Micaela Latini
Ohne alle Geschicke betrachtete ich das Meer, von der Idee der Unsterblichkeit besessen, vom lautlosen Rückfall in die Öde der Jugend
Abstract
Mit dem Artikel soll die Beziehung Thomas Bernhards zu Palma de Mallorca auf der Grundlage eines Interviews der Journalistin Krista Fleischmann mit dem Autor und des Romans Beton untersucht werden. In diesem Text wird die Baleareninsel in der Tat keinesfalls als Ort der Erholung und Entspannung dargestellt, sondern als Symbol der Tourismusindustrie charakterisiert. Die Tragödie im letzten Teil des Bernhardschen Romans ist thematisch dann auch eng mit den diversen Betonmassen auf der Insel verbunden und stellt, wenn auch in literarischer Ummantelung, eine Anklage gegen die dortige Bauspekulation dar. Das menschliche Drama, das sich vor dem Hintergrund der Stadt Palma abspielt, führt bei Rudolf, dem Protagonisten des Romans, zum Entschluss, zu schreiben, und zwar mit dem Ziel, für die Opfer Zeugnis abzulegen und ihnen wieder eine Stimme zu verleihen, die jenseits der Betonmauern vernehmbar ist.
Geist und Lungen
Mallorca interessiert mich an und für sich gar nicht […] das ist die Atmosphäre der Stadt, der Hafen, das Meer, was ich brauch’ zum Arbeiten. Und arbeiten kann ich nur dort, wo’s mir klimatisch zuträglich ist, und hier hab’ ich beides, nicht. Die Möglichkeit, meine Lunge zu versorgen und mit meinem Hirn zu machen, was dem auch entspricht, was damit zu machen ist […]. Wenn’s mir in Österreich den Hals zuschnürt, dann fahr’ ich halt da herunter, und das ist ideal. Das Meer ist eine Notwendigkeit, Segelschiffe, Passagierdampfer, Autos, Verkehr – ein städtisches Zentrum, aber mit Wasser1.
Mit dieser Liebeserklärung an das Meer und speziell an Mallorca beginnt ein ungewöhnliches Interview, das Thomas Bernhard 1981 der österreichischen Journalistin Krista Fleischmann gegeben hat.2 In der Tat hat Bernhard sich am Ende des Zweiten Weltkriegs ‒ anders als Ingeborg Bachmann und Peter Handke ‒ entschieden, in Österreich zu bleiben, um sich zum Schreiben größtenteils ins abgelegene, vom Alpenpanorama eingerahmte Salzburger Hinterland zurückzuziehen, oder sich bestenfalls in Wien an der Donau aufzuhalten, die eben nicht ins Mittelmeer, sondern ins Schwarze Meer mündet.3 Man sollte daher die Bedeutung seiner regelmäßigen Fluchten an klimatisch mildere Orte für sein literarisches Werk (und für sein Leben insgesamt) nicht unterschätzen4. Insbesondere im Winter, wenn die Quecksilbersäule in Mitteleuropa unter den Nullpunkt sinkt, suchte Bernhard nach „politischem Asyl“ und Erholung für seine kranken Lungen im Süden, und im mediterranen Klima: in Italien (Sizilien), Portugal und vor allem in Spanien. Thomas Bernhard flog häufig nach Mallorca, wo in den ersten Novembertagen Krista Fleischmanns Interviewfilm Thomas Bernhard. Eine Herausforderung. Monologe aus Mallorca (1981) gedreht wurde5. Sechs Wochen vor seinem Tod verbringt er während der Endphase seiner Erkrankung auch den Dezember 1988 einschließlich des Jahreswechsels im andalusischen Torremolinos. Bernhard selbst bekennt: »Der Hauptsinn hier ist doch die Wärme im November (…) drum geh’ ich da her – ans warme Mittelmeeröferl«6. Außerhalb der Saison, in einer Jahreszeit, in der Touristenmassen und sommerliches Urlauberchaos nur ferne Erinnerungen sind, bietet sich Bernhard das Schauspiel des «Meeresrauschens», und somit findet er hier den idealen Ort für Geist und Lunge7.
Das Wechselspiel von Atmungsrhythmus und Denken macht tatsächlich einen Grundzug der Bernhardschen Poetik aus, wie es auch im autobiographischen Werk Der Atem8 deutlich wird. Hierin besteht für ihn gleichzeitig die Bindung an das Leben und an das Schreiben. So bedeutet die wohltuende Wirkung der Meeresbrise für die Lungen einen unverzichtbaren Bestandteil für Bernhards Arbeit9: »[…] Aber die Meerluft ist ja wunderbar. Und sie sehen ja selber, wie schön das da ist, und das ist für die Arbeit nur förderlich. Schiffe sind immer angenehm, und das Meer ist unbezahlbar. Besser als das Gebirge«10. Die Aussage widerspricht einer Auffassung, die Bernhard seinem Goethe in den Mund legt, der eine Einladung nach Agrigent mit den Worten kommentiert, dass er das Glühen des Gebirges dem Meeresrauschen vorziehe11. Und das ist kein Einzelfall, wenn man sich vor Augen führt, dass der Großteil der Bernhardschen Figuren ‒ mit der einzigen und auch nicht durchgängigen Ausnahme von Rudolf in Beton und Murau in Auslöschung ‒ sich (unglücklich) in alpinen Umgebungen bewegen, in „kalten“, eisigen Landschaften. Die zitierten Romane sind von Spuren der mediterranen Erfahrungen Bernhards auf den Balearen und in Rom durchzogen. In beiden Fällen wird der erzählerische Plot um den Kontrast zwischen mitteleuropäischer und meridionaler Topographie bzw. zwischen Norden und Süden herum konstruiert12.
Insbesondere in der Handlung von Beton (1982) schlagen sich Bernhards Spanienaufenthalte literarisch nieder, wenn auch mit völlig anderen Akzenten, die weit entfernt von der Inselstimmung sind, die im Interview mit Krista Fleischmann evoziert wird13. Während die Darstellung Roms in Auslöschung die ewige Stadt in ihrer klassischen Tradition wieder aufleben lässt14, erscheint die Baleareninsel in Beton eher als eine paradoxe Mischung aus Idylle und Antiidylle. Die Stadt Palma de Mallorca präsentiert sich bei Bernhard mithin in einer vagen und komplexen, veränderlichen und vielschichtigen Gestalt; sie oszilliert in einer Art fortwährendem und ineinanderfließendem Nebeneinander von wirklichen und imaginierten Bildern, von Realien und Fiktionen. Im Grunde projiziert Bernhards Protagonist Rudolf, ein misanthropischer und hypochondrischer Musikwissenschaftler, Spross einer wohlhabenden österreichischen Familie, seine zwiespältigen Gefühle gegenüber seiner Schwester Elisabeth (seinem Alter Ego im ersten Teil des Romans) und gegenüber seinem Heimatdorf Peiksam auf die Stadt Palma de Mallorca (wohin zu fahren er gedachte, nachdem er sich gegen Venedig und Taormina entschieden hatte)15. Wie zu zeigen sein wird, ist es aber gar nicht so sehr die Stadt als solche, die von Bernhards Figur negativ beurteilt wird, als vielmehr die Tourismusindustrie, die das Terrain beherrscht, seiner Authentizität beraubt hat und es in einen Nicht-Ort verwandelt hat16. Die Stadt Palma ist daher gleichermaßen Objekt der Liebe und des Hasses, Retterin und Zerstörerin, abwechselnd Repräsentantin der Sinnhaftigkeit und der Sinnlosigkeit. Dies erhellt aus Rudolfs Ausruf:
Plötzlich war eine dicke stickende Luft, eine niederdrückende, an einer plötzlichen Atemnot schuld […] Aber ich gebe nicht auf, dachte ich. Gerade jetzt nicht. Zuerst ist die Luft herrlich, würzig, ich lebe vollkommen auf, und von einem Augenblick auf den andern schlägt sie mich wie einen Hund zusammen […]. Aber von allen klimatischen Bedingungen, die ich kenne, ist das von Palma das beste. Und die Insel ist immer noch die schönste in Europa, auch die Hunderte von Millionen Deutschen und die genauso fürchterlich um sich schlagenden Schweden und Niederländer haben sie nicht vernichten können. Sie ist heute schöner denn je17.
An anderer Stelle erscheint in Beton ein ähnliches Motiv:
Eine fürchterliche Idee, dachte ich, Ende August nach Palma zu fahren! Die Stadt und die ganze Insel sind nur im Winter schön, aber dann schöner, als alles andere auf der Welt18.
Im Roman Beton richten sich die zornigen Invektiven des Protagonisten gegen das andere Palma de Mallorca und enthüllen die Kehrseite des in Werbeaufnahmen verewigten irdischen Inselparadieses. Obwohl die touristische Propaganda die Stadt als eine der schönsten der Welt anpreist, erscheint ihre Silhouette auch von der allgegenwärtigen Bauspekulation verdüstert. In Bernhards Roman löst sich das Bild des Meeres auf und wird von den unüberwindlichen Betonmauern der Hotels verstellt, die auf der Insel wie Pilze aus dem Boden geschossen sind, um Touristenhorden zu beherbergen, sowie von den Grabnischen, die sich auf dem Friedhof aneinanderreihen, und häufig von denselben Stammkunden der Billighotels belegt werden. Das in Beton entworfene Szenario ist das eines Ortes, der von Gewalt gekennzeichnet ist und aus Profitstreben das Individuum vernichtet und zermalmt, indem er ihm seine Identität raubt. Hier zeigt die „schönste Stadt“ ihr verborgenes abschreckendes Gesicht.
So wirft Bernard auch im zitierten Interview mit Fleischmann eine seiner zahlreichen Provokationen in den Raum, unmittelbar nachdem er Palma als das „warme Mittelmeeröferl” definiert hat:
[…] jetzt frier’ich. Wenn man das übersieht – übermorgen lieg’ich im Bett, das geht alles so, und dann lande ich am Cementerio hier. Das ist ja net angenehm, kommen S’ in den Steinschubladkasten hinein, und schreibt wer mit Bleistift ihren Namen, und dann regnet’s dreimal drauf und verwischt – weg!19.
Genau dies geschieht in Beton. Es besteht kein Zweifel: Palma de Mallorca, das auch als die „Grand Dame des Mittelmeers“ bezeichnet wird, nimmt unter Bernhards Feder eine schauderhafte Leichenblässe an, insbesondere im Hinblick auf die weniger wohlhabenden Bevölkerungsschichten.
Tod in Palma de Mallorca
In einer der letzten Szenen des Romans Beton erscheint der Protagonist Rudolf, der kurz zuvor in Palma eingetroffen ist, um fern vom frostigen Städtchen Peiksam auf der spanischen Insel die zur Niederschrift des allerersten Satzes seines Buches unabdingbare Konzentration zu finden, auf der Außenterrasse des Cafés an der Prachtstraße Borne (Passeig d’es Borne). Dort sitzt er, an einer Tasse Kaffee nippend, mit geschlossenen Augen in einem uralten weiß gestrichenen Korbsessel und erinnert sich plötzlich an die todtraurige Geschichte der Anna Härdtl. Rudolf entsinnt sich, dass dies der Name einer jungen Frau aus München war, die er zwei Jahre zuvor am selben Ort getroffen hatte und die sich, nachdem sie sich mit den Worten „Ich heiße Anna“ vorgestellt hatte, Rudolf und dessen der wohlhabenden Gesellschaftsschicht angehörenden Freundin Cañellas angeschlossen hatte. Die Deutsche trug damals Trauer nach dem dramatischen Tod ihres Ehemannes, der indirekt den zerstörerischen Folgen des Massentourismus und den daraus resultierenden sozialen Verwerfungen zum Opfer gefallen war. Die zwischen Wachen und Träumen von Rudolf wieder ins Gedächtnis gerufene Geschichte der Anna Härdtl steht im Zentrum der Szene und ruft neben einem Verfremdungseffekt auch eine Änderung der intellektuellen Pläne des Protagonisten hervor. Es sei angemerkt, dass diese erzählte Episode auf Elemente aus Bernhards Biographie zurückgeführt werden kann, da dieser in einem Spiel von Widerspiegelungen und vertauschten Blickwinkeln einen Mosaikstein seiner eigenen existenziellen Lebenserfahrung in Beton einfließen lässt. Bis zum Moment des Zusammentreffens mit Anna war Rudolf tatsächlich ausschließlich in seinem eigenen Selbst gefangen, in einer Art narzisstischem Rausch (wie man heute sagen würde):
[…] ich bin mein Beobachter, ich beobachte mich tatsächlich seit Jahren, wenn nicht seit Jahrzehnten ununterbrochen selbst, ich lebe nurmehr noch in der Selbstbeobachtung und in der Selbstbetrachtung und naturgemäß dadurch in der Selbstverdammung und Selbstverleugnung und Selbstverspottung20.
Diese Betrachtung bezeichnet aber gleichzeitig seine unwiderrufliche Erstarrung.
Wie aus Fleischmanns einleitenden Bemerkungen zum vor Ort in Palma durchgeführten Interview mit Bernhard deutlich wird, geht die dramatische Geschichte von Anna Härdtl auf die tragischen Ereignisse um eine junge, mit Bernhard befreundete Frau aus Miesbach zurück, die während eines Spanienaufenthaltes ihren Ehemann durch einen tödlichen Sturz vom Balkon eines Hotels in Santa Ponsa verloren hatte, dessen Ursache nicht geklärt werden konnte. Kommen wir aber wieder zur narrativen Fiktion zurück: Bei Rudolfs Bemühungen, in die anbrandenden Erinnerungen an den wirren und verzweifelten Bericht der Frau über ihre dramatische Geschichte Ordnung zu bringen, bricht sich ein neuer Gedankenfluss Bahn: Nun rekonstruiert er anhand der Erinnerung an Anna Härdtl die Etappen ihres Leidens, indem er dieses in eine zeitliche Ordnung bringt: zunächst die ablehnende Haltung ihrer Eltern gegenüber ihrer Eheschließung; dann die wirtschaftlichen Schwierigkeiten des Ehepaares nach der Eröffnung ihres Geschäftes für Haushaltsgeräte am Münchner Stadtrand und nach der zeitgleichen Geburt ihres Sohnes, bis hin zum endgültigen finanziellen Ruin: dem durch Diebe ausgeräumten Geschäft, die nur wenige wertlose Gegenstände zurücklassen und der Entscheidung der Versicherung, für den Schaden nicht aufzukommen, da die Sicherheitsvorkehrungen nicht ordnungsgemäß gewährleistet gewesen seien; schließlich die so sehr herbeigesehnte Reise nach Palma und der dramatische Tod des Mannes während des Urlaubs, der für beide eigentlich eine Mußezeit zur Regenerierung ihrer Kräfte hätte sein sollen. Der Mann war vom Balkon im achten Stock des trostlosen Hotels, in dem sie sich aufhielten, auf den Betonboden gestürzt ‒ ob es sich um einen Selbstmord oder einen Unfall gehandelt hat (sogar die Mordhypothese wird ins Spiel gebracht), geht nicht aus dem Bericht der Frau hervor; mit Hilfe dieses Ferienaufenthaltes hätte das Paar neuen Lebensmut fassen wollen; stattdessen erwies er sich von Beginn an aufgrund der Luftverschmutzung und Lärmbelastung im Stadtviertel als verheerende Erfahrung. Vermutlich war der Mann auf den Balkon getreten, um eine Zigarette zu rauchen, und war im Halbschlaf in die Tiefe gestürzt, weil das Balkongeländer entgegen den gesetzlichen Bestimmungen viel zu niedrig war. Hier wird deutlich, dass Fenster und Tür, die den traumhaften Meerblick (also eine Vorrichtung der Öffnung zur Welt) hätten bieten sollen, sich letztlich in eine tödliche Waffe verwandelt haben. Die Frau selbst war an den Schauplatz des Dramas gekommen, das sich unter ihrem Balkon zugetragen hatte: »Auf dem Beton unter dem Balkon lag ein Leichnam, mit einer Decke zugedeckt. Ich wußte sofort, daß das mein Mann ist«21. Auf diese Weise haben sich die Wellen des Lebens auf dem Beton gebrochen.
Das Hotelpersonal hatte sofort dafür gesorgt, den Leichnam vor den Blicken der anderen Hotelgäste zu verbergen, die den Vorfall nicht mitbekommen hatten und ihren Urlaub genießen wollten. Für die Frau kam zur traumatischen Konfrontation mit dem tragischen Todesfall eine Reihe von Widrigkeiten hinzu, und zwar im Zusammenhang mit der Bestattung ihres Mannes in den siebenstöckigen, in die Höhe ragenden Betonschächten, die die Grabnischen auf dem Friedhof von Palma beherbergen und das Anonyme, Amorphe und Anorganische symbolisieren22:
So stand sie mit ihrem Kind schon zwei Tage nach dem Tod ihres Mannes […] vor einer längst zubetonierten Grabstätte, auf welcher nicht einmal sein Name verzeichnet gewesen war23.
Nachdem sie die Geschichte der Anna Härdtl gehört haben, besuchen Rudolf und seine Freundin Cañellas den Friedhof von Palma, ein unermessliches Gräberfeld, das »schon mehr an Nordafrika und die Wüste [erinnert]«24. Schließlich stehen sie vor dem schwarzen, einbetonierten Marmorquadrat, hinter dem der Mann ‒ zusammen mit einer anderen unbekannten Frau ‒ beigesetzt ist. Es wäre ein anonymes Grab gewesen, wenn die junge Härdtl nicht den Namen ihres Mannes mit Bleistift auf die Grabplatte geschrieben hätte: „Hans Peter Härdtl”. Rudolf stellt fest, dass »der Regen […] den Namen schon etwas verwischt [hatte], aber es war noch deutlich zu lesen«25. Den Namen des Anderen, des geliebten Toten, aufzuschreiben ‒ sein Foto mit einem Klebestreifen anzuheften ‒ bedeutet, ihm eine Rolle, einen Platz zurückzugeben, ihn aus der Anonymität (der bloßen Nummer) heraus wieder in Erinnerung zu rufen, ihn aus dem Jenseits wieder zurückzuholen26. Eine Thanatographie aus düsterer Vorahnung.
Bevor Palma Schauplatz eines „neuen Anfangs“ wird, zeigt es sich zunächst als Bühne des Todes, und zwar jener Dialektik gemäß, die bei Bernhard Dinge, Orte und Personen kennzeichnet. Die dramatische Geschichte der Anna Härdtl und ihrer unglücklichen Familie wird für Rudolf noch Jahre später ein alles beherrschender Gedanke, der noch eindringlicher ist als seine Obsession der „zu schreibenden ‒ nicht schreibbaren“ Studie über den deutschen Komponisten:
Ich hätte alle meine Energien auf meinen Mendelssohn-Bartholdy konzentrieren sollen, und der Gedanke an diese meine Arbeit war mir auf einmal durch die Tragödie der Härdtl […] entsetzlich27.
Nachdem Rudolf vorübergehend den Gedanken an das undurchführbare Vorhaben der Niederschrift seiner musikwissenschaftlichen Forschung aufgegeben hat, verfolgt er eine neue Idee des Tons „Be“ (des Be-Tons) und indem er dem inneren Ruf seiner Mitmenschlichkeit folgt, begibt er sich zum Friedhof, auf dem der Ehemann der Frau beigesetzt ist und wo er schon zwei Jahre zuvor gewesen war. Hier erfährt er mit Bestürzung vom tragischen Epilog der Geschichte: auf der Grabplatte, auf der der Name Hans-Peter Härdtl eingraviert ist, findet er daneben Annas Namen. Die Frau hat ‒ wie er vom Friedhofswärter erfährt ‒ Selbstmord begangen und ist somit gewissermaßen, zu Stein erstarrt, von den durchlebten Widrigkeiten einbetoniert worden.
Die Erzählung von dieser „Doppeltragödie“, die in den kurzen Roman eingebettet ist wie eine Schachtel in der Schachtel, ist nur scheinbar ein Fremdkörper innerhalb des Roman-Plots. Vielmehr thematisiert Bernhard anhand der Bekanntschaft von Rudolf und Anna die Verbindung zwischen Existenz (Tod) und Schreiben. Das Ereignis des Zusammentreffens mit Anna führt bei Rudolf zur Rückkehr aus seiner existenziellen Agonie, wobei er zwei Phasen durchläuft: von einem anfänglichen Stadium des Verlustes ausgehend, erreicht er einen Zustand der „Entscheidung zugunsten des Lebens“. Die Etappen lassen sich folgendermaßen beschreiben: Die Erinnerung an das Ende der Frau, die plötzlich in ihm aufsteigt, als er auf dem Korbstuhl am Passeig d’es Borne sitzt, vermengt sich mit dem Gedanken an den Beginn der Forschung über Mendelssohn-Bartholdy, die niederzuschreiben ihm nie gelungen war, weder in Sizilien, noch am Gardasee, und ebenso wenig in Warschau oder Lissabon28. Zur Sinnlosigkeit seiner Wahnvorstellung vom Incipit seiner Forschungsarbeit gesellt sich so die Sinnlosigkeit eines Schmerzes, der ihn unversehens quält, ein unbeherrschbares Unbehagen, das unvorhergesehen auftritt und daher unheilbar ist: »Diese Atemnotfälle kommen plötzlich, ich weiss nie, warum, aus was für einem momentanen Grund«29.
Sie kehren nach dem Besuch des Friedhofs ins Hotel zurück, wo Rudolf nun seinen Tod in Szene setzt: Er zieht die Vorhänge zu (die den Blick auf die Welt freigeben), und verübt einen unglaubwürdigen Selbstmordversuch, indem er diverse Schlafmittel schluckt. Als er aber sechsundzwanzig Stunden später wieder aufwacht, beschließt er, im Würgegriff von Angstgefühlen, einen neuen Weg zu beschreiten. Die Erinnerung an dieses „gekränkte Leben“ drängt Rudolf in die entgegengesetzte Richtung zum „Glücksgehalt des Unglücks“:
Wenn wir einen Menschen treffen wie die Härdtl […] der so unglücklich ist, wie wir glauben, sagen wir uns gleich, wir selbst sind gar nicht so unglücklich, wie wir glauben, wir haben ja eine Geistesarbeit […]. Tatsächlich richten wir uns an einem noch unglücklicheren Menschen sofort auf30.
Während das Unglück des Ehepaars Härdtl in einer Tragödie des sozialen Elends wurzelt, ist Rudolfs Geschichte von tragischer Exzentrizität gekennzeichnet31. Das seltsame Zusammentreffen der Schicksale der zwei Personen hat keinen unmittelbar kathartischen Effekt der wiedergewonnenen Sinngebung, insofern Rudolf keinesfalls mit der Niederschrift seines Essays über Mendelssohn beginnt. Seine Aufmerksamkeit wird von der Notwendigkeit, ein unverzichtbares Werk über den Komponisten zu verfassen, auf die Notwendigkeit und gleichzeitig auf die Schwierigkeit zu leben gelenkt. Wenn die Welt „nurmehr noch eine solche voller Irrtürmer“32 ist, muss ihr mit jenem sublimen Irrtum begegnet werden, in dem die Arbeit des Schreibens besteht oder auch mit dem Un-Sinn des Denkens.
Identität und Schreiben
Wir halten fest: Es geht nicht mehr um die Niederschrift der Studie über Mendelssohn-Bartholdy, sondern vielmehr um die Notwendigkeit, die Kunst des Überlebens zu vervollkommnen, die sich in einer beharrlichen Hinwendung zur Reflexion über den Anderen und zum Gedenken an den Anderen manifestiert, wie auch im Schreiben über das Zusammenspiel von Leben und Kunst und über die inneren Möglichkeiten des Lebens selbst. Die Spannung im Hinblick auf die Verwirklichung des eigenen Werkes nimmt hier Eigenschaften einer „Überlebensstrategie“ an, mit der der Totalität des Todes (dem Beton der Grabnischen) vermittelst der Erinnerung an das Detail, d. h. an die Familie Härdtl und die Arbeit am eigenen Selbst, entgegengewirkt werden soll. Hierin liegt die innere Grundaussage von Beton: ein Anstoß zur Reflexion über Sinn und Unsinn der Existenz aus dem Inneren der Existenz selbst heraus, nämlich in Form eines Berichtes über gelebtes Leben.
Wie aus dem ersten Teil des Romans hervorgeht, ist Rudolf 48 Jahre alt, hat keine Freunde, leidet an einer schweren Immunschwächeerkrankung und sein Curriculum vitae et studiorum weist, abgesehen von einer Reihe missglückter Selbstmordversuche, eine lange Folge von Schriften auf, die entweder Fragment geblieben sind oder von ihm verbrannt wurden, weil er sie für nicht veröffentlichungsreif gehalten hatte. Ihm gelingt es, diese existenzielle Verzweiflung zu überwinden, indem er das eigene Leben revuepassieren lässt, was für ihn allerdings einen beschwerlichen Weg über Ruinenfelder bedeutet33.
Angesichts der Tatsache, dass niemand in der Lage ist, sein eigenes Leben zu erzählen, gibt es keine Autobiographie, die nicht gleichzeitig Heterobiographie wäre. Daher bedarf Rudolf einer Selbstverdoppelung, die das Alter Ego Anna Härdtl und sein Rück-Blick auf dieses ihm ermöglichen: ein Blick, der dieses Alter Ego beobachtet, eine Stimme, die es erzählt und das schriftliche Vermächtnis des Protagonisten protokolliert. Der Ausdruck „schreibt Rudolf“, der den kurzen Roman eröffnet und in Form eines Rahmens abschließt, ist in diesem Sinne bedeutsam34. Es scheint, als ob ein unsichtbarer Erzähler uns in die Verästelungen des selbstquälerischen Schreibvorgangs des Protagonisten, in den Schaffensprozess also, einführen würde, um sich dann zurückzuziehen und sich erst ganz am Ende der Romanerzählung wieder in Erinnerung zu bringen. Aus den Trümmern der Studie über Mendelssohn-Bartholdy erwächst der Roman Beton, der nichts anderes ist als eine Zusammenstellung von in Palma angefertigten Notizen (diese Notiz aufschreibe)35. Aber eben indem er diese verstreuten Notizen studiert ‒ sie sind Zeugnisse der Sackgasse, in die er sich durch seinen Mendelssohnwahn und seine Abschottung auf seinem Grundstück im österreichischen Peiksam, aber auch durch seine Pietas für Härdtl manövriert hat ‒ treibt Rudolf sich selbst seine abgründige Obsession und die exaltierte und detailversessene Fixierung auf seine eigene Identität aus36. Im Gegensatz zu denen (auch unter seinen Freunden), die ihrer Vorstellungswelt bis ins Alter verhaftet geblieben sind, versucht sich Rudolf infolge jener „Ablenkung“ von der Forschung, die durch die Erinnerung an das Zusammentreffen mit Härdtl und durch die Aufdeckung des tragischen Endes der Frau in Gang gesetzt wird, im Schreiben; und diese Kehrtwendung entspringt eben diesem Nicht-Dasein, weil das Schreiben sich aus der Begegnung mit dem Unvorstellbaren speist, aus der Unmöglichkeit des Verstehens, aus der Dimension der Verlusttrauer. Somit hat das Ereignis des Todes der Frau und das Überkreuzen ihrer unterschiedlichen Schicksale seinem Werk einen entscheidenden Impuls gegeben, indem dieses in Richtung auf ein Verantwortungsbewusstsein, auf eine ethische Aufgabe umgeleitet wurde.
Vor seinem endgültigen Scheitern findet Rudolf die Kraft, derer es ihm stets ermangelte: jene Schonungslosigkeit, derer das Schreiben bedarf, um die Übermacht des Vergessens zu bekämpfen, um nicht nur das eigene tragische Schriftstellerschicksal in Erinnerung zu rufen und zu bezeugen, sondern auch die um vieles tragischere Geschichte der Anna Härdtl, die anderenfalls dazu bestimmt gewesen wäre, bestattet, verwahrt, ad acta gelegt und unter einer Platte aus Beton (dem Beton der Gleichgültigkeit) zwischen unzähligen anderen Toten eingereiht zu werden. Zu diesem Zweck muss er sich verdoppeln, indem er vorgibt, ein anonymer Autor zu sein, der seine Hinterlassenschaft gesichtet hat und sich seine eigene Geschichte erzählt, die er selbst verfasst hat. Mit Hilfe dieser Vorgehensweise bedient sich Bernhard des Doppelgängers von Rudolf, dieses Anderen, der ‒ sei es als Leser, sei es als Erzähler ‒ als abwesend Anwesender jede Erzählphase begleitet, was den Aspekt der problematischen Gestalt des Selbst zur Voraussetzung hat, das als ins Negative verkehrtes Archiv der Anderen und der Dinge, die uns ausmachen, zu verstehen ist37. Beton erweist sich damit als autobiographisches Kleinod in Form eines ausgeklügelten Spiels von Widerspiegelungen und beweglichen Rahmen zwischen Anna Härdtl, Rudolf, seinem anonymen „Dichter“ und Bernhard selbst38. Mit diesem Kunstmittel begibt sich der Autor an die äußerste Grenze zwischen Leben und Tod, zwischen Erinnerung und Vergessen, die entlang der Linie verläuft, an der der Text entsteht und wieder vergeht: Es geht darum, jenen Urgrund des Schreibens zu erzählen, der eins ist mit der eigenen untragbaren Ursache.
1 Thomas Bernhard, Eine Begegnung. Gespräche mit Krista Fleischmann (1991), in Ders., Werke, 22.2, Frankfurt a.M. 2015, S. 181-246, hier S. 181. Zur Kontextualisierung des Interviews vgl. Stefano Crosara, Un incontro ideale, in „Aut Aut”, 326 (2005).
2 Dasselbe Motiv findet sich in einem Interview, das Kurt Hoffmann mit Bernhard geführt hat und in dem dieser über Portugal feststellt: »(…) ich bin ja ein Meeresfanatiker (…) ich brauch’ das Gefühl, dass das Meer in der Nähe ist, dann leb’ ich schon auf«. Vgl. Thomas Bernhard, Aus Gesprächen mit Thomas Bernhard (Interview, hrsg. von Kurt Hoffman), Wien 1988, S. 112.
3 Vgl. Claudio Magris, Per una filologia del mare, Einführung zu Predrag Matvejević, Mediterraneo. Un nuovo breviario, Milano 1999, S. 7-12, hier S. 12. Über Bernhard als Schriftsteller der Donau vgl. auch Micaela Latini, Il Danubio: la passeggiata di Thomas Bernhard, in „Cultura tedesca”, 40 (2011), S. 165-176.
4 Die Thematik der Temperatur ist in Bernhards Werk von besonderer Bedeutung, wie sowohl einige Romantitel (z.B. Frost, Die Kälte) beweisen, als auch etliche in seinem Werk vorherrschende Themenkomplexe, wie etwa die Ermittlung der Idealtemperatur im Bordonesaal des Wiener Kunsthistorischen Museums in Alte Meister.
5 Die Transkription des Films ist gemeinsam mit Thomas Bernhard – Ein Widerspruch „Die Ursache bin ich selbst“ (Madrid 1986) Grundlage für das Buch Thomas Bernhard. Eine Begegnung, das Krista Fleischmann 1991 veröffentlicht hat. Vgl. M. Mittermayer, Thomas Bernhard. Eine Biographie, Wien-Salzburg 2015, S. 413-415.
6 Thomas Bernhard, Eine Begegnung, a.a.O., S. 245.
7 Zur Rezeption von Thomas Bernhard in den spanischsprachigen Ländern und zu deren Rolle in Bernhards Werken sei verwiesen auf: M. Sàenz, Thomas Bernhard. Erinnern und vergessen, „Thomas Bernhard Jahrbuch“ 2005-2006, S. 155-161; ders., Trastorno versus Verstörung, in Kontinent Bernhard. Zu Thomas-Bernhard-Rezeption in Europa, hrsg. v. W. Bayer, S. 83-90; ders., Geschichte einer unmöglichen Liebe. Die deutsche Literatur in Spanien seit 1945, München 1955, S. 168-178; C. Forte, Der beste Schriftsteller des spanischen Realismus. Th. Bernhard in Spanien, in Kontinent Bernhard. Zu Thomas-Bernhard-Rezeption in Europa, hrsg. v. W. Bayer, C. Porcell, Wien 1998, S. 319-337.
8 »Atmen ist eine Entscheidung«: Diese Aussage könnte das Motto eines der autobiographischen Romane Bernhards sein: Der Atem. Eine Entscheidung, 1978 (in Th. Bernhard, Werke, a.a.O., Bd. 10, S. 216-310).
9 Hier ist anzumerken, dass Bernhard seine ersten Lebensmonate nicht am Meer verbracht hat ‒ wie er betont ‒ sondern auf einem Fischkutter, der im Meer an der Hafenmole von Rotterdam lag und für eine Art „Baby parking“ umgerüstet war, wo Mütter ihre unehelichen Kinder unterbringen konnten, während sie arbeiten gingen ‒ Es heißt explizit: »Nicht am Meer, sondern auf dem Meer«.Vgl. Thomas Bernhard, Eine Begegnung, a.a.O., S. 197. Einige dieser Reminiszenzen aus der frühesten Kindheit haben sich in das Stück Am Ziel verirrt (1981).
10 Thomas Bernhard, Eine Begegnung, a.a.O., S. 182.
11 Thomas Bernhard, Goethe schtirbt (1982), in Werke 14, Frankfurt a.M. 2003, S. 398-413.
12 Vgl. A.M. Baranowski, Antagonisme et polarités dans les romans de Thomas Bernhard, Beton et Auslöschung, „Germanica“ 10 (1992), S. 169-180.
13 Zur Vertiefung dieses Spiels mit Andeutungen sei auf das Nachwort von Martin Huber und Wendelin Schmidt-Dengler zur neuen Werkausgabe verwiesen: Thomas Bernhard, Werke, Bd. 5: Beton, Frankfurt a.M. 2006, S. 133-170, hier S. 148.
14 Zu diesem Themenbereich s. Gabriella Catalano, Rom ist die Stadt für den Kopf. Bemerkungen über das Bild von Rom in Thomas Bernhards Roman Auslöschung, Rom in der deutschsprachigen Literatur nach 1945, in: A. Fattori, R.G. Czapla (Hrsg.), Bern-Berlin 2008, S. 227-235; Marino Freschi, Il viaggio in Italia da Winckelmann a Bernhard, in S. Campailla (Hrsg.), Gli scrittori stranieri raccontano Roma: l’immagine della città e della cultura italiana nel XIX secolo, Rom 2008, S. 110-124; Bernhard Nienhaus, Rom als Zentrum der Welt? Die Topographie einer Stadt bei Thomas Bernhard, in „Thomas Bernhard Jahrbuch” 2005/2006, S. 116-131; Wendelin Schmidt-Dengler, Piazza Minerva – ein römischer Schauplatz? Zu Thomas Bernhards Roman Auslöschung, in F. Arzeni (Hrsg.), Il viaggio a Roma (da Freud a Pina Bausch), Rom 2001, S. 101-110.
15 Elfriede Jelinek hat die Verbindung zwischen der Figur der Schwester und Palma de Mallorca genau erfasst: In der Tat verweist sie in ihrem Text Das Schweigen eindeutig auf Bernhard: »Ich werde sagen: meine Schrift über Robert Schumann, und Sie werden sofort wissen, was ich meine (…). Meine Schrift über Schumann entsteht, ja, es handelt sich nur um sie, und mit Entsetzen sehe ich die Verwüstung auf meinem Schreibtisch, in meinem Haus, das ich jetzt verlasse, um nach Mallorca aufzubrechen, nach Palma, aber es handelt sich um das Gegenteil einer Schrift. Meine Schwester wollte zu Besuch kommen, bevor ich abreise. Eine entsetzliche Frau, und doch die einzige, die ich ertrage. Mit einem noch entsetzlicheren, jedoch sehr vermögenden Mann verheiratet gewesen, einem Korkenzieherfabrikanten aus Solingen, doch jetzt kommt sie nicht. Es hat keinen Sinn, wenn sie kommt, denn ich bin weg. Die Schrift. Sie entsteht, indem sie nie entsteht, indem aber unaufhörlich von ihr die Rede ist«. E. Jelinek, das schweigen, das lebewohl, Berlin 2000, S. 37-48, hier S. 40 u. 44. Siehe das Nachwort von Martin Huber und Wendelin Schmidt-Dengler zur neuen Werkausgabe: Thomas Bernhard, Werke, Bd. 5: Beton, a.a.O., S. 164.
16 In diesem Zusammenhang scheint Bernhard in Einklang mit Adorno zu stehen. Vgl. z.B. die folgenden Zitate aus Parva aesthetica (T. W. Adorno, Gesammelte Schriften, hrsg. von R. Tiedemann, Frankfurt a.M. 2003): »Geistige Gebilde kulturindustriellen Stils sind nicht länger auch Waren, sondern sind es durch und durch« (Bd.10, 1, S. 338); und »Man darf annehmen, daß das Bewußtsein der Konsumenten selbst gespalten ist zwischen dem vorschriftsmäßigen Spaß, den ihnen die Kulturindustrie verabreicht, und einem nicht einmal sehr verborgenen Zweifel an ihren Segnungen« (Ebd., S. 342).
17 Vgl. Thomas Bernhard, Beton, in Werke, 5, hrsg. von M. Huber und W. Schmidt-Dengler, Frankfurt a.M. 2005, S. 125-126. Zur weiterführenden Deutung von Beton, insbesondere zum Thema des schriftstellerischen Scheiterns, sei auf meine Arbeit Die Korrektur des Lebens. Studien zu Thomas Bernhard verwiesen, Würzburg 2017, S. 65-100.
18 Ebda., S. 130.
19 Bernhard, Eine Begegnung, a.a.O., S. 246.
20 Bernhard, Beton, a.a.O., S. 89.
21 Ebda., S. 117.
22 Pfabigan beobachtet viele Übereinstimmungen zwischen Beton und Ja (1978), wo die Protagonistin, die als „die Perserin“ bezeichnet wird, vom Ehemann in ein Gebäude aus Beton an einen vollkommen unwirtlichen Ort verschleppt wird, und dies mit dem ausschließlichen Ziel, das Unglück seiner Ehefrau auf den Höhepunkt zu treiben. Das sadistische Ziel dieses Unterfangens wird erreicht: Auf dem Gipfel der Verzweiflung angelangt, wirft sich die Perserin vor einen Betonmischwagen. Vgl. Alfred Pfabigan, Thomas Bernhard. Ein österreichisches Weltexperiment, Wien 1999, S. 324ff.
23 Bernhard, Beton, a.a.O., S. 118.
24 Ebda., S. 120.
25 Ebda, S. 191.
26 Die Geste der jungen Frau erinnert aus der Nähe betrachtet an den antiken Mythos von der Geburt der Malerei, demzufolge die Tochter des Töpfers Butades ihren Geliebten, der in den Krieg ziehen muss, malte, indem sie mit Kreide dessen Schatten am Boden nachzog und sich damit durch eine unvermeidliche Abwesenheit inspirieren ließ. Es sind diese Begriffe, die aus der Nähe betrachtet auf die Fragen hindeuten, die von Jacques Derrida aus philosophischer Sicht behandelt werden. Vgl. Jacques Derrida, Mémoires d’aveugle. L’autoportrait et autres ruines, Paris 1990, S. 54 (Aufzeichnungen eines Blinden: das Selbstporträt und andere Ruinen, München 1997). Zum Thema der Thanatographie s. Derrida, Circumfession (1963).
27 Ebda, Beton, a.a.O., S. 201.
28 Vgl. S. 124.
29 Ebda., S. 126, s. auch M. Latini, La prima frase. A proposito di Cemento, in „Aut Aut”, 325 (2005), S. 97-109.
30 Bernhard, Beton, a.a.O., S. 130.
31 Vgl. Luigi Reitani, Autoritratto dello scrittore come uomo che invecchia (Nachwort zu Bernhard, Cemento, a.a.O., S. 112-132), ebda., S. 128.
32 Bernhard, Beton, a.a.O., S. 91.
33 Dasselbe geschieht in Bernhards langer Erzählung mit dem Titel Ja, in der ein junger Naturwissenschaftler, der an einer Forschung arbeitet, dabei aber von einer intellektuellen Blockade gepeinigt wird, seine Schaffenskrise durch das mysteriöse Verschwinden eines jungen ausländischen Paares überwindet. Auch in diesem Fall gibt es kein happy ending: die Frau, die Perserin, begeht Selbstmord, indem sie sich vor einen mit Beton gefüllten Lastwagen wirft.
34 Zur narrativen Struktur von Beton s. Barbara Mariacher, Schreibend die Existenz verlängern, in „Studien zur Germanistik” 3 (1995), 93-101; dies., Umspringbilder, Erzählen-Beobachten, Erinnern, Frankfurt am Main 1999, und Herbert Pütz, Einige textlinguistische Bemerkungen zu Beton, in „Text & Kontext” 14, 2 (1986), S. 211-236.
35 Vgl. Bernhard, Beton, a.a.O., S. 170. Vgl. zum Schreiben Rudolfs im Gegensatz zum vollständigen Scheitern Konrads: Nikolaus Langendorf, Schimpfkunst. Die Bestimmung des Schreibens in Thomas Bernhard, Frankfurt am Main 2001, S. 87ff.
36 Vgl. Manfred Mittermayer, Thomas Bernhard, a.a.O., S. 331-333.
37 Vgl. Emilio Garroni, Estetica. Uno sguardo-attraverso, Mailand 1992, S. 241ff.
38 Vgl. Adriana Cavarero, Relating Narratives: Storytelling and Selfhood (Tu che mi guardi, tu che mi racconti. Filosofia della narrazione, Mailand 2007 [1. Aufl. 1997], S. 109f.), London 2000.