Kritik der reinen Autonomie im schulischen DaF-Unterricht

BOUCHAMA Nourredine
Laboratoire Traduction et Méthodologie/TRADTEC, Université d’Oran 2 Mohamed Ben Ahmed – Algérie

Abstrakt: Dieser Beitrag befasst sich mit dem Thema Lernerautonomie im schulischen Unterricht. Ich gehe auf die Problematik der Verabsolutierung des Lernerautonomie Begriffs ein, die in den verschiedenen herrschenden Konzeptionen besteht. Im Beitrag werden die bestehenden Versionen der Autonomie in den verschiedenen Bezugswissenschaften der Didaktik kurz gefasst präsentiert und dann eine Kritik gegen die absolute Autonomie geführt. In Form von Thesen wird die reine Autonomie zurückgewiesen und darauf aufbauend die Koexistenz mit der Heteronomie nachgewiesen. Abschließend liefere ich eine Autonomiekonzeption, die mit den curricularen Vorgaben und Unterrichtsfaktoren kompatible ist. Die zentralen Fragestellungen, denen ich in diesem Beitrag nachgehen soll, beziehen sich darauf, ob es eine reine Autonomie überhaupt gibt und welche Konzeption im schulischen Lernen konkret anwendbar sein kann? Es geht mit anderen Worten um die Verortung der Lernerautonomie zwischen der Allmacht und Ohnmacht des Lernenden im DaF-Unterricht.

Schlüsselwörter: Autonomie, Lernerautonomie, Heteronomie, Fremdsprachenunterricht, Unterrichtsprinzipien.

Abstract: This article deals with the subject of learner autonomy in school lessons. I address the problem of the absolutization of the learner autonomy concept, which consists in the various prevailing conceptions. This article describes briefly the existing versions of autonomy in the various sciences that are related to didactics and then presents a critique of absolute autonomy. In the form of theses, pure autonomy is rejected and based on this; the coexistence with heteronomy is proven. Finally, I provide an autonomy concept that is compatible with the curriculum requirements and teaching factors. The central questions, which I should investigate in this article, refer to whether there is a pure autonomy at all and which conception can be applied concretely in school learning? In other words, it is about the location of learner autonomy between the omnipotence and impotence of the learner in the lesson of German as Foreign Language.

Keywords: autonomy, learner autonomy, heteronomy, foreign language teaching, teaching principles.

  1. Begriffsbestimmung der Lernerautonomie

Über den Begriff Autonomie bzw. Lernerautonomie gibt es bis jetzt keinen Konsens. Es herrscht im Gegenteil ein “Definitions-Chaos”, das sich u.a. aus den multi- und transdisziplinären Bezügen des Begriffs ergibt. Dazu besteht die Tatsache, dass für den Begriff Autonomie keine grundlegende theoretische Fundierung besteht, sodass die Forscher im Bereich Fremdsprachendidaktik und Lehrforschung ausgegangen von deren Tendenzen auf eigene Befunde bzw. auf Übersetzungen zurückgreifen, wenn sie das Thema (Lerner-) Autonomie untersuchen möchten. Es bestehen daher verschiedene Konzeptionen über Autonomie, die ich im Folgenden darstelle.

Lernerautonomie Versionen:

Es gibt sechs Konzeptionen der Lernerautonomie, darauf alle Fachdiskussionen in der Fremdsprachendidaktik zurückgehen (SCHMENK, 2008: Kapitel 3).

In der handlungstheoretischen Konzeption wird Lerner-autonomie aufgrund der Auffassung des Begriffs Lernen als Handeln verstanden. Man ist autonom, wenn man den Lern-prozess aufgrund der eigenen Fähigkeiten und Fertigkeiten selbst organisieren und selbstverantwortlich durchführen kann.

Die situativ-technizistische Auffassung konzipiert Lerner-autonomie als ein situatives, isoliertes allein Lernen, im Sinne der isolierten Durchführung und Bearbeitung der Lernaufgaben durch ein technisch basiertes Lernprogramm. Die Anwesenheit der Lehrperson spielt hier keine Rolle, weil die Lernenden mit einem Selbstlernprogramm zu tun haben, das den Lehrer überflüssig macht. Im Rahmen der Kognitivierung des Lernens und Förderung der bewusst machenden Lernaufgaben wird Lernerautonomie in der strategisch-technischen Konzeption auf die effektive und bewusste Verwendung des Lern-strategierepertoires reduziert. Man ist autonom, wenn man eigene Lernstrategien entsprechend und effektiv beim Lernen anwendet.

Aufgrund einer autopoetischen Auffassung der menschlichen Systeme, welche in der konstruktivistischen Lerntheorie als hermetisch, selbstreferentiell und informationell geschlossen verstanden werden, wird das Konzept Lernerautonomie verabsolutiert und als eine dauerhaft existierende Eigenschaft jedes menschlichen Wesens betrachtet. Das Lernen kann nach dieser Auffassung nicht anders als autonom sein. Die von außen kommenden Informationsinputs gelten lediglich als bloße Perturbationen, die per se keine Bedeutung tragen.

Die pädagogische Auffassung konzipiert Lernerautonomie als allgemeines, fächerübergreifendes Erziehungsziel, das neben der akademischen fremdsprachlichen Ausbildung, die Persönlichkeit der Lernenden entwickelt. Lernerautonomie wird dabei als Synonym von Mündigkeit, Selbstbestimmung und Emanzipation gegen Vormundung und Fremdbestimmung verstanden.

Die entwicklungspsychologische Auffassung versteht Lerner-autonomie als eine aus der sozialen Umgebung durch Interaktion und Kommunikation erworbene Fähigkeit, die auf Dauer und mit Training zur Selbstständigkeit führt. Man beginnt dabei heteronom bzw. ist auf die Hilfestellungen anderer angewiesen, dann befreit man sich durch den Interiorisierungs-prozess allmählich von der heteronomen Abhängigkeit bis man hin in die höchsten Stufen der Autonomie gelingt.

Wenn man über die sechs Versionen der Lernerautonomie nachdenkt, trifft man auf zwei polare Konzeptionen, die einen diametralen Widerspruch beinhalten, nämlich die Verab-solutierung und die starke Reduzierung des Begriffs (Lerner-) Autonomie. Diese paradoxalen Konzeptionen entstehen m.E. ursprünglich aus der Vorstellung, welche die Lernerautonomie idealisiert und das Konzept auf der Grundlage der Existenz einer reinen Autonomie fundiert. Dies lässt wiederum eine gegensätzliche Strömung entstehen, die den Begriff durch die übertriebene Fokussierung der heteronomen Vorgaben quasi trivialisiert. Demzufolge wird der Lernende im Unterricht zwischen Allmacht aufgrund der Autonomie und Ohnmacht aufgrund der Heteronomie (durch den Lehrer und die curricularen Vorgaben) schaukeln.

  1. Kritik der reinen Autonomie

Nach den bisher ausgeführten Konzeptionen der (Lerner) Autonomie, stellt man fest, dass die Verabsolutierung und Idealisierung des Autonomiekonzepts zum Absurdum und Trivialisierung führen. Bevor ich die Abgrenzung der reinen Autonomie ausführe, möchte ich zuerst wichtige thesenartige Tatsachen erklären, die sich auf die Kritik der reinen Autonomie beziehen, nämlich:

Der Unterschied zwischen der Existenz eines bestimmten Sachverhalts in der Logik (d. h. theoretisch) und in der Tatsache (d. h. praktisch).

Die Relativität und die Absolutheit der Sachverhalte in der logischen und in Bezug auf die physische Existenz.

Die Koexistenz der dialektischen und diversitätsbezogenen Gegensätze u. a. die Heteronomie und Autonomie.

2.1 Logische versus physische Existenz

Im Gegensatz zur physischen Existenz, welche genau beschrieben werden kann, wie sie in der Wirklichkeit ist, lässt sich die logische Existenz nur als Annäherung und in Verbindung mit den physisch existierenden Gegenständen oder Subjekten definieren. Die Bedeutung der logisch existierenden Sachverhalte wie “Liebe”, “Zorn”, “Hass”, “Freude”, “Angst”, “Autonomie”, “Freiheit”, “Barmherzigkeit”, etc. befinden sich im Verstand des Menschen als eine holistische Vorstellung bzw. als allgemeine Größen. Man kann ihnen in diesem Fall nur eine allgemeine Grundbedeutung leihen, die auch holistisch und pauschal ist.

Aufgrund dieser allgemeinen Größe kann der Sachverhalt verabsolutiert und als absolutes Idealbild begriffen werden. Erst wenn man ihn in die Praxis umsetzt bzw. tatsächlich erlebt, kann man ihn schärfer determinieren, aber jedoch nur in Bezug auf die bestimmten Umstände bzw. im Bezug auf das jeweilige Subjekt, bei dem der Sachverhalt tatsächlich zustande kommt und abläuft. Es ist daher richtig, dass man sagt: Durch das Praktizieren erwirbt man ein neues und ein zusätzliches Wissen über den gleichen Sachverhalt, darüber man bloßes theoretisches Wissen hat.

Durch die Praxis kann man erst die allgemeinen Größen und die holistischen Bedeutungen der Sachverhalte abgrenzen. Durch die Praxis verbindet man die logisch existierenden Sachverhalte mit den Wirklichkeitsbezügen, die sie phänome-nisieren und vergegenständigen.

2.2 Relativität versus Absolutheit

Alles ist relativ bedeutet auch nichts ist absolut. Die Relativität relativiert die Absolutheit und die Absolutheit grenzt die Relativität ab. Dies heißt, dass die Relativität selbst nicht absolut und die Absolutheit relativ sein soll (IBN Al-KAYIM, 1994:965 ff.).

Eine universelle Norm besagt, dass jeder Grund-Sachverhalt seinen Gegensatz haben muss und nur dadurch kann es dazu kommen, dass der bestimmte Sachverhalt einen Sinn bzw. einen Stellenwert bei den Menschen hat. Das Leben, die Gesundheit, die Ruhe, der Frieden …, hätte man deren großen Wert nicht erkannt, wenn es kein Sterben, keine Krankheit, keine Unruhe, keinen Krieg … gäbe.

Diese Art der “gegensätzlichen Diversität” lässt die Sach-verhalte in diesem relativen Leben einen Sinn und Stellenwert haben, ansonsten hätten wir Menschen den Wert dieser Sachen von vornherein überhaupt nicht geachtet. Dazu erlaubt uns das Existieren des Gegensatzes, den Sachverhalt besser zu bestimmen und seine natürliche Grenze bzw. seinen genuinen Rahmen, in dem er abläuft, genauer festzulegen. Die dia-lektische Beziehung zwischen den gegensätzlichen Sach-verhalten ist also ein muss und die Koexistenz der gegensätzlichen Sachverhalte in Bezug auf die Praxis bzw. auf die konkreten Taten grenzt die theoretische Absolutheit in der Vorstellung ab.

Demzufolge ist es sinnvoll, wenn man den Begriff Autonomie – oder irgendeinen Begriff – festlegen möchte, nicht nur das, was die Autonomie ist, bekannt zu geben, sondern auch das, was Autonomie nicht ist (APELTAUER, 2011: 23). Eine Definition eines Sachverhaltes an sich, ohne auf seinen diametralen Gegensatz, mit dem es koexistiert, einzugehen, ist eine einseitige und unvollständige Definition. Aus diesen ausgelegten Thesen ergeben sich folgende Postulate:

Alles ist in Bezug auf die Praxis relativ.

Die Relativität selbst ist nicht absolut.

Die Absolutheit besteht in der logischen Existenz (in der Theorie) in Bezug auf das Idealbild der Sachverhalte.

Die konkrete Abgrenzung eines Sachverhaltes folgt erst, wenn man ihn mit den Wirklichkeitsbezügen verbindet und in die Praxis umsetzt.

Die vollständige Definition ist eine, die zweipolar erfolgen muss. Ein Pol beinhaltet, was die Sache ist und ein umfasst, was sie nicht ist.

Die Existenz der Sachverhalte in dieser Welt ist auf dem Prinzip der widersprüchlichen Diversität aufgebaut, sodass jede Sache deren Gegenteil hat, das mit ihr schaukelt und koexistiert.

2.3 Heteronomie vs. Autonomie: Koexistenz und Verstricktheit

Der Mensch kommt zur Welt mit verschiedenen oder auch mit diametral widersprüchlichen angeborenen Motiven und Bedürfnissen, die schon seit der Geburt aktiv sind und die dann in Interaktion mit der Außenwelt treten. Sie spielen eine unbestrittene Rolle im Erwerb der sekundären Motive. Schon bei der Nullposition (d.h. seit der Geburt) verfügt das Individuum über diverse Elemente, die seinen Charakter und Persönlichkeitsentwicklung mehr oder weniger beeinflussen. Diese deutet darauf hin, dass nichts verabsolutiert werden kann, was mit einem der angeborenen und erworbenen Motive und Bedürfnisse zu tun hat, weil es einfach durch das gegensätzliche Motiv / Bedürfnis abgegrenzt wird. Wenn der Mensch zum Beispiel über angeborene Autonomie Motive verfügt (DECI / RYAN 1993: 239) und damit zur Welt kommt, ist er auch als soziales Wesen mit Sozialmotiven und Bedürfnissen ausgerüstet, welche die Heteronomie fordern.

Die Vorstellung, wir können als Einzelperson die vollständige Autonomie erlangen, ist in zahllosen philosophischen Schriften ad Absurdum geführt worden (MEYER-DRAWE 1990; 1998; RIEGER LADIG, 2002 zit. n. SCHMENK 2012: 65).

Im Kontext des schulischen Lernens ist eine trennscharfe Abgrenzung zwischen Autonomie und Heteronomie eine unmögliche Aufgabe, zumal beide Konzepte im Kontext des Lernhandelns ineinander verschmolzen sind. Bei den Lernhandlungen, die der Lernende situativ gesehen selbständig vollziehen bzw. autonom durchführen möchte, sind in der Tat nicht absolut autonom, weil sie auf die Grundlage des vorher erworbenen Wissens basieren. Der Schüler handelt aufgrund der vorher internalisierten Erfahrungen und Vorgaben, die wiederum heteronom oder auch teilweise autonom angeeignet wurden.

Also die Verwobenheit der Autonomie und Heteronomie bildet ein Kontinuum. Selbst wenn man zur Nullposition zurückgeht, legt man fest, dass der Mensch, angesichts der Sprachaneignung und Persönlichkeitsbildung, seit der Geburt bzw. seit der früheren Kindheit nicht vollständig autonom ist. Das Kind beginnt direkt nach seiner Geburt mit der Heteronomie, nämlich die Abhängigkeit von den Eltern. Jedes Handeln, das er heteronom von seinen Eltern erlernt hat, erweitert in späteren Situationen seinen Autonomiebereich. Wenn er mit der Gesellschaft in zunehmend zahlreichen Kontakten tritt, werden die vorher heteronom erworbenen Verhalten und Handeln in der aktuellen Handlungssituation als autonom gesehen (SANCHEZ 2015: 227). Tiefgründiger gehe ich noch, indem ich auf das angeborene Motiv der Autonomie (vgl. DECI / RYAN 1993: 239) eingehe.

Dieses Motiv wird einerseits durch die Art der Erziehung entweder gefördert oder mehr oder weniger gehemmt. Andererseits ist es nicht das einzige Motiv, das unsere Verhalten und Benehmen beeinflusst, sondern kommt mit den “gegenteiligen” Motiven vor, nämlich den Sozialmotiven, welche dem Sozialitätsbedürfnis, Akzeptanz-Bedürfnis, Zustimmungsbedürfnis, sozialen Bindungsbedürfnis u. a. zugrunde liegen. Das Vorwissen, das man am Anfang jedes Unterrichts aktivieren soll, damit die einzelnen Schüler Informationsinput erfolgreich empfangen und verarbeiten können, ist auch nicht vollständig autonom erworben.

“Die Idee einer vollständigen Autonomie dient indessen – wie etwa die Idee der Wahrheit – auch wenn sie in Gänze nicht erreichbar ist, als Leitvorstellung von dem Moment an, in dem die Autonomie bewusst geworden ist.” (SANCHEZ, 2015: 227).

Aufgrund der oben dargestellten thesenartigen Ideen, stellt man fest, dass die Autonomie nicht verabsolutiert werden kann, es sei denn nur als eine theoretische Vorstellung und ein Idealbild, das in die Tat – in seinem absoluten und reinen Sinn – nicht umsetzbar sein kann. Also “Voraussetzung für eine nicht-triviale Autonomiebestimmung ist dabei zudem die Anerkennung der Unmöglichkeit reiner Autonomie.” (SCHMENK, 2012: 65).

Von der eben belegten Unmöglichkeit der reinen Autonomie ausgehend, möchte ich auf den Gegensatz der Autonomie eingehen, nämlich die Heteronomie. Dieser Begriff beinhaltet den Sinn der Fremdbestimmung und klingt daher negativ, insbesondere im Kontext des neuen Richtungsausschlags in der Forschung des Lehrens und Lernens fremder Sprachen (KÖNIGS, 2004: 524) bzw. der Lernerautonomie Förderung. Dennoch ist Heteronomie nicht so wenig wichtig als Autonomie, zumal sie den Verwendungsrahmen bzw. die genuinen Grenzen der Autonomie bestimmt.

“Man wird realistische Möglichkeiten selbstbestimmten Handelns und Entscheidens nur dann erkennen können, wenn man nicht leugnet, dass sie nur in Grenzen möglich sind” (SCHMENK 2012: 66). [Es gibt] einen praktischen Sinn von Autonomie, der sich theoretisch nicht adäquat ausweisen läßt. Als Chiffre für eine humane Gesellschaft bleibt Autonomie unverzichtbar, weil sie gegen reale Fremdbestimmungen protestiert, wenngleich deren vollständige Beseitigung aussichtslos ist. Aber auch dem Denken bleibt vollständige Autonomie vorenthalten, weil es über das, was des Gedachten eingebunden bleibt in eine dichte Erfahrungswelt voller heteronomer Bestimmungen” (MEYER-DRAWE, 1990, S. 64./1998. Zit. n. SCHMENK, 2008: 281).

Mayer Drawe meinte, dass ein starkes “Ich” ist eines, das die Existenz der Heteronomie anerkennt und von seiner Verwobenheit damit [d.h. Autonomie] bewusst weiß.

“ein starkes Ich […] ist eines, das sich verstrickt weiß in die zahlreichen Relationen, in denen es sich bildet, ohne dieses Verkennungsschicksal annulieren zu wollen. Eine solche Ich-Konzeption, für die in anderen Sprachen die Formulierungen leichter sind, etwa in der Beziehung von I und me oder je und moi, beklagt nicht den Tod des Subjekts, sondern befreit die Ich-Auffassung von einer belastenden Tradition, in der das Ich als Souverän auch die Bürde aller Handlungsfolgen zu tragen hatte. Das Ich ist Souverän und Untertan zugleich, es hat sich nicht zu entscheiden zwischen Unschuld und Gewalt, allerdings wird es damit nicht verantwortungslos, sondern hat die Aufgabe, […] jeweils von neuem kritisch danach zu fragen, ob die Beziehung zwischen Selbst- und Fremdbestimmung so sein muß, wie sie ist” (MEYER-DRAWE, 1993, S. 200; zit. n. ebd. 282).

  1. Abgrenzung der Lernerautonomie

Wenn man davon ausgeht, dass sich ein Unterricht evtl. auf Lehrer, Lerner, Lernmaterial und Methode als Eckbausteine stützt, ist dann eine Auffassung der Lernerautonomie, die ein oder mehrere Unterrichtsbausteine für nichtig macht, zurück-zuweisen. Durch die Einbettung der Lernerautonomie ins schulischen Lerngeschehen kann man jedoch Rollen und Bedeutungen der Unterrichtsbausteine verändern. Es ist daher von Bedeutung, dass man den Begriff Lernerautonomie den anderen Begriffen im Rahmen des Fremdsprachenunterrichts anpasst. Dafür reicht eine Definition nicht, die den Inhalt und Kern der Lernerautonomie aufklärt, sondern soll dazu bestimmt werden, was zum Inhalt und Kern nicht gehört und zwar:

Lernerautonomie hat nichts damit zu tun, dass man auf Lehrkräfte verzichtet oder dass Lehrkräfte überflüssig gemacht werden. In Umkehrschluss können Lehrkräfte Autonomie nicht zerstören, sondern nur nach Bedarf einschränken und deren Absolutheit relativieren.

Lernerautonomie ersetzt nicht die anderen Methoden und Prinzipien, sondern sie ergänzt sie. Sie bezeichnet ein Unterrichtsprinzip, das den Weg anleitet und Anweisungen klärt, wie die Lehrenden mit den Lernenden in Bezug auf deren eigenen Kompetenzen, Fähigkeiten, Sozialumfeld und Lernmaterialen umgehen.

Lernerautonomie ist in der Praxis elastisch und graduell. Sie kann sich in verschiedenen Verhaltensweisen zeigen und hängt von den individuellen, sozialen, Lern- und Sprachfaktoren ab. (Vgl. APELTAUER, 2011: 23, SANCHEZ, 2015: 229).

Um Lernerautonomie in der Praxis des Fremdsprachen-unterrichts zu konkretisieren, soll man Anschlussstellen im Unterricht finden, daran Autonomiefaktoren verknüpft werden können.

  1. Kompatible Autonomiekonzeption

Die verschiedenen Auffassungen und Interpretationen der Lernerautonomie führen zwangsläufig zu unterschiedlichen didaktischen Ansätzen und zu unterschiedlichen Umsetzungs-weisen in die Unterrichtspraxis. Das Problem der Lerner-autonomie Konzeption und ihre Berücksichtigung in der Unterrichtspraxis entspricht dem Problem der Elefanten-geschichte, dabei eine Gruppe von Blinden zum ersten Mal in ihrem Leben einen Elefanten begegneten. Jeder von ihnen hat nur ein Teil vom Elefantenkörper betastet und gibt dabei an, dass der Elefant so groß wie dieses Teil ist. Wenn man die Blinden beauftragt, den Elefanten zu beschreiben, damit man aufgrund ihrer Beschreibung ein Haus für ihn baut, dann kann jeder lediglich das Teil beschreiben, das er betastet hat.

Obwohl die Beschreibung des Teils an sich richtig ist, bleibt allerdings mangelhaft und unvollständig, um den ganzen Elefanten zu beschreiben. Die jeweilige Beschreibung reicht ausschließlich für das Teil, aber nicht für den ganzen Elefanten. Wenn man ein Haus für den Elefanten baut, dann passt er nicht rein. Die Lösung besteht dann darin, dass man alle Beschreibungen zusammenstellt und dann ein Haus für alle Stücke zusammen baut (SCHMENK, 2013: 4f.).

Dies bedeutet, dass man in Bezug auf die Unterrichtspraxis alle Konzeptionen der Lernerautonomie berücksichtigen soll. Jede Konzeption muss jedoch abgegrenzt, relativiert und da angewendet werden, wo sie am besten im Unterricht passt. Alles wird im Unterricht berücksichtigt, solange es dafür eine wissenschaftliche Begründungen besteht, bleibt aber nur die Frage wie, wann, mit wem und in welcher Maße wird Autonomie angewendet werden.

Im Folgenden werde ich tabellarisch darstellen, wo und mit welchem Faktor jede Autonomiekonzeption im Unterricht am besten passt. Dabei bedeutet das Pluszeichen (+) “passt gut” und Minuszeichen (-) “passt nicht oder spielt keine Rolle”. Zwei Pluszeichen (+ +) bedeutet “passt am besten und spielt eine zentrale Rolle”. Minus- und Pluszeichen zusammen (-) (+) bedeutet” passt, aber spielt eine geringe Rolle”. Die Tabelle (siehe Tabelle unten) zeigt, dass die psychologische Konzeption mehr Kompatibilität mit den Unterrichtsvorgaben zeigt als die Anderen. Die situativ technizistische, die radikal-konstruktivistische und die pädagogisch fächerübergreifende Konzeptionen sind hingegen wenig kompatibel und erlauben meistens nur eingeschränkte Übertragung auf die schulischen Rahmenbedingungen und Lernsituationen.

Die Konzeptionen, die Lernerautonomie als individuelles Lernen auffassen, passen nicht so ganz zu den schulischen Lernsituationen. Sie sind eher für die Weiterbildung nach der schulischen und formalen Fremdsprachenausbildung oder in den Selbstlernzentren für Erwachsenenbildung in Fremd-sprachen geeignet (vgl. TASSINARI, 2009). Die Tabelle veranschaulicht zudem die Wichtigkeit und die Anwendungs-möglichkeiten der Lernerautonomiekonzeptionen in der Fremdsprachenunterrichtspraxis.

Tabelle: Wichtigkeit und Anwendungsmöglichkeit der Autonomiekonzeptionen in der Fremdsprachenunterrichtspraxis

Quelle: Eigene Tabelle

  1. Schluss

Eine reine verabsolutierte Lernerautonomie ist in Bezug auf die Tatsache bzw. auf die konkreten Lernsituationen unmöglich. Reine und absolute Autonomie kann nur in den theoretischen Vorstellungen der Menschen als allgemeine Größe und als Idealbild existieren. Eine kompatible Konzeption der Lernerautonomie soll die sein, die den Lernenden als soziales Wesen und zugleich die Unterrichtsvorgaben respektiert. Eine kompatible Konzeption der Lernerautonomie in Bezug auf die Praxis des Fremdsprachenunterrichts soll allen bestehenden Konzeptionen Rechnung tragen. Jede Konzeption muss jedoch da angewendet werden, wo sie am besten im Unterricht passt

Literatur

Apeltauer, Ernst (2011): Lernerautonomie, Lehrerautonomie und Deutsch als Fremdsprache. In: “Globalisierte Germanistik: Sprache, Literatur, Kultur. Tagungsbeiträge. XI. Türkischer Internationaler Germanistik-Kongress 20. – 22. Mai 2009. Verlag Ege Univer. Matbaaei. Izmir.

Deci, L. Edward / Ryan, M. Richard (1993): Die Selbstbestimmungstheorie der Motivation und ihre Bedeutung für die Pädagogik. Zeitschrift für Pädagogik. 1993, 39. Jg. Heft 2/1993. Lernmotivation – Ästhetische Bildung – Waldorfschulen in der Diskussion. Beltz. S. 224- 238.

MEYER-DRAWE, KÄTE (1990): Illusionen von Autonomie. Diesseits von Ohmachtund Allmacht des Ich. München: Kirchheim.

MEYER-DRAWE, KÄTE (1993): Das Ich im Spiegel des Nicht-Ich. Bildung undErziehung, 46, 195–205.

MEYER-DRAWE, KÄTE (1998): Streitfall ‘Autonomie’. Aktualität, Geschichte undSystematik einer modernen Selbstbeschreibung von Menschen. In Bauer, Walter; Lippitz, Wilfried; Marotzki, Winfried; Ruhloff, Jürgen; Schäfer, Alfred & Wulf, Christoph (Hg.): Fragen nach dem Menschen in der umstrittenen Moderne (Jahrbuch für Bildungs- und Erziehungsphilosophie1), Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren, 31–49.

SANCHEZ, MONICA (2015): Die Bedeutung der Gradualität für das Konzept des autonomen Lernens. Erich Schmidt Verlag GmbH &Co. KG, Berlin.

SCHMENK, BARBARA (2008): Lernerautonomie. Karriere und Sloganisierung des Autonomiebegriffs. Gunter Narr Verlag, Tübingen. In: Bredella, Lothar / Christ, Herbert / Legutke, Michael K. / Meißner Franz-Joseph / Rösler, Dietmar (Hrsg.): “Giessener Beiträge zur Fremdsprachendidaktik.”

SCHMENK, BARBARA (2012): Von Autonomie zu Aufgaben und zurück.Oder: Wie muss ein Autonomiekonzept aussehen, das uns hilft didaktisch- methodische Entscheidungen für das aufgabenorientierte Lernen zu treffen? In: Biebighäuser, Katrin/ Zibelius, Marja / Schmidt, Torben: Giessener Beiträge zur Fremdsprachendidaktik. Aufgaben 2.0 Konzepte, Materialien und Methoden für das Fremdsprachenlehren und -lernen mit digitalen Medien. Narr Francke Attempto Verlag Tübingen, S. 57 – 89.

SCHMENK, BARBARA (2013): Autonomie und Individualisierung. Falsche Freunde oder echte Verbündete. University of Waterloo, Kanada.

TASSINARI, MARIA GIOVANNA (2009): Autonomes Fremdsprachenlernen an der Hochschule: Komponenten, Kompetenzen und Strategien.

Arabische Quellen:

IBN KAIYM AL-DJOUZIAH (1994): Schlüssel des Wohlhauses und Verkünder der Herrschaft vom Wissen und Willen. 2. Band. Al-Djil-Verlag.

أبو عبد الله محمد بن ابي بكر ابن قيم الجورية (691-751 ه): مفتاح دار السعادة

ومنشور ولاية العلم و الارادة. المجلد الثاني. طبعة دار الجيل 1994.