Jutta Linder
(Universität Messina)
jlinder@unime.it
Abstract:
Noch bevor der Weltkrieg zu Ende ging, hat Kafka für sich eine Zeit eingelegt, in der er bewusst – und dies in überraschendem Gegensatz zu dem Drang zum Schreiben, von dem er bekanntlich sonst erfüllt war – von dichterischer Produktivität absehen wollte. Wie diese Entscheidung im Einzelnen einzuordnen ist und ob bei ihr vielleicht auch der Gang der großen Politik mitspielte, hat zu erhellen der vorliegende Beitrag sich zur Aufgabe gemacht.
Mitte September 1917 begab sich Kafka aufs Land nach Zürau, in ein kleines böhmisches Dorf im Westen Prags auf Karlsbad zu gelegen, wo seine Schwester Ottla den Hof des Schwagers bewirtschaftete. Auf Monate ist er dorthin gezogen, um sich von der tuberkulösen Attacke zu erholen, die ihn gut vier Wochen zuvor in der Heimatstadt überrascht hatte1. Wohltuend umgeben von der Gegenwart der Lieblingsschwester2 und durch das Leben im Freien in kurzer Zeit soweit stabilisiert, dass er bei den Arbeiten auf dem Hof, dem Feld und im Gemüsegarten zur Hand gehen konnte3, war er von der Richtigkeit der Ortswahl – als Alternative hatte der Aufenthalt im Sanatorium zur Debatte gestanden, eine Lösung, auf die er bekanntlich später mehrfach zurückgreifen musste – alsbald überzeugt. So schreibt er etwa im Rahmen seiner Berichterstattung, die er den Freunden in Prag zukommen ließ, an Felix Weltsch in einem Brief vom 11. Oktober:
Hat man erst einmal das Gefühl mit allen seinen Unannehmlichkeiten überwunden, in einem nach neueren Principien eingerichteten Tiergarten zu wohnen, in welchem den Tieren volle Freiheit gegeben ist, dann gibt es kein behaglicheres und vor allem kein freieres Leben als auf dem Dorf, frei im geistigen Sinn, möglichst wenig bedrückt von Um- und Vorwelt. Nicht verwechseln darf man dieses Leben mit dem in einer Kleinstadt, das wahrscheinlich fürchterlich ist. Ich wollte immer hier leben […]4.
Mit der Aussicht dann von der eigenen Dienststelle, der Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt für das Königreich Böhmen, wo er seit 1908, inzwischen in der leitenden Position eines Vizesekretärs, sich sein Brot verdiente, sogar langfristiger noch beurlaubt zu werden5, zeigten sich die äußeren Umstände insgesamt auch der Aufnahme dichterischer Tätigkeit förderlich. Und doch, als Max Brod, der besorgte Freund, nach einer gewissen Beruhigung über den Zustand Kafkas in einem seiner ersten Briefe nach Zürau die Frage stellte »Schreibst Du etwas?«6, bekam er als Antwort die lakonische Auskunft: »Ich schreibe nicht. Mein Wille geht auch nicht geradezu aufs schreiben«7.
Die Antwort Kafkas mutet seltsam an, nicht etwa mit ihrem ersten, sondern vielmehr mit dem zweiten Teil. Das Faktum einer Pause im Produktiven als solches, von dem der erste Satz spricht, ist ja nichts Ungewöhnliches im Alltag eines Schriftstellers, gehört vielmehr zum üblichen Auf und Ab seiner Arbeit. Der Folgesatz aber, mit dem Kafka sagt, dass sein »Wille« auch »nicht geradezu aufs schreiben« gehe, das ist es, was in seinem Fall zu denken gibt, weil es doch so gar nicht zu der Dringlichkeit passt, mit der er sonst auf seinem kreativen Muss zu bestehen pflegte. Erinnert sei beispielsweise an das Bekenntnis, das er Carl Bauer gegenüber ablegte, als er sich ihm im August 1913 als Ehekandidat der Tochter Felice präsentierte: »Mein ganzes Wesen ist auf Litteratur gerichtet, die Richtung habe ich bis zu meinem 30sten Jahr genau festgehalten; wenn ich sie einmal verlasse, lebe ich eben nicht mehr«8. Und verwiesen sei, um ein weiteres Beispiel anzuführen, auf die Tagebucheintragung vom 6. August 1914, die besagt: »Von der Litteratur aus gesehen ist mein Schicksal sehr einfach. Der Sinn für die Darstellung meines traumhaften innern Lebens hat alles andere ins Nebensächliche gerückt und es ist in einer schrecklichen Weise verkümmert und hört nicht auf zu verkümmern. Nichts anderes kann mich jemals zufrieden stellen«9.
Noch seltsamer wirkt die Antwort Kafkas angesichts der Tatsache, dass aus der Zeit, die er in dem böhmischen Dorf verbracht hat, doch Schriftliches von ihm überliefert ist, nämlich jenes Corpus von Aufzeichnungen, das unter der Bezeichnung Zürauer Aphorismen in die Literaturgeschichte eingegangen ist. Wie verhält es sich dann mit diesen?
Dass Kafka seinen ursprünglichen »Willen« wieder revidiert haben soll, ist eher unwahrscheinlich, wenn man bedenkt, dass zwischen besagtem Brief an Brod und dem Tag, an dem die Niederschrift der Aphorismen begann, nicht mehr als anderthalb Wochen gelegen haben10. Anzunehmen ist eher, dass er die betreffenden Notizen erst gar nicht dem zurechnete, was er als sein eigentliches Schreiben verstand, will sagen der, wie er sich ausdrückte, »Darstellung« seines »traumhaften innren Lebens«. Von daher verstünde sich auch das mildernde »nicht geradezu«, das er immerhin einfügte, als er die brüske Eröffnung machte. Gehen wir der Sache weiter nach.
Angezeigt ist, sich an die Genese besagter Texte zu halten. Gehandelt hat es sich um Notate, die Kafka zunächst, das heißt in der Zeit von etwa Mitte Oktober 1917 bis Ende Februar 1918, in zwei Schulheften – den sogenannten Oktavheften G und H11 – untergebracht hat, indem er sie im Einzelnen jeweils durch horizontale Striche auf den Seiten voneinander trennte. Was den Inhalt betrifft, so bestehen sie zum größten Teil aus Meditationen, die um Grundfragen der menschlichen Existenz kreisen. Zitiert sei zur Verdeutlichung ein Eintrag, der – bei übrigens starker Affinität zu einer Goethe-Stelle12 – die Frage nach Religionsbedürfnis betrifft:
Der Mensch kann nicht leben ohne ein dauerndes Vertrauen zu etwas Unzerstörbarem, wobei sowohl das Unzerstörbare als auch das Vertrauen ihm dauernd unbekannt bleiben können. Eine der Ausdrucksmöglichkeiten dieses Verborgen-Bleibens ist der Glaube an einen persönlichen Gott13.
Andererseits gibt es aber auch in den Schulheften, und zwar systematisch durch stetiges Einflechten, Notizen, die ganz konkret Tagesereignisse zum Gegenstand haben wie folgende, die sich kurz auf die zitierte hin zeigt: »Bett, Verstopfung, Rückenschmerz, gereizter Abend, Katze im Zimmer, Zerworfenheit«14. Und gerade dadurch, dass derartige Bemerkungen – um es einmal so auszudrücken – vom Typus B denen vom Typus A durchweg unterlegt sind, zeigt sich, wie das Geschriebene insgesamt tagebuchartig entstanden ist. Nur dass, so muss natürlich gleich hinzugefügt werden, der Inhalt selbst vorwiegend durch Meditationen bestimmt wird, wie sie dem Dichter Tag auf Tag, und zwar vielfach in Zusammenhang mit paralleler Lektüre aus Kierkegaard etwa15 aber auch anderen noch16, während dieser langen Erholungsmonate zufielen. In den letzten beiden dann, will sagen im März und April 1918, ist Kafka selbst zur Ernte übergegangen, indem er das rein Kontingente, Eintragungen also vom Typus B, auf sich beruhen ließ und die vom Typus A, die eigentlichen Meditationen mithin, herausfilterte und auf einzelne Zettel übertrug, die er durchnummerierte, womit er eben jenes Zettelkonvolut17 erstellte, welches die Textgrundlage der sogenannten Zürauer Aphorismen gebildet hat.
Versucht man an dieser Stelle eine kurze Zwischenbilanz zu ziehen, so lässt sich sagen, dass Zürau bei Kafka einen Moment markiert, wo er die »Darstellung« seines »traumhaften innern Lebens« für eine Weile hintanstellte, um einer grundsätzlichen Verortung seiner selbst in der geistigen Welt, und zwar vor allem im Hinblick auf Fragen der Religion, Raum zu geben. Als auslösendes Moment hat dabei zweifellos der Ausbruch der Tuberkulose gewirkt, den er im August 1917 erlitt; zu verräterisch sind die Bemerkungen aus den Selbstzeugnissen, die sich auf eine Verarbeitung dieser Tatsache beziehen, indem sie erkennen lassen, wie der Dichter darum gekämpft hat, solches Geschick, das ihn im Grunde mit dem Tod konfrontierte18, in seinen Lebensplan konstruktiv zu integrieren. Mehr »Schutzengel« als »Teufel« sei die Krankheit19, er klammere sich an sie, wie es das Kind bei den »Rockfalten der Mutter« tue20, sie sei ein »Sinnbild«, eine »Wunde«, deren »Entzündung« den Namen »Felice« trage21, die »Lunge« habe übernommen, was das »Gehirn« nicht mehr habe halten können22, so und ähnlich der Tenor der Überlegungen, mit denen er der Krankheit intellektuell beizukommen versucht. Nur folgerichtig schließt sich dann das Bestreben an, von dem die Meditationen ja Zeugnis ablegen, seine Reflexionen zu Existenzfragen überhaupt auszudehnen. Dass auf die Monate von Zürau, die noch den April 1918 einbezogen, eine bis Ende 1919 dauernde Periode folgte, in der bis auf den Brief an den Vater nichts mehr produziert wurde, ist als wichtiges Moment in unserem Zusammenhang festzuhalten. Als Signal sozusagen, dass die Phase des neuen Sich-Verortens – und zu einem solchen gehört der »Vaterbrief«23 als Generalabrechnung auf seine Weise eben auch – bis in die Zeit hineingereicht hat, in der mit Ende des Großen Krieges das Gesicht der Nationen sich grundlegend wandelte. Hatte dann aber, um auf die politische Seite zu kommen, auch das Zeitgeschehen auf die beschriebene Dynamik in Kafkas Entwicklung Einfluss genommen?
Zunächst einmal sei dem Eindruck von politischer Indifferenz im Falle Kafkas entgegenzuwirken, wie er sich nur allzu leicht einschleicht, wenn man auf die – so oft zitierte – Stelle im Tagebuch trifft, die vom Ausbruch des Ersten Weltkriegs spricht, indem es dort unter dem 2. August 1914 heißt: »Deutschland hat Rußland den Krieg erklärt. – Nachmittag Schwimmschule«24. Zugegeben, diese lakonische Verbindung von – in der Formulierung Goethes – »großweltischen Ereignissen«25 mit alltäglich Privatem lässt isoliert gesehen stutzig werden. Doch nimmt man diesen Typus von Eintragung einfach nur als Eigenheit Kafkas in der Buchführung, die nichts über seine persönliche Meinung aussagt, dann kommt man der Wahrheit wohl am nächsten. Denn ganz ähnlich ist er gleichfalls im Hinblick auf jene Szene im Berliner Askanischen Hof verfahren – seine Konfrontation mit einem aus der Verlobten, deren Schwester sowie Freundin zusammengesetzten Tribunal –, die ja nun wirklich, wie man weiß, von traumatischer Wirkung auf ihn war, und zwar derart dass sie als autobiographisches Moment die Niederschrift des Proceß-Romans entscheidend befördert hat. So lautet es wiederum im Tagebuch unter dem 27. Juli 1914, also drei Tage nach dem fatalen »Gerichtshof im Hotel«26: »Ansprache vom Richtplatz. Zweimal in der Schwimmschule am Strahlauer Ufer gewesen«27.
An anderen Stellen der Quellenüberlieferung zeigt sich im Übrigen, dass das Interesse des Dichters sehr wohl auf das „Großweltische“ ausgerichtet war, und zwar sogar mit starker persönlicher Anteilnahme. Eine Woche lang, so schreibt Kafka Anfang November 1912 mit Bezug auf die Entfesselung des ersten Balkankriegs in einem Brief an Felice Bauer, habe er im Schlaf »nur Montegriner gesehn mit einer äußerst widerlichen, Kopfschmerzen verursachenden Deutlichkeit jedes Details ihrer komplicierten Kleidung«28. Und im Tagebuch vermerkt er, indem er an das österreichische Debakel von Lemberg anknüpft, unter dem 13. September 1914:
Wieder kaum 2 Seiten. Zuerst dachte ich die Traurigkeit über die österreichischen Niederlagen und die Angst vor der Zukunft (eine Angst die mir im Grunde lächerlich und zugleich infam vorkommt) werden mich überhaupt am Schreiben hindern […] Die Gedankengänge die sich an den Krieg knüpfen sind in der quälenden Art mit der sie mich in den verschiedensten Richtungen zerfressen ähnlich den alten Sorgen wegen F.29.
Mit der »Traurigkeit« bezüglich des Schicksals Österreichs wird eine weitere wichtige Taste berührt, will sagen die Frage nach möglicher vaterländischer Verbundenheit bei Kafka. Und bestanden hat eine solche in der Tat, mehrfach nämlich hat er, nachdem er bei den Aushebungen vom Juni 1915 für tauglich befunden worden war, es darauf anlegt, als Soldat an die Front zu kommen, nur dass jedes Mal die Prager Arbeiter-Unfall-Versicherung, die ihren vorzüglichen Beamten auf keinen Fall entbehren wollte, diesen mit Erfolg für sich reklamierte und dadurch Befreiung vom Militärdienst bewirkt hat30. Dass ihm persönlich die Reklamation zu schaffen machte, ist belegt, zum Beispiel durch die Korrespondenz mit Felice, die Bemerkungen bringt wie die vom April 1915: »Außerdem leide ich am Krieg meistens dadurch, daß ich nicht selbst dort bin«31. Oder wie die vom April des Jahres darauf: »Im Feld wäre es besser«32. Das Tagebuch wiederum gibt diesbezüglich gleichfalls Auskunft, dort spricht Kafka unter dem 11. Mai 1916 von der Option Kriegsdienst als »2 Jahre verhaltenem Wunsch«33 seinerseits, und am 27. August des Jahres notiert er unter dem, was er sich vorzunehmen gedacht hat: »Die nächste Aufgabe ist unbedingt: Soldat werden«34.
Indem er Letzteres bei einer entschlossenen Selbstaufmunterung in großem Rahmen geltend macht, wo es unmittelbar zuvor geheißen hat: »Dich schwinge also auf, Dich bessere, der Beamtenhaftigkeit entlaufe, fange doch an zu sehn, wer Du bist, statt zu rechnen, was Du werden sollst«35, dann setzt das schon auf die Spur, von der aus dieser zunächst nicht so leicht zu verstehende militärische Impuls besser einzuordnen ist. Natürlich war Kafka, so sei vorangeschickt, kein Freund von Kriegsunternehmungen; »wie kann man«, hält er im Diarium vom November 1917 in Bezug auf eine der Schlachten am Tagliamento fest, von der er nachts geträumt hat, »da man doch auch nur ein Mensch ist, Menschen, die den Willen haben sich zu wehren, jemals überwältigen«36. Doch der Drang, sich bewähren zu müssen, sein bekanntes altes Problem37, hat ihn wohl auch gegenüber der Kriegsdienstfrage in seiner Haltung bestimmt in dem Sinne, dass es alles daranzusetzen galt, nicht denen zugeordnet zu werden, die sich um die Front drückten38. Nicht von ungefähr ist auch im Rahmen der zitierten Tagebucheintragung von »Verantwortung« und »Verantwortungsgefühl« die Rede39.
In welchem Maße Kafka überhaupt von dem Gefühl bürgerlicher Verantwortung geprägt war, zeigt sich insbesondere bei einem Blick auf die Materialien, die von seiner beruflichen Tätigkeit Zeugnis ablegen, welcher er – den vielen brieflichen Klagen über das »Bureau« zum Trotz40 – in vorbildlicher Pflichterfüllung nachgegangen ist. Als bezeichnend für sein soziales Engagement sei der Appell Helfet den Kriegsinvaliden! angeführt, den er im Namen seiner Institution41 für das Prager Tageblatt vom 16. Dezember 1916 verfasst hat und in dem er unter anderem zum Thema Kriegsversehrte vermerkt:
Die moderne Medizin bringt manche Milderung der schweren, bleibenden Leiden, sie ersetzt fehlende Gliedmaßen durch kunstvolle Prothesen, sie lehrt Taube, die Worte vom Mund abzulesen und so mit den Augen zu hören, sie gibt Blinden Reliefschriften und baut so noch dort erträgliche Existenzen auf, wo das Schicksal schon völlig schwarz und aussichtslos schien. Aber auch sie kann die Invaliden nicht wieder voll erwerbsfähig machen, sie kann ihnen nicht den Lebensmut und die Zuversicht wiedergeben, die der gesunde Körper besitzt. Die Invaliden bleiben hilfsbedürftig und ihnen Hilfe zu spenden, ist eine heilige Pflicht unser aller42.
»Nein«, so sagt er wenig später, wenn er mit der Schrift die Bevölkerung Prags zu finanzieller Unterstützung der amtlichen Kriegsheimkehrerfürsorge aufruft, »dies soll keine Bitte an Mildtätige sein, dies ist ein Aufruf zur Pflichterfüllung«43. Die Worte sprechen für sich.
Für Kafka, der sogar zu den Gründern einer »Krieger- und Volksnervenheilanstalt in Deutschböhmen« zählte44, ist denn auch in Ansehung seines Einsatzes für die Kriegsinvaliden ein Verdienstorden beim k.k. Polizeipräsidium in Prag beantragt worden45. Und zur Ordensverleihung selbst wäre es, so geht aus der Überlieferung hervor46, mit Sicherheit gekommen, hätten nicht die Umstände der Weltpolitik die Angelegenheit im Sande verlaufen lassen. Denn der Antrag, der auf den 9. Oktober 1918 datiert war, gehörte ja zu den Vorgängen der österreichischen Verwaltung, welche freilich nur wenig später – indem Ende desselben Monats der Tschechoslowakische Nationalausschuss gebildet und die Republik Masaryks ausgerufen wurde – für das böhmische Territorium nicht mehr zuständig war.
Um die Fäden langsam zusammenzuziehen, sei nochmals auf die Zürauer Aphorismen zurückzukommen. Stark sind diese Meditationen, das ist in unserem Zusammenhang vor allem bedeutsam, bei ihrer Beschäftigung mit religiösen Fragen auf Momente der jüdischen Überlieferung hin orientiert. Immer wieder tauchen in ihnen Überlegungen zu alttestamentarischen Glaubensinhalten auf, vorzugsweise aus der Genesis. Gelten mögen als Beispiele drei Stellen aus dem Oktavheft G, von der die erste lautet:
Wir wurden aus dem Paradies vertrieben, aber zerstört wurde es nicht. Die Vertreibung aus dem Paradies war in einem Sinne ein Glück, denn wären wir nicht vertrieben worden, hätte das Paradies zerstört werden müssen47.
Unmittelbar darauf folgt:
Wir wurden geschaffen um im Paradies zu leben, das Paradies war bestimmt uns zu dienen. Unsere Bestimmung ist geändert worden, die des Paradieses nicht48.
Und kurz darauf heißt es wieder:
Nach Gott sollte die augenblickliche Folge des Essens vom Baume der Erkenntnis der Tod sein, nach der Schlange (wenigstens konnte man sie dahin verstehen) die göttliche Gleichwerdung. Beides war in ähnlicher Weise unrichtig. Die Menschen starben nicht, sondern wurden sterblich, sie wurden nicht Gott gleich, aber erhielten eine unentbehrliche Fähigkeit, um es zu werden. Beides war auch in ähnlicher Weise richtig. Nicht der Mensch starb, aber der paradiesische Mensch, sie wurden nicht Gott, aber das göttliche Erkennen49.
Völlig souverän, so zeigen diese Stellen, ging Kafka mit der Überlieferung um, es war seine Art, sich mit der Welt seiner Väter auseinanderzusetzen. Für die Zwecke unserer Untersuchung stellt sich aber auch nicht die Frage, wie weit er sich zum jüdischen Glauben bekannte oder wie stark er sich vom Prager Zionismus vereinnahmen ließ. Wichtig ist für uns – die angesprochenen Themen bilden den Gegenstand einer Studie für sich50 – vielmehr die geistige Orientierungstendenz als solche, die sich im Übrigen noch daran gezeigt hat, dass Kafka damals dazu überging, seine hebräischen Sprachstudien – mit Hilfe des neuaufgelegten Lehrbuchs von Moses Rath51 – systematisch zu vertiefen52. Mit einem Wort, die verstärkte Hinwendung zum Judentum, die sich bekanntlich beim späten Kafka sogar in Verbindung mit dem Projekt einer Auswanderung nach Palästina bemerkbar machte, hat mit der Zeit eingesetzt, in der ihm der Wille »nicht geradezu aufs schreiben« ging. Bestätigt wird dies schließlich auch durch den berühmten Brief an den Vater, insofern der Autor dort expressis verbis von seinem – wir befinden uns mit dem Text im Jahr 1919 – »neuen« Judentum spricht53.
Berücksichtigt man nun, dass mit dem politischen Umbruch von 1918, wo mit einem Mal der Untertan des Habsburger Kaiserreichs sich als Bürger der tschechoslowakischen Republik sah, das Moment der nationalen Identität für weite Kreise der Bevölkerung überhaupt als Problem virulent wurde, dann erhellt daraus auch die spezielle Situation Kafkas. Im Amt durfte er bleiben – im Gegensatz zu seinen deutschsprachigen Vorgesetzten – und das nicht allein aufgrund seiner exzellenten Fachleistungen, sondern ebenso dank der Tatsache, dass er des Tschechischen mächtig und damit gleichfalls unter diesem Aspekt für die neue Führung der Versicherungsanstalt als Arbeitskraft wertvoll war54. Aber dass der deutsche Bevölkerungsanteil Prags, der bislang die kulturelle Elite der böhmischen Hauptstadt dargestellt hatte, sich nun auf der Seite der politisch Schwächeren befand, das war die Realität, mit der Kafka jetzt grundsätzlich die Rechnung zu machen hatte.
Vor diesem Hintergrund, so meine ich, ist es zu sehen, wenn er in der Zeit um 1918 ein – mit den Worten des »Vaterbriefs« – »neues« Judentum für sich fand. Erfahren konnte er nämlich so eine Kräftigung der eigenen Identität, insofern er sich über die jüdischen Wurzeln vermehrt als Teil einer Gemeinschaft zu fühlen vermochte55. Das Werk selbst scheint solchen Umstand widerzuspiegeln, denn als nach der kreativen Pause nochmals eine große Produktionsphase einsetzte, will sagen mit dem Jahr 1922, indem zunächst der Roman Das Schloß entstand, gefolgt dann von Erzählungen wie Forschungen eines Hundes und schließlich Josefine, die Sängerin, hat sich im Hinblick auf die dichterische Thematik eine entscheidende Verschiebung eingestellt, und zwar dahingehend, dass jetzt insgesamt weniger von Schuld und Strafe die Rede ist als vielmehr von Gemeinschaft, Zugehörigkeit oder Isolation56.
1 »2 Tage nach meinem letzten Brief also genau vor 4 Wochen«, führt Kafka selbst hierzu am – vermutlich – 7. September 1917 gegenüber der Verlobten Felice Bauer aus, »bekam ich in der Nacht, um 5 Uhr etwa, einen Blutsturz aus der Lunge. Stark genug, 10 Minuten oder länger, dauerte das Quellen aus der Kehle, ich dachte es würde gar nicht mehr aufhören. Nächsten Tag war ich beim Doktor, wurde diesmal und später öfters untersucht, röntgenisiert, war dann auf Drängen des Max [Brod] bei einem Professor. Das Ergebnis ist, ohne daß ich mich hier auf die vielen doktoralen Einzelnheiten einlasse, daß ich in beiden Lungenspitzen Tuberkulose habe«. Franz Kafka, Briefe. April 1914-1917, hrsg. von Hans-Gerd Koch, in Schriften Tagebücher Briefe. Kritische Ausgabe, hrsg. von Gerhard Neumann, Malcolm Pasley, Jost Schillemeit u. Gerhard Kurz unter Beratung von Nahum Glatzer, Rainer Gruenter, Paul Raabe u. Marthe Robert, Frankfurt a.M. 2005, S. 316 [diese Edition nachfolgend als KKAB]. In großem Rahmen befasst hat sich mit diesem Thema Sander Gilman in seiner Studie Franz Kafka, the Jewish Patient, New York/London 1995. Zur Kurzinformation siehe auch von demselben Autor den – aus dem Englischen übersetzten – Aufsatz Kafka und die Krankheit, in Kafka-Handbuch. Leben– Werk – Wirkung, hrsg. von Bettina Jagow u. Oliver Jahraus, Göttingen 2008, S. 114-120.
2 Immer wieder hat Kafka diesen Umstand betont. So etwa in einem Brief an Max Brod vom 14. September 1917, in dem er vermerkt: »Ottla trägt mich wirklich förmlich auf ihren Flügeln durch die schwierige Welt[…]«. KKAB April 1914-1917, S. 319. Und in einem weiteren – auf den 18. September datierten – Brief an den Freund heißt es sogar: »Mit Ottla lebe ich in kleiner guter Ehe; Ehe nicht auf Grund des üblichen gewaltsamen Stromschlusses, sondern des mit kleinen Windungen geradeaus Hinströmens. Wir haben eine hübsche Wirtschaft[…]«. KKAB April 1914-1917, S. 324.
3 Zu den Einzelheiten siehe das Kapitel »Die Arche Zürau« im letzten Band der großangelegten Kafka-Biographie von Reiner Stach, Kafka. Die Jahre der Erkenntnis, Frankfurt a.M. 2008, S. 223-244, bes. S. 236. Auch in der Zeit nach Zürau – so positiv waren die diesbezüglichen Erfahrungen – hat Kafka sich dann mit Gartenbau beschäftigt. So etwa in dem im Norden Prags gelegenen Institut für Pomologie, Wein- und Gartenbau oder den Baumschulen im nordböhmischen Turnau. Dazu wiederum a.a.O., S. 273 f.
4 KKAB April 1914–1917, S. 345.
5 So hat Kafka seinen Dienst in der Tat erst am 2. Mai 1918, also nach fast dreivierteljähriger Freistellung von der Prager Arbeiter-Unfall-Versicherung, wieder aufgenommen. Vgl. den Kommentar Klaus Hermsdorfs in: Franz Kafka, Amtliche Schriften, hrsg. von Klaus Hermsdorf u. Benno Wagner, in Schriften Tagebücher Briefe. Kritische Ausgabe, zit., S. 84 f. [nachfolgend als KKAAS].
6 Brief vom 4. Oktober 1917. Aufgenommen in KKAB April 1914–1917, S. 754.
7 Brief vom 7.-8. Oktober 1917. KKAB April 1914–1917, S. 343.
8 Brief vom vermutlich 28. August 1913. KKAB 1913–März 1914, S. 271. Siehe auch den diesbezüglichen, im Tagebuch unter dem 21. August 1913 aufgeführten Briefentwurf in: Franz Kafka, Tagebücher, hrsg. von Hans-Gerd Koch, Michael Müller u. Malcolm Pasley, in Schriften Tagebücher. Kritische Ausgabe, zit., S. 579 [nachfolgend als KKAT].
9 KKAT, S. 546.
10 Nachweislich hat Kafka mit den Aufzeichnungen am 18. Oktober 1917 angefangen. Dazu die Rekonstruktionen im Apparatband zu Franz Kafka, Nachgelassene Schriften und Fragmente II, in Schriften Tagebücher. Kritische Ausgabe, zit., S. 36, 37, 44 [nachfolgend als KKAN II]. Zur Datierung bewussten Briefes vgl. Anm. 7.
11 Zur Beschreibung der betreffenden Oktavhefte siehe wiederum den Kommentar im Apparatband zu KKAN II, S. 43-48.
12 Verwiesen sei auf folgende Ausführungen Goethes im Gespräch mit Eckermann vom 4. Februar 1829: »Der Mensch soll an Unsterblichkeit glauben, er hat dazu ein Recht, es ist seiner Natur gemäß, und er darf auf religiöse Zusagen bauen […]«. Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens, hrsg. von Heinz Schlaffer, in Johann Wolfgang von Goethe, Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe, Bd. 19, hrsg. von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller u. Gerhard Sauder, München 2006, S. 278.
13 KKAN II, S. 58.
14 Ebd. Vgl. auch – um nur noch ein paar wenige weitere Beispiele anzuführen – folgende Eintragungen aus dem Oktavheft G: »Abend Spaziergang nach Oberklee« (KKAN II, S. 34); »21. im Sonnenschein« (KKAN II, S. 35); »Abend vom Weg nach Zarch« (KKAN II, S. 37); »Abend zum Wald, zunehmender Mond, verwirrter Tag hinter mir (Maxens Karte Magenunwohlsein)« (KKAN II, S. 39).
15 Zu Beginn seiner Zürauer Zeit war Kafka nur mit der 1843 erschienenen Schrift Furcht und Zittern bekannt. Vgl. seinen Brief an Oskar Baum von Ende März/Anfang April 1918, in dem er schreibt: »Kierkegaard ist ein Stern, aber über einer mir fast unzugänglichen Gegend, es freut mich, daß Du ihn jetzt lesen wirst, ich kenne nur ‚Furcht und Zittern‘«. KKAB April 1918-1920, S. 38. Dann aber, vor allem nach Jahreswechsel, ging er zu systematischer Lektüre über, bei der er sich von den Werken des Dänen Entweder – Oder, Die Wiederholung, Der Augenblick sowie Stadien auf dem Lebensweg vornahm. Siehe dazu die Briefe an Max Brod vom 20. Januar 1918, Anfang März u. Ende März/Anfang April 1918. KKAB 1918-1920, S. 21, 30 f. u. 38 f. Speziell zu Kafkas brieflichem Austausch mit Brod über das Thema Kierkegaard: Helga Miethe, Sören Kierkegaards Wirkung auf Franz Kafka. Motivische und sprachliche Parallelen, Marburg 2006, S. 23-27.
16 Beispielsweise von Martin Buber die beiden 1916 bei Wolff in Leipzig erschienenen Aufsatzsammlungen Vom Geist des Judentums und Die jüdische Bewegung. Dazu nochmals den Brief an Brod vom 20. Januar 1918. Vgl. KKAB 1918-1920, S. 21 f.
17 Zur Beschreibung des Zettelkonvoluts siehe abermals den Kommentar im Apparatband zu KKAN II, S. 48-53. Der Text selbst der so ausgewählten Meditationen in KKAN II, S. 113-140.
18 So vermerkt Kafka selbst in seinen – zwischen August und September 1917 vorgenommenen – Eintragungen im Oktavheft E: »Falls ich in nächster Zeit sterben oder gänzlich lebensunfähig werden sollte – diese Möglichkeit ist groß da ich in den letzten zwei Nächten starken Bluthusten hatte – so darf ich sagen, daß ich mich selbst zerrissen habe«. Franz Kafka, Nachgelassene Schriften und Fragmente I, in Schriften Tagebücher. Kritische Ausgabe, zit., S. 401.
19 Vgl. den Brief an Felix Weltsch vom 23. September 1917. KKAB April 1914-1917, S. 326.
20 Vgl. den Brief an Max Brod vom 14. September 1917. KKAB April 1914-1917, S. 319.
21 So das Tagebuch unter dem 15. September 1917. KKAT, S. 831. Detailliert hat sich Kafka zu dem angesprochenen Punkt – der augenscheinlichen Somatisierung seiner Konflikte im Verhältnis zu Felice Bauer, mit der er sich 1914 erstmals verlobt hat – in seinem Brief an die Schwester Ottla vom 29. August 1917 geäußert, indem er schrieb: »Ich habe in der letzten Zeit wieder fürchterlich an dem alten Wahn gelitten, übrigens war ja der letzte Winter die bisher größte Unterbrechung dieses 5jährigen Leidens. Es ist der größte Kampf, der mir auferlegt oder besser anvertraut worden ist und ein Sieg (der sich z. B. in einer Heirat darstellen könnte, F. ist vielleicht nur Representantin des wahrscheinlich guten Princips in diesem Kampf) ich meine, ein Sieg mit halbweg erträglichem Blutverlust hätte in meiner privaten Weltgeschichte etwas Napoleonisches gehabt. Nun scheint es dass ich den Kampf auf diese Weise verlieren soll. Und tatsächlich, so als wäre abgeblasen worden, schlafe ich seit damals 4 Uhr nachts besser […] Die Beteiligung an dem Blutsturz denke ich mir so, daß die unaufhörlichen Schlaflosigkeiten, Kopfschmerzen, fiebrigen Zustände, Spannungen mich so geschwächt haben, daß ich für etwas Schwindsüchtiges empfänglich geworden bin«. KKAB April 1914–1917, S. 309.
22 Vgl. den Brief an Brod von Mitte September 1917. Supra, Anm. 20, ebd.
23 So Kafkas eigene Formulierung der Freundin Milena gegenüber. In der zitierten Schreibweise in einem Brief vom 31. Juli 1920 (KKAB 1918–1920, S. 266) und einem weiteren vom 9. August 1920 (KKAB 1918–1920, S. 293). In einem Brief vom 4. Juli 1920 (es ist derjenige, in welchem er das berühmte Wort vom »Advokatenbrief« fallen lässt) greift Kafka auch zu der Schreibvariante »Vater-Brief« (KKAB 1918–1920, S.201).
24 KKAT, S. 543.
25 Eintragung auf das Jahr 1803. Johann Wolfgang von Goethe, Tag- und Jahres-Hefte als Ergänzung meiner sonstigen Bekenntnisse, in Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens, zit., Bd. 14, S. 104.
26 Eintragung vom 23. Juli 1914. KKAT, S. 658.
27 KKAT, S. 660.
28 Brief vom 1. November. KKAB 1900–1912, S. 204.
29 KKAT, S. 677.
30 Überliefert ist von den betreffenden Akten aus dem Mobilisierungsjahr 1915 sowohl das auf den 10. Juni datierte Gesuch der Prager Arbeiter-Unfall-Versicherung um eine Kriegsdienstfreistellung Kafkas sowie die dann am 23. Juni erfolgte Genehmigung seitens des zuständigen Militärkommandanten. Vgl. die Materialsammlung zu den Amtlichen Schriften auf CD-Rom: Mat. Nr. 50c, KKAAS, S. 860-862. Zu den einzelnen Reklamationen siehe wiederum die Biographie Reiner Stachs, Kafka. Die Jahre der Erkenntnis, zit., S. 10, S. 65-74.
31 Brief vom 4. April 1915. KKAB April 1914–1917, S. 127.
32 Postkarte vom 14. April 1916. KKAB April 1914–1917, S. 156.
33 KKAT, S. 786.
34 KKAT, S. 803. Dass den Aussagen Kafkas hinsichtlich seines Wunsches nach Teilnahme am Kriegsdienst »uneingeschränkt Glauben zu schenken« sei, hat in neuerer Zeit mit Nachdruck Bernd Neumann betont in seiner Studie Franz Kafka und der Große Krieg. Eine kulturhistorische Chronik seines Schreibens, Würzburg 1914, S. 244.
35 KKAT, S. 803.
36 KKAT, S. 844.
37 Als Beispiel nur für die Selbststrenge, die Kafka in besagtem Punkt anzulegen pflegte, sei sein Brief an den Freund Brod von Mitte November 1917 zitiert, in dem er u. a. rundum erklärt: »Ich habe in der Stadt, in der Familie, dem Beruf, der Gesellschaft, der Liebesbeziehung (setz sie wenn Du willst an die erste Stelle), der bestehenden oder zu erstrebenden Volksgemeinschaft, in dem allen habe ich mich nicht bewährt und dies in solcher Weise, wie es – hier habe ich mich scharf beobachtet – niemandem rings um mich geschehen ist«. KKAB April 1914–1917, S. 362. Und in einem Brief an Josef Körner vom 16. Dezember 1917, wo er auf dessen Arbeit über Arnim zu sprechen kommt, gelangt er bezüglich der dort behandelten Frage »Drückebergerei« oder »Kriegslust« zu dem doch vielsagenden Fazit: »[…] es ist notwendig sich zu opfern, es ist notwendiger sich zu schonen und es ist noch notwendiger sich aufzuopfern«. KKAB April 1914–1917, S. 380 f.
38 So bringt auch Stach bei seinen Überlegungen zu Kafkas »Beharren auf der Option des Kriegsdienstes« ( Kafka. Die Jahre der Erkenntnis, zit., S.74) als mögliche Erklärung den »teils unterschwelligen, teils manifesten moralischen Druck« in Anschlag, »der jedem zu Hause verbliebenen Mann im ,wehrfähigen‘ Alter« begegnet sei (a.a.O., S. 92). Dass auch eine Entfernung von der Heimatstadt, wie Kafka sie sich seit langem ersehnte, bei seinen Bestrebungen um Aufhebung der Reklamation mitgespielt haben mochte, gibt im Übrigen der Biograph als zusätzliches Motiv an (vgl. a.a.O., S. 69-71).
39 KKAT, S. 802.
40 Als repräsentativ sei ein – wohl auf Mitte Februar 1916 zu datierender Brief – an Felice angeführt, in dem Kafka als »erstes Verlangen« seinerseits »Freiheit vom Bureau« geltend macht. KKAB April 1914–1917, S. 152. Aufschlussreich ist der Brief dann auch besonders bezüglich der Konflikte, denen Kafka sich bei seinem Streben nach Dienstbefreiung ausgesetzt sieht. »Ich habe nicht etwa Angst vor dem Leben außerhalb des Bureaux«, schreibt er im Einzelnen, »dieses ganze Fieber, das mir den Kopf Tag und Nacht heizt stammt von Unfreiheit, aber – wenn z.B. mein Chef zu klagen anfängt, die Abteilung bricht zusammen, wenn ich geh (unsinnige Vorstellung, deren Lächerlichkeit ich klar durchschaue), er selbst sei krank u.s.f. dann kann ich nicht, der in mir großgezogene Beamte kann nicht«. Ebd.
41 Mit der »Fürsorge für die heimkehrenden Krieger« wurden vom österreichischen Innenministerium durch Erlass vom Februar 1915 die Institutionen der Arbeiter-Unfallversicherungen beauftragt. Die Prager Anstalt übernahm – auf Initiative ihres Direktors Robert Marschner hin – den gesamten Verwaltungs- und Finanzdienst der Staatlichen Landeszentrale für das Königreich Böhmen zur Fürsorge für heimkehrende Krieger. Kafka selbst arbeitete in dem für die Erweiterung und Neueinrichtung von Spezialtherapien zuständigen Ausschuss für Heilbehandlungen. Vgl. den Kommentar in KKAAS, S. 78-81.
42 KKAAS, S. 506.
43 KKAAS, S. 508.
44 Vgl. a.a.O., S. 80. Eröffnet wurde als Deutsche Krieger- und Volksnervenheilanstalt das Sanatorium Frankenstein im Mai 1917.
45 Antragsteller war dabei der ständige Sekretär der Staatlichen Landeszentrale zur Fürsorge für heimkehrende Krieger. Vgl. ebd. Das Dokument des Antrags ist zugänglich in den Materialien zu den Amtlichen Schriften auf CD-Rom. Siehe Mat. Nr. 50d, KKAAS, S. 864.
46 Dazu das – üblicherweise bei solchen Vorgängen erforderliche – Plazet des Polizeipräsidiums mit einem Telegramm an die auswärtigen Kommissariate vom 16. Oktober sowie einem Schreiben an die Statthalterei vom 22. Oktober 1918. A.a.O., S. 865. Hervorgehoben wird in Letzterem im Übrigen, dass Kafka sich seinen betreffenden Obliegenheiten, »welche einen beträchtlichen Teil seiner dienstfreien Zeit« in Anspruch nähmen, »in aufopferungsvoller, Anerkennung verdienender Weise« widme. Ebd.
47 KKAN II, S. 72.
48 Ebd.
49 KKAN II, S. 73.
50 Zur Diskussion siehe u.a. die folgenden Studien: Kafka und das Judentum, hrsg. von Karl Erich Grözinger, Stéphane Mosès u. Hans Dieter Zimmermann, Frankfurt a.M. 1987; Giuliano Baioni, Kafka: letteratura ed ebraismo, Torino 1988 (in dt. Übersetzung: Kafka. Literatur und Judentum, aus dem Italienischen von Gertrud u. Josef Billen, Stuttgart 1994); Karl Erich Grözinger, Kafka und die Kabbala. Das Jüdische im Werk und Denken von Franz Kafka, Frankfurt a.M. 1992; Mark H. Gelber, Kafka, Zionism, and Beyond, Tübingen 2004; Andreas B. Kilcher, Kafka und das Judentum, in Kafka-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hrsg. von Bettina von Jagow u. Oliver Jahraus, Göttingen 2008, S. 194-211.
51 Moses Rath, Lehrbuch der hebräischen Sprache für Schul- und Selbstunterricht. Mit Schlüssel und Wörterverzeichnis. Eine praktische Methode zur Erlernung der hebräischen Sprache in Wort und Schrift. Einführung in die Literatur, vielfach verbesserte u. vermehrte 2. Aufl., Wien 1917.
52 Zu Kafkas Sprachstudien anhand des Rath’schen Lehrbuchs siehe das Zeugnis von Max Brod, Franz Kafka. Eine Biographie, Frankfurt a.M.-Hamburg 21963, S. 173.
53 KKAN II, S. 191.
54 Zu den Hintergründen nochmals der Kommentar in KKAAS, S. 90-97.
55 Von einem wachsenden Gemeinschaftsbedürfnis Kafkas in den späten Jahren zeugen auch seine Tagebücher. Zitiert seien zwei entsprechende Eintragungen vom Februar 1922: »Glück mit Menschen beisammen zu sein« (KKAT, S. 900); »Zu spät wahrscheinlich und auf eigentümlichem Umweg Rückkehr zu den Menschen« (KKAT, S. 902).
56 Und wenn Kafka als Autor des Schlosses doch nochmals das Moment einer Bestrafung ins Spiel bringt, wie er es bei dem Bericht über das Schicksal der Amalia und deren Familie tut, dann wählt er als Modalität – dies eben ist wiederum bezeichnend für besagte thematische Akzentsetzung – die Form eines Ausschlusses des Einzelnen aus der Gemeinschaft. Siehe dazu den Bericht der Olga in Das Schloß. KKAS, S. 326–333.