die Entwicklung der Moderne einerseits „als Aufklärung begrüßt und vorangetrieben“ wird, verheißt sie aber „keinen utopistischen Fluchtweg mehr“ und die Zukurzgekommenen sehen die Moderne als einen „heil- und glücklosen Ort“. (Ebd.)

Auch der Ingenieur, der an dem Anschlag beteiligt war, wird von der Grausamkeit des Ereignisses überrascht: „Von Blausäure war nie die Rede gewesen. Wir waren doch kein Selbstmord­kommando. Der Geringste hatte mir den Inhalt der Behälter als eine spezielle Kohlenmonoxidverbindung beschrieben.“ Dennoch lobt er den Geringsten: „Er ist ein Märtyrer. Er ist in den Tod gegangen, damit ich [der Ingenieur] überleben kann. Er hat mir das Leben gerettet.“ (428)

Der Ingenieur versucht den Terrorakt und die Motive des Geringsten zu erklären:

Verstehen Sie, der Geringste war nicht einfach irgendein Terrorist, der den Opernball vergasen wollte, weil es ihm gerade Spaß mach­te oder weil er ein paar Leute haßte, die sich dort vergnüg­ten. Es ging um etwas ganz anderes. (30)

Der Geringste handelt, denn: „Worte überzeugen niemand mehr, nur noch Taten“ (88), aber er versucht sich von den Neonazis zu distanzieren und beruft sich bei seiner Vorstellung vom Dritten Reich auf Joachim von Fiore: „ich weiß nicht, auf welchen Traditionen ihr gründet. Wir jedenfalls streben das Dritte Reich an, welches man auch das tausendjährige nennt. Und der Vater dieser Idee heißt Joachim von Fiore.“ (89f.) (Vgl. Rosteutscher: 1966 und 1962; und Behun 2012). Joachim von Fiore sprach von den drei Reichen der Weltgeschichte, dem Reich des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Der Geringste behauptet das dritte Millennium sei der Beginn des dritten Reiches und sagt: jetzt stehen wir an der Schwelle zum dritten tausendjährigen Reich3. Die Neonazis nennt er primitive Trottel (90). Die Gruppe, die er anführt, nennt sich Bewegung der Volkstreuen (37) und beruft sich auch auf Alfred Rosenberg und Richard Walter Darré, die Nazi-Ideologen und Verfechter des „Tausendjährigen Reichs”. (vgl. Thorpe 2015: 94f) Darré war von seinen Erfahrungen in der Tierzucht und den Theorien des Rassenideologen Hans F. K. Günther beeinflusst. Er verherrlichte mit den Bänden Das Bauerntum als Lebensquell der nordischen Rasse (1929) und Neuadel aus Blut und Boden (1930) das Bauerntum4. Alfred Ernst Rosenberg war zur Zeit der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus Politiker und führender Ideologe der NSDAP. Als Student war er 1917 Zeuge der Revolution in Moskau. Wie die russischen Rechtsextre­men interpretierte er diese als Folge einer jüdisch-freimaurerischen Weltver­schwö­rung. Mit dieser Vorstellung prägte er später maßgeblich die Ideologie der NSDAP5. Das 1930 erschienene Buch Der Mythus des 20. Jahrhunderts propagierte eine neue „Religion des Blutes“6.

Entscheidend für die Auswahl des Ziels ist, dass dieses gesellschaftliche Ereignis gefilmt wird und europaweit übers Fernsehen ausgestrahlt wird. Haslinger betont immer wieder den medialen Charakter des Ereignisses (Vgl. Robertz / Kahr 2016 und Kepel 2016). Was nicht auf dem Bildschirm der Fernsehsender erscheint, existiert praktisch nicht. Gerade Terrorakte brauchen die Öffentlichkeit der Medien, sie müssen ‚gesehen‘ werden. Da der Opernball als gesellschaftliches Ereignis der Reichen und Schönen für das Fernsehen aufgenommen wird, eignet es sich besonders für einen medienwirksamen Terrorakt: „Als die Menschen vernichtet wurden wie Insekten, schaute ganz Europa im Fernsehen zu.“ (9)

Was die kleine Gruppe um den Geringsten, ihrem Anführer7, vor laufenden Kameras hier inszeniert, ist eine moderne fernsehgerechte Wieder­holung der Gaskammern in Auschwitz. Der Geringste selbst kommt dabei als Selbstmord­atten­täter ums Leben. Obwohl der Geringste über das gewöhnliche Leben gesagt hat, „Orientiert Euch nicht an den Perspektiven des gewöhnlichen Lebens. Es ist ausgelaugt und hat nichts mehr anzubieten. Es bezieht seine Höhen und Tiefen aus dem Fernsehapparat,“ (23) braucht er doch gerade den Fernsehapparat als Schau-Gerät für die Wirksamkeit seiner Terrorattacke.

Erzählt wird der Terroranschlag zunächst durch den Vater eines Kameramanns – Fred, der bei dem Anschlag ums Leben kommt, – und der selbst am Regiepult den Ablauf der Fernsehsendung regelt: „Ich saß damals im Regieraum des großen Sendewagens. Vor mir eine Wand von Bildschirmen.“ (9) Der Erzähler, Fernsehreporter8, namens Kurt Feuerbach, alias Kirk Fraser, ist Sohn eines Germanistik­professors in England, dessen Eltern in Auschwitz umge­bracht wurden und der dann als Soldat bei der Befreiung von Bergen-Belsen dabei war.9 Was er sieht, ist folgendes: „Plötzlich ging ein merkwürdiges Zittern und Rütteln durch die Reihen der Tanzenden. Die Musik wurde kakophonisch, die Instrumente verstummten innerhalb von Sekunden.“ (9) Die Augen der Menschen „sind weit aufgerissen. Sie sehen, Sie spüren, daß sie ermordet werden. Sie wissen nicht, von wem, sie wissen nicht, warum. Sie können nicht entkommen.“ (9) Der Erzähler sagt: „Ich sah den Massenmord auf zwanzig Bildschirmen gleichzeitig.” (11) Sein Sohn ist als Kameramann im Gebäude. Er kommt bei der Giftgasattacke um, denn sein Vater erlaubt ihm nicht, zwischendurch hinauszugehen, um zu rauchen. „Millionen von Menschen aus ganz Europa schauten den Besuchern des Wiener Opernballs beim Sterben zu.“ … „Wir alle sahen zu und konnten nichts tun.” (10)10

Der Rest des Romans versucht dann zu klären, wer diesen Anschlag verübt hat und aus welchen Gründen11.

Nach der Katastrophe interviewt der Erzähler Personen, die der Massenvergasung entkommen sind, unter anderem auch einen Wiener Polizisten und ein Mitglied der Terroristengruppe; der Roman setzt sich zusammen aus den Tonbandaufnahmen, die diese Gespräche dokumentieren, und Frasers eigener Erzählung. Fraser stellt Recherchen über die Hintergründe des Anschlags an und versucht durch seine Dokumentation, die Genealogie der Ideologie der rechtsradikalen Gruppe darzustellen und den biographischen Hintergrund der Figuren zu vermitteln. (Colclasure 1999:109)

Es ist nicht ganz abwegig zu glauben, dass das Massaker sogar vom Fernsehsender selbst organisiert, oder zumindest vorher gewusst wurde, auch wenn sich das wie eine Verschwörungstheorie anhört und nie wirklich bewiesen wird. So sagt der Journalist z.B.: „Ich konnte doch nicht das von uns selbst organisierte europäische Medienereignis Opernball mit Bildern von Straßenschlach­ten versauen.“ (401) Zudem fällt ihm auf, dass er, der sonst als Kriegs- und Katastrophen­bericht­er­statter arbeitete, nun mit einem Male ein Gesellschaftsereignis filmen sollte. Seine eigentliche Stärke als Reporter ist etwas anderes: „von mir wollte man den wirklichen Krieg in Großaufnahme.“ (163)

Es geht der Bewegung der Volkstreuen darum, die gegenwärtige Regierung zu diskreditieren, und zu zeigen, dass sie ihrem Auftrag, das Land vor Gewalt zu schützen, nicht nachkommt:

Dieser Anschlag auf die europäische Elite soll in den Augen der Täter nicht lediglich der Öffentlichkeit ein tiefes Mißtrauen gegenüber der österreichischen Führung zeigen, sondern auch auf eine der österreichischen Gesellschaft drohende Gefahr hinweisen und schließlich die Vertreibung aller Ausländer aus Österreich bewirken. (Colclasure 1999:109)

Zu den Gästen und Opfern des Opernballs gehören allerdings auch die Führer der neuen Rechten in Italien und Frankreich, – Alessandra Mussolini und Jacques Brunot – eingeladen von Jup Bärenthal, dem Chef der Nationalen Partei Österreichs. Das war durchaus bekannt, denn „Die Zeitungen schrieben nur noch über dieses Gipfeltreffen rechter Führer beim Opernball.“ (93)12

Es ist kein Zufall, dass der Führer der Gruppe Bewegung der Volkstreuen, der Geringste, Priester werden wollte, „dann Missionar, schließlich Prälat. Der Abt des Stiftes Krems­münster wurde sein großes Vorbild.“ (28) Und dieser Abt vertritt Auffassungen, die weniger mit der katholischen Kirche zu tun haben, sondern eher sektenhaft wirken. Dass es die Beziehung zwischen dem Katholizismus und dem Nationalsozialismus gibt, bezeugt Hitler selbst in ›Mein Kampf‹ (1943: Bd. I, 3f.): Da ich in meiner freien Zeit im Chorherrenstift zu Lambach Gesangsunterricht erhielt, hatte ich beste Gelegenheit, mich oft und oft am feierlichen Prunke der äußerst glanzvollen kirchlichen Feste zu berauschen. Was war natürlicher, als das, genau so wie einst dem Vater der kleine Herr Dorfpfarrer nun mir der Herr Abt als höchst erstrebenswertes Ideal erschien.“

Die Kultur dieses Klosters wird dem Geringsten zum Vorbild seiner nationalen Auffassung von Kultur:

In der zwölfhundert Jahre alten Beständigkeit von Kremsmünster mag der Geringste schon in früher Jugend eine Vorbereitung für eine seiner späteren Hauptideen er­fahren haben, für das heilige Anspruchsrecht der eigenen Kultur.” (31)

Diese Kultur, meint er, kann nur bestehen, wenn sie verteidigt wird:

Was in den Bibliotheken überdauert, hängt nicht von Papierqualität ab, sondern darüber wird draußen mit Feuer und Schwert entschieden. Nur über den Scheiter­haufen verbrannter Hexen und geköpfter Häretiker konn­te die Mönchs­kultur ihre Reinheit bewahren.“ (31)

Damit wiederholt er ähnliche Aussagen des Venezianischen nationalistischen Demagogen in Michael Dibdins Roman Dead Lagoon: „There can be no true friends without true enemies. Unless we hate what we are not, we cannot love what we are.“ (zit. Huntington 1996: 20; vgl. Carl Schmitt)

Dieser Abt vertritt einige eigenartige Auffassungen, die nicht mit der Lehre der katholischen Kirche vereinbar sind:

Der Abt von Krems­mün­ster hatte sich … als Verehrer von Judas Ischariot zu erkennen gegeben. Judas sei der wahre Held des Christentums. Er habe sich geopfert, um das Erlösungswerk zu ermöglichen, da Jesus schwach ge­worden sei und, anstatt sich freiwillig zu stellen, verzweifelt zu beten angefangen habe. (29)13

Danach sei Judas nichts anderes übrigge­blie­ben, als Selbstmord zu begehen. Für die Anhänger von Jesus sei er zum Verräter geworden, zum Hassenswertesten, was denkbar ist.

Niemand werde so gehasst wie ein Verräter, weil niemand die eigenen Fähig­keiten und den eigenen Weg so sehr in Frage stelle, weil niemand einem die eigene Unfähigkeit und den eigenen Irrweg so drastisch vor Augen führe. In Wirklichkeit habe Judas, so sei der Abt von Kremsmünster im Privatgespräch nicht müde geworden zu betonen, das Erlösungswerk ge­rettet. Er habe, unter Preisgabe seiner Zukunft, sich selbst zum Werkzeug der Heilsgeschichte gemacht. Die kleine Christenschar mit ihren revolutionären Ideen wäre ver­schwunden wie Hunderttausende andere Sekten der Welt­geschichte, hätte Judas nicht den Anstoß dafür gegeben, daß die Bekenner nicht nur mit Wasser, sondern auch mit Blut getauft wurden. Große Ideen verlangen ihren Blut­zoll, sonst gehen sie unter. (29)

Nach außen hin gibt der Geringste sich bescheiden:

Der Geringste, wiewohl er uns jede Bemerkung, die ihn über andere gestellt hätte, strikt verbat, war kein Gewöhn­licher. Gerade weil wir das nicht sagen durften, war es um so augenscheinlicher. Er war anwesend wie niemand sonst. Man spürte ihn, wenn er eintrat, auch wenn man nicht hinsah. Wenn er zu reden anfing, verstummten alle. Nie­mand hat ihn zum Führer gemacht. Er war es einfach. Auf ihn haben alle gehört. Oft brauchte er nicht einmal etwas zu sagen. Man hat ihm in die Augen gesehen und verstan­den, was er meinte. Alles teilte sich aus seinen Augen mit. (23)

Der Geringste wohnt im Lerchenfelder Gürtel in einem Kellerabteil zwischen Serben, Bosniern, Somaliern, Rumänen, Angolesen, Ägyptern und Arabern (38)

Sein Hass auf das Fremde begründet er mit dem Spruch: „Jede Kultur hat das Recht auf ungestörte Entwicklung, jede Kultur hat das Recht auf Reinheit.“ (22)14 Der Polier, einer seiner Anhänger, sagt über ihn: „Joe hat recht gehabt. Man muß sie solange ausräuchern, bis wieder unsere Leute angestellt werden.“ (81) Seine Anhänger schimpfen über die Ausländer (76) –

In der Anfangseuphorie der Öffnung des Eisernen Vorhangs hatte es einen unkontrollierten Flüchtlingsstrom aus osteuropäischen Ländern gegeben. Er war, als man die Grenze – nunmehr von der Westseite – wieder geschlossen hatte, von Kriegsflüchtlingen aus Jugoslawien abgelöst worden. Bis man auch diesen den Zutritt in das Land ver­wehrte… die meist in engsten Raumverhältnissen zusammen­gedräng­ten Ausländer stießen auf eine wachsende Feindlich­keit der einheimi­schen Bevölkerung. (167)

Diese Gemeinschaft verhält sich wie eine Sekte, sie ist ein sozialisiertes Wahnsystem,

in ihr herrscht eine eigene Realität, die von außen betrachtet als wahnhaft, illusorisch erkennbar ist, von innen aber als die einzig wahre Wirklichkeit erscheint – wie in einem psychotischen Wahn, mit dem Unterschied allerdings, das die Realitätskonstruktion der Sekte eine soziale und nicht bloß psychische ist, mit der Konsequenz eines größeren alloplastischen und insbesondere sozialen Wirkungspotenzials. (Stulpe 2010: 177)

Auch hier zeigt sich wieder, dass Religionen und religionsartige Ideologien den Menschen eine Identität geben, die auf der grundlegenden Unterscheidung zwischen Gläubigen und Ungläubigen, zwischen einer überlegenen Ingroup und einer inferioren Outgroup beruht. (vgl. Huntington 1996: 97) Da säkularisierte Theologien wie der Marxismus viel von ihrer Anziehungskraft verloren haben15, werden sie durch andere ähnliche ersetzt, die ein gewalttätiges Ende der Welt vorhersehen, von dem die Anhänger der Sekte aber als einzige ausgenommen sind16. Die Auserwählten träumen von einer Utopie unter einem Führer oder Erlöser. (vgl Thorpe 2015: 92) Solche fundamentalistischen Bewegungen dienen dazu, mit der Erfahrung des Chaos, des Identitätsverlustes, des Sinns und sicherer sozialer Strukturen fertig zu werden. (vgl Huntington 1996: 97) Endres (1994: 54) verweist in diesem Zusammenhang auf die Momente des Wahnhaften in der Sprache. Um die Bindung zwischen charismatischem Führer und seiner Gefolgschaft zu erläutern, verweist Stulpe (2010:186) auf das Konzept der ›Spiegelübertragung‹, das er mit dem Narzissmus in Verbindung bringt, und auf Kohut, der die Spie­gel­über­tragung im klinischen Kontext als

die therapeutische Wiederbele­bung jenes Aspektes einer Entwicklungsphase […] in der das Kind ver­sucht, den ursprünglich allumfassenden Narzissmus dadurch zu erhalten, dass es Vollkommenheit und Macht in das Selbst verlegt – hier das Größen­-Selbst genannt – und sich verächtlich von der Außenwelt abwendet, der alle Unvollkommenheiten zugeschrieben werden.

Der Roman Opernball beginnt und endet mit zwei fiktionalen Zeitungsartikeln über Reso Dorf, der Polizeichef von Wien. Im ersten Artikel, “Reso Dorf bleibt ein Bauernführer,” spricht Dorf zu den neuen Polizeianwärtern über die Täter: „Die spritzen wir, wenn sie übermütig werden, von der Straße” (7) und „Die treiben wir über die Donau” (7). Dorfs Rhetorik erinnert an die nationalsozialistische Ideologie und an Aussagen von Jörg Haider, den Anführer der Freiheitlichen Partei Österreichs. In seiner “entschlossenen und volkstümlichen Sprache,” zeigt er sich als rassistisch: “Bis uns plötzlich das Land verging, als sich herausstellte, daß in diesem Dschungel von Halbaffen, Ratten und Schmeißfliegen die gefährlichsten Täter herangereift waen, die unser Land bisher gesehen hat”. Dorfs Ansprache findet zudem am Heldenplatz statt. Hier zeigt sich, dass die Auserwählten nicht nur eine kleine Gruppe von Spinnern sind, sondern dass ihr Gedankengut bis in die höchsten Regierungskreise verbreitet ist. Damit hat Haslinger aus dem Roman über eine Gruppe von fanatischen Außenseitern einen Roman über den schleichenden Rechtspopulismus des Staates gemacht. (vgl. Souchuk 2013: 73f.)

Bibliografie

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Stulpe, A. Gesichter des Einzigen. Max Stirner und die Anatomie moderner Individualität. Berlin: Duncker und Humblot 2010

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1 „Sowohl als gelungene Mischung aus Kolportage und gesellschaftskritischem Anspruch gelobt als auch als sensationslüsternes Machwerk verworfen, nimmt Josef Haslingers Opernball zweifellos eine besondere Stellung in der zeitgenössischen österreichischen Literatur ein.” (Colclasure 1999:109)

2 Üblicherweise am letzten Donnerstag vor dem Aschermittwoch. Der Opernball ist mit rund 5000 Gästen der größte Treffpunkt Österreichs für Kulturschaffende, Unternehmer und Politiker aus dem In- und Ausland. Inklusive Mitwirkenden und Mitarbeitern des Hauses bevölkern am Ballabend rund 7000 Menschen die Staatsoper. Die Ballbesucher und der Werbeeffekt für den österreichischen Tourismus haben sich auch zu einem Wirtschaftsfaktor in Wien entwickelt. Rund 4.700 Personen kommen jedes Jahr zum Ball nach Wien, wovon etwa die Hälfte aus dem Ausland kommt. 180 Paare aus dem In- und Ausland eröffnen den Ball.

3 Oswald Spengler (1920: 26) über diese Dreiteilung der Geschichte: „Man war, ohne es auszusprechen, der Meinung, daß hier jenseits von Altertum und Mittelalter etwas Endgültiges beginne, ein drittes Reich, in dem irgendwie eine Erfüllung lag, ein Höhepunkt, ein Ziel, das erkannt zu haben von den Scholastikern an bis zu den Sozialisten unserer Tage jeder sich allein zuschrieb. Es war das eine ebenso bequeme als für ihren Urheber schmeichelhafte Einsicht in den Lauf der Dinge. Man hatte ganz einfach den Geist des Abendlandes mit dem Sinn der Welt verwechselt.“

4 Durch Vermittlung des Architekten Paul Schultze-Naumburg traf der inzwischen bekannte Autor Darré im Frühjahr 1930 Hitler und erhielt das Angebot, eine der bäuerlichen Welt gewidmete Abteilung der NSDAP zu leiten. Im Juli 1930 trat Darré der NSDAP und der SS bei.

5 Ab 1920 trug Rosenberg mit zahlreichen rassenideologischen Schriften erheblich zur Verschärfung des Antisemitismus in Deutschland bei. Als Leiter des Reichsministeriums für die besetzten Ostgebiete verfolgte er im Rahmen seiner Ostpolitik das Projekt der Germanisierung der besetzten Ostgebiete bei gleichzeitiger systematischer Vernichtung der Juden. Rosenberg wurde im Nürnberger Hauptprozess als Hauptschuldiger der NS-Kriegsverbrechen angeklagt, in allen vier Anklagepunkten für schuldig befunden, zum Tode verurteilt und hingerichtet.

6 In Anlehnung an die Naturphilosophie von Arthur Schopenhauer sah Rosenberg den „Willen“ keiner Moral untergeordnet; wenn ein starker Führer entsprechende Befehle gebe, könnten diese ausgeführt werden. Damit ebnete er den Weg zum nationalsozialistischen Weltbild und einem Handeln, in dem andere Völker unterdrückt und eine „reine“ Rasse gezüchtet werden sollte. Rosenbergs Rassendoktrin, die er auf dem Hintergrund seiner Christentums- und Kirchenkritik skizzierte, rief zahlreiche kritische Reaktionen hervor. Während der evangelische Theologe Walter Künneth im kirchlichen Auftrag eine umfangreiche Widerlegung schrieb, orientierte sich der protestantische Jenaer Theologieprofessor Walter Grundmann an der Forderung Rosenbergs nach einer „Germanisierung“ des Christentums und gründete das Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben. „Rasse“ stellte sich Rosenberg als eigenständigen Organismus mit einer kollektiven Seele, der „Rassenseele“, vor; alles Individuelle wollte er unterdrückt wissen. Die einzige Rasse, die in der Lage sei, kulturelle Leistungen hervorzubringen, ist nach Rosenberg die „arische Rasse“. Im Gegensatz zur jüdischen Religion, die Rosenberg als teuflisch ansah, wohne den „Ariern“ etwas Göttliches inne. Jesus Christus wurde in Rosenbergs Buch zu einer verklärten „Verkörperung der nordischen Rassenseele“. Somit könne seiner Meinung nach Jesus kein Jude gewesen sein. Die Ehe sowie Geschlechtsverkehr zwischen „Ariern“ und Juden seien zudem unter Todesstrafe zu stellen.

7 “This fellow was part of a group assembled by a charismatic monomaniac whose Christ-like humility fronts for the hubris of a Hitler and who, accordingly, derives his mission from the Bible and Mein Kampf. This ‘least of all men,’ as he calls himself, and his ‘chosen’ claim not to be Nazis but share their symbols, practices, and goals. They too want to cleanse their country of all those ‘lesser’ foreigners, and they ritually beat up men they take as such and brutalize even more viciously the women associated with them.” (Zimmermann, 1995:. 780) Der Geringste zu den Nazis: “Ihr seid primitive Trottel. Mit euch will ich nichts zu tun haben.“ (90)

8 “The narrator is a former BBC television journalist, Kurt Fraser, the son of a Jewish refugee from the Vienna of 1939 who has come here in charge of covering the opera ball for a new private European TV network. Because his son was killed working for him as a cameraman there, Fraser tries to piece together how this mass murder came about. Intertwined with his own story there are thus transcriptions of interviews with survivors, a policeman on the scene, and one of the presumptive perpetrators.” (Zimmermann 1995: 780)

9

We learn that Fraser is Jewish (his real name is Finkelstein), and that his grandparents, Viennese Jews, were murdered in Auschwitz. His father managed to escape the Nazis, served in the British Army during the war, and was a member of the contingent that freed the concentration camp of Bergen-Belsen. His father then became a professor of German literature in England but refusal to return to Austria until 1995, when the government invited him to give a speech at a ceremony honoring exiles and emigres as part of the celebration commemorating fifty years of Austrian statehood. Kurt’s estranged son, Fred, was a junkie in London and believed, in his drug induced states, that he was being hunted by Nazis. Fred is only cured of his addiction by a two-month stay in a camp in northem New Mexico run by the Mormon Church. Shortly after his recovery he is gassed to death in the opera by Nazi-like extremists.” (Acker 1999: 102)

10 “In the final count, the dead include the Austrian president, the Austrian chancellor, various other members of the federal government, and, among the murdered civilians, Fred Fraser, a cameraman for the fictional company European Television and the son of Kurt Fraser, the novel’s protagonist. We meet Kurt, also a journalist and cameraman, as he sits in his news van outside the ball, watching (along with all of Europe) the transmission of his son’s slow asphyxiation.” (Souchuk 2013: 73)

11 “The bulk of die novel consists of transcripts of fictive tape recorded interviews conducted by a T.V. journalist. These interviews are linked together by the first person narration of this journalist, who has lost his son in the massacre and who tries to come to an understanding of how such a tragedy could take place and what effect it has on society. The individuals he interviews were either directly involved with the planning, had some knowledge of the terrorists, or somehow managed to miraculously escape the carnage.” (Acker 1999 : 101)

12 “These works satirize contemporary Austria and its modes of selfidentification and self-presentation and target the tourism industry to varying degrees. Inherent in this criticism is an examination of history and Austrian attitudes toward certain historical moments, some still celebrated in the present, others relegated to a collective amnesia.” (Souchuk 2013: 72)

13 Rassisten allerdings sehen Judas immer noch anders, nämlich als Verräter: White Nation vom 2. Januar 2017 spricht von den „white liberal traitors“ in Südafrika und stellt in einem Bild Judas als White Liberal und Jesus als White SA dar.

14 “In this new World the most pervasive, important, and dangerous conflicts will not be between social classes, rich and poor, or other economically defined group, but between people belonging to different cultural entities.” (Huntington 1996: 28)

15 “people see communism as only the latest secular god to have failed” (Huntington 1996;100)

16 Huntington (1996: 114) verweist auf den politischen Islam, der einige Ähnlichkeit mit dem Marxismus aufweist.