Wissenschaft und Selbstermächtigung von Afrikanern

Das Interview von Martin Auer mit David Simo entstand während des Aufenthaltes von Martin Auer anlässlich der Konferenz zu den Kulturwissenschaften in Yaounde, die David Simo organisierte. Ediert wurde es in der Tradition von TRANS durch Herbert Arlt.

Auer: Mich hat bei Ihrem Einführungsvortrag die Frage der victimization sehr interessiert. Und Sie mussten dann leider Ihren Vortrag etwas kürzen und zur Überwindung der victimization sind Sie nicht wirklich gekommen. Aber das hätte mich eigentlich interessiert, wie man diese überwinden kann. Denn ich glaube auch in Europa in – sagen wir – liberalen oder linken Kreisen sieht man Afrika immer noch hauptsächlich als Opfer der Kolonisierung und des Imperialismus und hat eigentlich die Tendenz, Afrika in einer passiven Rolle zu sehen und nicht so sehr in einer aktiven.

Simo: Bevor ich auf Ihre Frage antworte, müssen wir uns fragen: Was ist schlecht daran, dass Leute so ein Opferbewusstsein entwickeln? Kritische Stimmen in Afrika meinen, dadurch beraubt man sich selber der Mittel, sein eigenes Leben in die Hand zu nehmen. Wenn man nun von der Idee ausgeht, dass andere das eigene Leben gestalten, Kräfte, die jenseits unserer Kontrolle sind, eigentlich die Oberhand über unser Schicksal haben, dann – wie gesagt – gerät man in eine Situation, in der man selbst akzeptiert, dass man keine Initiative ergreifen kann, dass man seinem Leben keine Wende geben kann, keinen eigenen Sinn verleihen kann. Das ist es, was problematisch daran ist. Das heißt, wir müssen von dieser psychologischen und philosophischen Perspektive an dieses Problem des Opferbewusstseins herangehen, um zu sehen, ob es Leute zu etwas befähigt, ob es ihnen zu etwas verhilft, oder ob es im Grunde eher sie weiterhin entmachtet. Das ist die Grundfrage, die viele Kritiker stellen.
Andererseits soll das nicht bedeuten, dass die Wunden der Geschichte nicht deutlich untersucht werden sollen, und dass auch die Verantwortlichen für diese Wunden nicht deutlich benannt werden sollen. Das ist natürlich immer das große Problem, weil manche die Überwindung des Opferbewusstseins als eine bestimmte Amnesie betrachten gegenüber allem, was einem zugestoßen ist. Nein, so meinen wir es nicht. So meine ich es nicht, und nicht diejenigen, die im Grunde die Kultivierung des Opferbewusstseins bekämpfen. Wir meinen vielmehr, dass die Geschichte ganz genau untersucht werden soll, dass man natürlich auch strategisch – das muss ich deutlich sagen – diese Geschichte und das Geschehene nutzen soll, um andere Leute unter Druck zu setzen. Da gibt es für mich auch wirklich kein Problem. Auch diejenigen, die meinen, Reparationen müssen sein – dagegen habe ich nichts. Wogegen ich aber bin ist die Art zu denken: weil es die Geschichte gegeben hat, passiert heute nichts mehr, da gibt es heute keinen Handlungsspielraum. Wir meinen, auch damals hat es Handlungsspielräume immer gegeben. Viele haben diesen Handlungsspielraum benutzt und trotz Sklaverei, trotz Kolonisation ist Afrika nie das geworden, was andere wollten. Es ist unter Umständen vorangetrieben worden, die historisch bekannt sind, aber das, was aus Afrika geworden ist, ist nicht unbedingt das, was andere mit Afrika machen wollten.

Auer: Also geht es hauptsächlich um einen Bewusstseinsprozess?

Simo: Verstehen Sie, es geht um Vieles. Es geht zunächst um eine gute Nutzung der Geschichte. Ich sage ganz deutlich: Die Geschichte strategisch gegen manche Leute zu nutzen, stört mich überhaupt nicht. Denn wenn Leute meinen, Europa oder europäische Länder unter Druck setzen zu wollen, damit sie Reparationen für getanes Unrecht bezahlen, gut, ich halte das für nicht so entscheidend, aber gleichzeitig versteh ich das. Wenn draus etwas werden kann, warum nicht?
Was ich anspreche, das ist viel mehr die Psychologie, die man entwickeln muss, erstens, damit sich die Geschichte nicht wiederholt, damit eben die Situation, die damals erlebt wurde, sich nicht wiederholt. Und zweitens: das ist eine Einstellung, eine geistige Einstellung, mit der man sich dessen vergewissert, dass man viel kann, dass man viel muss, und dass man viel erreichen kann, aber dass man sich dafür die Mittel geben muss. Die Mittel sind zunächst Wissen, die Mittel sind Phantasie, die Mittel sind Macht. Wie kann man sich Macht zulegen? Daran arbeiten wir als Wissenschaftler.

Auer: Wie schaut das konkret aus? Wo passiert das? An den Universitäten, an den Schulen, in den Medien? Wo geschieht diese Selbstermächtigung?

Simo: Selbstermächtigung, das ist ein gutes Wort, in der Tat. Wo geschieht das? Das geschieht natürlich in der Schule, aber ich bin nicht sehr glücklich über die Art und Weise, wie eine solche Selbstermächtigung in der Schule gefördert wird. Das geschieht natürlich an der Uni, das geschieht überall im Grunde, wo Afrikaner kreativ werden, wo sie sich Wege in die Zukunft denken, wo sie Stücke der Wirklichkeit in ihrem Sinne verändern, überall da. Das heißt also im pädagogischen Prozess, aber auch in der Handlung. Denn durch das Handeln verändert man sich selber, und verändert auch die anderen Menschen, wenn man am Beispiel zeigt, dass hier etwas getan wird.

Auer: Haben Sie konkrete Beispiele?

Simo: Ja, ich hab konkrete Beispiele. Wissen Sie, es hat einmal Zeiten gegeben, als darüber diskutiert wurde, wieviel Prozent ausländische Musik im kamerunischen Rundfunk ausgestrahlt werden soll. Inzwischen gibt es diese Frage nicht mehr. Es gibt so viel gute kamerunische Musik, dass keiner auf die Idee kommt, ausländische Musik auszustrahlen. Das heißt, sie wird ausgestrahlt, aber das ist dann prozentual wirklich sehr gering. Ohne dass man irgendwelche Maßnahmen ergreifen musste. Die Rundfunkanstalten haben einfach eine Fülle von Musik verschiedener Richtungen, die von Afrikanern, Kamerunern, geschaffen wird. Das meine ich.

Auer: Das wäre eine interessante Untersuchung – warum das in Kamerun möglich ist und in Österreich nicht.

Simo: Sie müssen einfach eine bessere Alternative zur amerikanischen Musik anbieten. Genau das ist passiert. Ich kann wirklich sagen, wenn sie einen Rundfunksender hier aufdrehen, dann werden Sie sofort merken: ganz natürlich wird kamerunische Musik gespielt, dafür hat man keine offizielle Maßnahme treffen müssen.

Auer: Apropos offizielle Maßnahmen: Es hat ja kürzlich einen Eklat gegeben um eine Nummer des Rappers Franko, die der Präfekt einer Provinz verboten hat.

Simo: Ja, Coller la Petite, Sie haben davon gehört. Natürlich, wenn die Musikszene so lebendig ist, dann entstehen verschiedene Richtungen und unterschiedliche Vorstellungen von Moral. Darum ging es: Manche meinen, das wäre wirklich moralisch nicht zuzulassen. Aber inzwischen – gestern – hab ich eine Antwort auf dieses Stück von einer Frau gehört, denn in der Tat, in dieser Musik ist das Patriarchalische, ein bestimmtes Männerbewusstsein, wo Frauen sozusagen zu Objekten degradiert werden. Und gestern hörte ich ein Stück – auch sehr schön, ich bin sicher, das wird auch Erfolg haben – das auf eben dieses Stück geantwortet hat. Da singt eine Frau: Wir sind auch hier, um uns zu amüsieren, aber doch nicht, um belästigt zu werden.
Da ist in der Tat ein sehr lebendiges Feld, wo wir schon alles haben, auch anspruchsvolle Musik. Was Bona macht ist anspruchsvoll, aber ist heute populär, es wird auch von kleineren Leuten gehört.

Auer: Bona? Lebt der nicht in Frankreich?

Simo: Richard Bona lebt in Amerika. Er hat vor Kurzem gesagt, er kommt nie mehr nach Kamerun, aber das ist eine andere Sache.

Auer: Ist das noch Pop, was er macht?

Simo: Es ist immer schwierig zu sagen, was Pop ist. Ich glaube, ihm ist es auch egal. Man kann sagen, es ist Jazz, na ja, man kann es so nennen, wie man will.

Auer: Diese Überwindung der victimization, hat das auch zu tun mit dem Anknüpfen an die vorkoloniale Geschichte und an vorkoloniale Traditionen?

Simo: Selbstverständlich gibt es viele Strategien, die verfolgt werden, und darunter natürlich auch im Kontext der Idee, dass mit der Kolonisation vieles verloren gegangen ist und dass es vielleicht notwendig wäre, wieder anzuknüpfen an dem, was vorher war, vor der Kolonisation, an die Kultur, die dabei verloren ging, an die Lebensart, die dabei verloren ging. Selbstverständlich ist dieses Opferbewusstsein immer gepaart mit einer bestimmten Nostalgie nach einer Zeit, die keiner im Grunde kennt. Und daher lästert ein Philosoph aus Ghana: “Sind Sie sicher, wenn Sie zurückversetzt werden in diese Periode, dass Sie wirklich dort leben wollen?”

Auer: Also wird das schon auch romantisiert?

Simo: Sehr stark romantisiert und mythisiert! Ja, viele leben praktisch in ihrer Denkweise davon.

Auer: Ich habe gestern mit einem jungen Kollegen, mit einem Ihrer Doktoranden gesprochen. Er hat mich gefragt, wie der Ausflug nach Mefou war, und ich hab ihn gefragt: Waren Sie auch schon einmal dort? Und er hat gesagt: Nein, das brauch ich nicht, ich lebe auf einem Dorf und ich hab sowieso immer Elefanten und Giraffen und so um mich. Und er hat gemeint, er würde eigentlich lieber auf dem Dorf leben, wenn das Dorf nur ein bisschen modernisiert werden könnte. Dass dann auch nicht so viele Leute vom Dorf in die Stadt ziehen würden.

Simo: Na ja, Tatsache ist, die Stadt ist wirklich sehr, sehr anziehend, das muss man erkennen, wenn man sieht, wie viele Tausende jedes Jahr in die Stadt strömen, das ist klar. Aber natürlich ist die Stadt auch so anziehend, weil die Stadt besser versorgt wird mit vielen Sachen, weil viel mehr in die Stadt investiert wird als in die Dörfer. Und da streben natürlich viele auch nach einem besseren Leben und dieses bessere Leben denken sie in der Stadt vorzufinden. Der junge Mann, mit dem Sie gesprochen haben, ist sicherlich so einer, der dachte, das gute Leben ist in der Stadt, aber in der Stadt müssen sie merken, wie viel Stress man erdulden muss, wie hart das Leben letzten Endes ist, und daher kann er nun davon träumen, dass er wieder zurück in sein Dorf kehrt, aber vorausgesetzt, er muss nicht auf alle diese Bequemlichkeiten verzichten, die ihn in die Stadt gezogen hatten, und die er gelernt hat in der Stadt zu genießen. Das sind die Widersprüche, in denen wir hier leben.

Auer: Wie sieht’s mit den anderen kulturellen Formen aus: Film, Theater, Literatur etc.?

Simo: Das ist eine sehr gute Frage. Vorhin habe ich von der Musik gesprochen und davon, dass keiner heute irgendwelche Proporzpolitik zu betreiben braucht in Bezug auf Musik, aber was Film betrifft ist es längst noch nicht der Fall. Hollywood ist hier noch stark präsent in der Filmszene, aber seit es Nollywood gibt, geht auch in diesem Bereich der Konsum langsam eher auf afrikanische Filme.

Auer: Nollywood ist die nigerianische Filmproduktion.

Simo: Richtig, das ist die nigerianische Filmproduktion, die glaube ich, fast so viel wie Bollywood – d. h. die Indische – jährlich an Filmen produziert. Denn das ist einfach sehr beeindrucken, was sie da produzieren. Es gibt inzwischen in der Subregion mindestens drei Sender, die ausschließlich afrikanische Filme ausstrahlen. Aber bei den großen Sendern ist es immer noch so, dass viele Filme aus Hollywood kommen. Aber, wie gesagt, auch da ändert sich die Lage.
Sie sehen also: Anstatt in seiner Ecke zu sitzen und zu lamentieren über die Überfremdung durch die Amerikaner und so weiter und so fort, da haben die Leute begonnen ihre eigenen Filme zu drehen, zunächst ihre eigene Musik zu spielen, und jetzt hört die Bevölkerung lieber ihre Musik, und auch beim Film ist es schon so weit, dass zwar die Kameruner sich große Blockbuster aus Hollywood, aber im Grunde sich lieber einen Film aus Nigeria anschauen. Inzwischen gibt es auch ein paar Serien, die in Kamerun gedreht werden. Neben Nigeria gibt es inzwischen auch als große Produktionszentren Ghana – und es breitet sich aus.

Auer: Aber ‘Nollywood’ klingt jetzt doch so, als wäre das doch eine eher seichte Massenproduktion. Ist das so?

Das ist auch so wie Sie sagen, klar, das ist Massenproduktion, das muss ich zugeben, wo handwerklich nicht immer so gut wie die Hollywoodproduktionen und auch von der Imagination her nicht immer so mächtig, aber gut, das ist vergleichbar mit Serienprodukten aus Hollywood.

Auer: Na ja, ich habe manchmal den Eindruck, das, was da aus Hollywood kommt, ist alles für Kinder gemacht.

Simo: Es gibt auch erwachsene Kinder. Aber gleichzeitig muss ich sagen, das Problem vielleicht mit dem europäischen Film – vielleicht auch mit der europäischen Musik, aber da bin ich vorsichtiger, denn ich kann das nicht so richtig beurteilen –, aber beim Film kann ich deutlich sagen: Das große Problem mit dem europäischen Film ist, dass man denkt, es muss für Intellektuelle gedreht werden, und die Bevölkerung geht dann nach Hollywood.

Auer: Ja, das trifft, glaube ich, vor allem für den deutschsprachigen Film zu.

Simo: Richtig!

Auer: Die Franzosen verstehen es sehr gut, anspruchsvolle Filme zu machen, die schon auch eine Breitenwirkung ermöglichen, die auch sehr unterhaltsam sind.

Simo: Auch die Italiener vermögen das.

Auer: Und wie sieht’s mit der Literatur aus?

Simo: Mit der Literatur ist es wirklich ein bisschen komplizierter. Damit eine Literatur gedeiht, sich entwickelt, bedarf es dreierlei. Erstens: Leser. Leute müssen die Literatur lesen. Zweitens: Kritiker. Also Leute müssen durch verschiedene Kanäle und Massenmedien mit dieser Literatur in Kontakt treten. Und drittens muss es sozusagen eine bestimmte Kultur, eine literarische Kultur geben, in deren Rahmen über Literatur gesprochen wird, wo auch im Alltag im Gespräch zwischen Einzelnen Literatur als wichtiges Medium fungiert, dass die Literatur als Thema von Gesprächen, auch von privaten Gesprächen, aber auch dass Literatur als Vermittler von Bildern von Sprachen fungiert. Und das ist nicht so ganz der Fall. Keine dieser Bedingungen in Afrika treffen richtig zu. Es gibt weder wirklich ein Publikum, lesendes Publikum, noch, sagen wir, Kritiker und Kanäle der Diffusion von Literatur oder der Vermittlung von Literatur, noch wirklich eine literarische Kultur, wo Literatur zu einem Thema von Alltagsgesprächen und -unterhaltungen, auch privaten, wird. Das alles fehlt. Und das ist schade, weil es inzwischen relativ gute Schriftsteller gibt, die inzwischen mehr im Ausland gelesen werden als im eigenen Land. Ja, das ist Tatsache.

Auer: Es gibt ja nicht nur eine geschriebene Literatur. Man zählt ja auch Folklore, Epen usw. zur ‘oralen Literatur’, was natürlich ein begrifflicher Widerspruch ist. Aber es gibt natürlich einen Zusammenhang, denn es gibt nun einmal eine gesprochene Lyrik und es gibt eine aufgeschriebene Lyrik und so weiter. Und es gibt eben Erzählungen, die mündlich erzählt wurden und solche, die aufgeschrieben wurden. Und mir ist aufgefallen, dass es jetzt mit den neuen Medien und vor allem mit dem Internet ganz neue Möglichkeiten für orale Literatur gibt. Zum Beispiel hab ich gemerkt, auf YouTube gibt’s aus Kenia ganz viele Videos, wo jemand ein Gedicht vorträgt, und zwar in einer der Nationalsprachen also nicht auf Englisch und auch nicht auf Kisuaheli sondern auf Luo und Kikuyu und so weiter. Ich kann das nicht verstehen, deswegen kann ich auch nicht die Qualität davon beurteilen, und ich weiß auch nicht, wie das entstanden ist, aber das scheint in Kenia eine gewisse Breitenwirkung zu haben, so dass nicht nur Musikvideos sondern auch Poesievideos auf YouTube gestellt werden.

Simo: Gut, ich muss wirklich zugeben, dass ich da in diesem Bereich nicht genug informiert bin, aber ich meine, wenn es wirklich so was in Kamerun gäbe, würde ich davon gehört haben, auch wenn ich kein Besucher von YouTube bin, irgendwie hätte ich das so oder so mitbekommen. Was ich aber merke – bei meinen Kindern, bei meiner Frau, die sehr android sind – und ab und zu zeigt sie mir lustige Szenen von einer Frau, die nun mal gegen Männer polemisiert, oder was weiß ich, solche Szenen, aber bewusst als literarische Stücke inszeniert, da bin ich wirklich nicht informiert. Ich sage nicht, dass es das nicht gibt, aber ich bin nicht informiert. Aber ich vermute, das ist nicht so entwickelt, wie das möglicherweise in Kenia der Fall ist. Und daher in Bezug zur mündlichen Literatur kann ich sagen – die mündliche Literatur war ja auch eine Form der Unterhaltung, die vor allem in dörflichen Umgebungen funktionierte. Aber seit es ganz andere Unterhaltungsmodi, Unterhaltungskanäle gibt, und die Unterhaltung jetzt in engere Räume von Wohnungen sich zurückgezogen hat, ist natürlich die mündliche Tradition stark geschrumpft. Nicht, dass es sie nicht gibt, aber sie ist sehr stark geschrumpft. Es gibt einige Versuche sie hie und da noch am Leben zu erhalten durch Initiativen, aber wie sie sehen, schon da ist klar, dass es nicht Teil des Lebens ist, sondern dass es etwas Organisiertes ist, und das hat nicht dieselbe Bedeutung, das ist klar. Und auch jetzt, wenn auf YouTube Gedichte vorgetragen oder Geschichten erzählt werden, da verstehen Sie wohl, das ist nicht vergleichbar mit der Situation, wo man unmittelbar mit seinem Publikum kommunizieren konnte, wo es ein bestimmtes Script gab, wo das Publikum wusste, dass hier, nachdem dies erzählt wurde, dann diese Wendung kommt, und so weiter, so dass die selber partizipierten und möglicherweise sogar antizipierten und so weiter, das ist ein ganz anderer Kommunikationsmodus als das, was nun im Internet heute geschehen mag. Und daher muss man wohl erkennen – es sei denn, dass es wirklich zu einer großen Veränderung kommt – man kann ja nie sagen, das ist unmöglich, inzwischen kann eine technische Entwicklung alles auf einmal verändern – man weiß ja wirklich nicht, in welche Richtung nun alle möglichen Geräte entwickelt werden – so muss man wirklich sagen, die Zeiten der oralen Tradition sind vorbei. Die Zeiten der mündlichen Performance sind vorbei. Nur im Westen von Afrika, wo es diese Tradition von Griots gibt, ist so etwas noch relativ lebendig. Aber so, wie ich es erlebt habe, verkümmert das trotzdem manchmal zur Folklore und gehört nicht richtig zum Leben. Auch wenn ich weiß, zu einer Hochzeit gehört in vielen Ländern in Westafrika doch noch ein Griot, und der muss ja noch unterhalten. Aber ich fürchte, er wird langsam auch dort verdrängt.

Auer: Aber aus den Griot-Familien sind ja sehr viele Musiker und Musikerinnen gekommen, die sich dann dem Jazz oder der Popmusik zugewandt haben, und da aber auch ihre Stile mit hineingenommen haben.

Simo: Das selbstverständlich. Wir sprachen ja vorhin von der österreichischen Musik. Sie müssen die Musik spielen, die die Leute hören wollen, und wenn die Ohren an – sagen wir – manchem Musikstil geschult sind, können sie sagen, das interessiert uns nicht. Entweder bieten Sie etwas, was auch vergleichbar ist, oder überbieten Sie das, und daher ist es unvermeidlich, dass die Präsenz, allein die Präsenz von etwas anderem rückschlagt auf das, was man selber vorträgt. Wenn man in der Reinheit der Gattung und der Performanceart bleiben wird, verdammt man sich wirklich zum Verschwinden. Da muss man verstehen, das Publikum ändert sich und man muss auch sich entsprechend ändern, sonst degradiert man sich zur Folklore oder zu was weiß ich noch. Insofern ist es normal, dass diese Griots inzwischen zu Jazzmusikern oder zu Popmusikern geworden sind. Aber eben: Sie werden hier nie diesen Begriff “Popmusik” hören! Das ist ein europäischer Begriff. “Jazz” werden Sie manchmal hören. Ansonsten werden Sie die verschiedenen Stile nicht benannt hören. Viele, vor allem jüngere, wissen nicht einmal, dass manche Stile überhaupt Mischungen sind. Für sie sind es genuine, rein afrikanische Stile. Nee, nee, das Bewusstsein, dass sich irgendwas da reingemischt hat, ist gar nicht vorhanden. Und die haben Namen dafür. Die unterscheiden da sehr unterschiedliche Stile.
Das ist das eine. Das zweite ist: Man muss bedenken – und ich habe versucht das in meinen Vortrag bzw. in meinem Diskussionsbeitrag deutlich zu machen -: Was ist Afrika? Die ganze Rumbamusik ist im Grunde nicht afrikanisch. Rumba kommt ja aus Lateinamerika. Aber wie kam Rumba nach Lateinamerika?

Auer: Das kam natürlich auch aus Afrika.

Simo: Und deswegen haben sich die Afrikaner so schnell wiedererkannt darin, und das so schnell adoptiert. Ich erkläre vielen immer: In der Kolonialzeit hier waren keine Südamerikaner. Es waren die Franzosen. Die französische Musik hat die Leute nur interessiert, wenn sie das irgendwie total umwandeln konnten in etwas anderes. Es gibt ja einiges, wo mir vor ein paar Jahren eine deutsche Frau sagte: Das ist ja Foxtrott – aber total unkenntlich gemacht. Ich sagte: Ja, das ist es. Das bedeutet: Diese jungen Leute, Bedienstete, die die Euroäer beobachteten, wie die sich amüsieren, und ihre Musik hörten, wiederholten das auf ihre Art dann bei sich zu Hause, und haben draus einen Musikstil gemacht, der bis heute existiert. Und stellen Sie sich mal vor: Wie nennt man diesen Musikstil bis heute? “Club”! Denn damals kamen die Europäer in Clubs, um Musik zu hören und zu tanzen. Und diese Musik heißt bis heute Club. Und diejenigen, die dieses “Club” spielen, wissen nicht einmal, woher das kommt, warum das “Club” heißen muss. Es gibt einige Sprüche, wo man merkt: Oh, das sind Sprüche, sie verstehen nicht einmal, was es bedeutet, aber man kann hören, woher das kommt. Das sind englische Sprüche, denn beim Tanzen gab man Order: Jetzt Partnerwechsel und so weiter. Jetzt kommt es noch vor, aber die meisten wissen nicht einmal, was das bedeutet. Aber diejenigen, die das sozusagen erfunden haben, wussten es. Dieser Stil ist praktisch marginal hier. Was zentral ist, das sind diese Stile, die aus Rumba, Merengue, Cha-cha-cha sich entwickelt haben. Und nur die allerwenigsten heute haben noch das Bewusstsein, dass es im Grunde diese Rhythmen aus Lateinamerika und aus der Karibik waren, die so adaptiert wurden, denn sie sind so adaptiert, dass alle denken, das kommt direkt aus unserer Folklore. Aber woher kam das? Von den Matrosen aus Lateinamerika oder der Karibik, die am Hafen ankamen und dann sehr oft da ihre Musik spielten. Leute haben sich das angehört. Das waren episodische Erscheinungen, sehr marginale Erscheinungen, aber gerade das hat Fuß gefasst und ist dann stilbildend geworden. Da muss man sich fragen, was das ist.
Das zweite ist die schwarzamerikanische Musik, die im Grunde auch eine bestimmte Richtung hier deutlich markiert hat, auch wenn viele die Beziehung überhaupt nicht mehr sehen, eben weil das so integriert wurde in die Spielweise hier, dass nur die allerwenigsten merken, dass es im Grunde aus Rhythm and Blues aus Amerika kommt. Aber da auch wieder kann man fragen, wieso haben sie sich genau das geschnappt? Eben, weil sie sich darin wiedererkannt  haben. Und da sieht man, wie die Geschichte komplex ist. Manche Leute haben sich besser in der Musik ihrer Vorahnen, wie sie sie in Amerika weiter- oder umgearbeitet haben, als in ihrer eigenen unmittelbaren Musik wiedererkannt, und sie adaptiert und weiter gepflegt. Und zwar sehr stark, mit neuen Instrumenten, die sie gar nicht kannten, aber die sie sehr schnell gemeistert haben. Gitarre zum Beispiel. Da staunt man, wie alle diese Leute kreativ wurden. Wer aber waren die? Das waren Köche, das waren Hausmädchen, was weiß ich noch, die da gearbeitet haben, die angefangen haben, mal aus ihren – ich sage nicht “Besitzern”, es war ja hier – ha ha – offiziell keine Sklaverei – ihren patrons, Instrumente gestohlen haben in ihrer Abwesenheit und sich daran gemacht haben, selbst zu musizieren. Und am Ende haben manche so gut gespielt, dass sie im Grunde die professionellen Musiker, die man aus Europa holen ließ, ersetzt haben. Ich sage Ihnen nur, es sind Prozesse im Gange, die nicht genug untersucht wurden, die deutlich machen, dass im Unterbewusstsein von Menschen unterschwellig so manche Patterns – ich weiß nicht, wie ich das auf Deutsch nennen würde – Patterns geblieben sind, die manchmal auch, nachdem sie nach Amerika gereist sind, hier wieder erkannt und wieder integriert wurden, musikalisch, meine ich. Deswegen meine ich, dass gerade die musikalische Szene so lebendig und reichhaltig ist und sich so ständig erneuert. Und Europa spielt dabei gar keine Rolle. Oder nur eine wirklich geringe, marginale Rolle.

Auer: Aber Sie befassen sich mit einer europäischen Sprache, wir sprechen ja deutsch miteinander und Sie sind Germanist, und da darf ich jetzt gleich fragen: Welche Rolle spielt denn eigentlich die Germanistik hier in Kamerun und in Afrika überhaupt? Ist das für Afrika irgendwie wichtig, bedeutsam, oder ist das eine Randerscheinung, dass man sich halt auch damit befasst, weil’s das halt gibt?

Simo: Wissen Sie, würden wir sagen, dass Ägyptologie in Österreich eine Randerscheinung ist? Würden wir sagen, dass das Erlernen, sagen wir, der chinesischen oder der japanischen Sprache in Europa eine totale Randerscheinung ist? Sagen wir so: Es gibt Fächer, die natürlich nur einen bestimmten Status haben können, manche Fächer können nie Massenfächer werden. Nur, dass es sie gibt, ist eine zwingende Notwendigkeit. Schon deshalb, weil es eine lebendige Sprache ist, Deutsch, die von Menschen benutzt wird, und jede Sprache verdient es, auch gelernt zu werden. Dass gerade Deutsch gelernt wird, aber nicht allein Deutsch, hat natürlich auch mit der Position von Deutschland in der Welt zu tun, das ist keine Frage. Aber wie gesagt: Deutsch ist in Kamerun durch ganz merkwürdige Wege reingekommen, nachdem es wieder verschwunden war nach dem ersten Weltkrieg. Das bedeutet: Nach dem zweiten Weltkrieg, als die Franzosen beschließen, keine Spezialschulen und -ausbildung für die indigènes, das heißt, für die Einheimischen zu errichten – das ist eine Schule zweiter Klasse – und dann die normale französische Schule für die Franzosen, die in Kamerun oder in Afrika lebten, dann zu errichten, so dass es früher immer diese Zweiklassenschulen gegeben hat. Als Geschenk für die Teilnahme der Afrikaner an der Befreiung Frankreichs hat De Gaulle schon 1944 versprochen, das, was man indigénat nannte, einfach aufzugeben, und den Einheimischen auch genau dieselben Möglichkeiten auch für die Ausbildung zu geben, wie den Franzosen. Und es gehörte dazu auch die deutsche Sprache, wie man weiß. Eine Zeit lang war für die Franzosen das Beherrschen von Deutsch sogar die Voraussetzung, um Diplomatenkarriere zu machen. Die Deutschen waren, wie man weiß, lange Zeit die Feinde der Franzosen und wurden als solche wahrgenommen, und da war es Pflicht, eben die Sprache des Feindes genau zu beherrschen, um eben auch zu lernen, mit ihm umzugehen. Und daher war Deutsch in der Tat lange Zeit wohl ein Muss für einen Diplomaten, einen französischen Diplomaten, der wirklich Karriere mache musste. Und die Öffnung zum französischen Schulsystem nach dem zweiten Weltkrieg brachte dann die Kameruner wieder in Berührung mit Deutsch. Manche wussten, dass ihre Eltern mal Deutsch gesprochen hatten, aber inzwischen war das nicht mehr etwas Alltägliches. Und daher kamen sie erst jetzt wieder in Berührung mit der deutschen Sprache als zweiter Fremdsprache. Französisch wurde natürlich als die “Muttersprache” betrachtet, dann kam Englisch. Meistens war das Schulsystem so, sobald man ins collège kam, dann begann man mit einer Fremdsprache. Das war in der Regel Englisch, und erst in der quatrième, also nach zwei Jahren im collège, musste man eine zweite Fremdsprache wählen. Und Deutsch war eine dieser Sprachen, die gewählt werden konnten, natürlich unter vielen anderen, Italienisch, Spanisch vor allem diese zwei Sprachen. Aber in manchen Fällen sogar Russisch.
Nach der Unabhängigkeit ist das Schulsystem geblieben. Und nur im frankophonen Teil wird Deutsch in den Schulen angeboten. Nicht im anglophonen, denn das hat es da nie gegeben, und auch heute führt man ja nur mit großer Mühe und ohne Erfolg Deutsch in anglophonen Schule ein, das klappt nicht so richtig. Das ist also so eine Sache des französischen Schulsystems, wie ich Ihnen erklärt habe. Und natürlich war es dann irgendwann notwendig, weil die Deutschen gesagt haben, wir können nicht ewig den Deutschunterricht subventionieren – nach der Unabhängigkeit haben die Deutschen den Deutschunterricht subventioniert – und so begann man auch kamerunische Deutschlehrer auszubilden. Und um Deutschlehrer auszubilden, da braucht man natürlich Germanistikabteilungen. Damit Sie sehen, wie sich Sachen, wie sich Situationen entwickeln. Und jetzt waren wir da drin, oder diese Möglichkeit bestand, und es hat Kameruner gegeben, die das gern studieren wollten. So einfach ist es. Und jetzt natürlich sind wir drin. Ich bin Abteilungsleiter seit über zwanzig Jahren, und da muss man sich denken, man muss das anders fundieren als bei den Franzosen oder wie auch immer, das heißt also, aus einer Situation, die aus der Geschichte erwachsen ist, wenn man sie weiter pflegen muss, muss man sie neu begründen, und muss man sie vielleicht auch neu orientieren, was wir auch tun. Aber ich kann Ihnen sagen, wir haben ja schon Dutzende Bücher zu dieser Frage geschrieben, “Wozu Deutsch in Afrika?”, und wann ich jetzt anfange, alle möglichen Antworten auszuräumen – bis morgen sitzen wir noch hier. Aber auf jeden Fall: Seien Sie sicher, wir versuchen dem jetzt einen Sinn zu geben, der eher passt zu unserer Vorstellung von Kamerun, zu unserer Vorstellung von der Zukunft Kameruns.

Auer: Ja, ich war wirklich beeindruckt auch wie gut und fließend und flüssig sich die jungen Leute hier auf Deutsch ausdrücken können, das hat mich schon sehr beeindruckt. Ich habe in anderen Ländern erlebt, dass Germanisten, die sehr wohl schreiben können, über deutsche Literatur schreiben können, nur sehr mangelhaft eigentlich sprechen, und das hat mich hier daher wirklich beeindruckt.

Simo: Ja, das ist ein Kompliment, das heißt, wir machen gute Arbeit.

Auer: Auf jeden Fall. Und dass man hier über Handke schreibt, finde ich als Österreicher natürlich auch schön. Und dass man hier auch Jura Soyfer würdigt, das freut mich besonders. Ich habe das erste Mal ein Gedicht von Jura Soyfer öffentlich vorgetragen im Alter von zehn Jahren. Ich bin aufgewachsen sozusagen mit dem Band Vom Paradies zum Weltuntergang, den Otto Tausig herausgegeben hat. Den hatten wir zu Hause stehen. Mein Vater musste ja auch emigrieren, er ist 1938 nach England gekommen, dann von England nach Australien und so weiter. Und von daher hatte ich schon sehr früh mit Jura Soyfer Bekanntschaft gemacht, als der in Österreich nur in ganz engen Kreisen bekannt war.

Simo: Durch INST – und durch Herbert Arlt – bin ich in Berührung mit Jura Soyfer gekommen, und sehr schnell wirklich mochte ich seinen Witz, mochte ich seine Umkehrung der Geschichte, dass er die Geschichte von einer ganz neuen Perspektive erzählte, das ist das, was ich bei Jura Soyfer ja so spannend finde. Natürlich auch seine Gabe, in paar Wörtern wirklich komplexe Situationen, existentielle Situationen auszudrücken wie im Dachaulied, das ist so eine große Fähigkeit. Ja, das heißt also ich nehme mir Jura Soyfer immer gern in die Hand und lese ihn mit großem Vergnügen.

Auer: Gab es hier auch irgendwelche Aufführungen oder Rezitationen?

Simo: Nein, in der Form nicht, Aufführungen gab es nicht. Ich habe einmal angeregt, dass unsere Studenten Stücke von Jura Soyfer spielen, aber es war zu kompliziert, weil wir nicht die entsprechende Bühne hatten, wo man sowas aufführen kann, und das Projekt ist aufgegeben worden. Es ist aber nicht gesagt, dass ich die Idee nicht wieder aufgreife.