Dr. Hüseyin Kahramanlar (Dokuz Eylül Universität, Izmir – Türkei)
Email: hseyinkahramanlar@yahoo.de
In dankbarer Erinnerung an meine unvergessene
Doktormutter Prof.Dr. Gertrude Durusoy[1]
Abstract:
Elif Schafak beschreibt in ihrem Roman das osmanische Reich im 16. Jahrhundert auf derHöhepunkt seiner Macht. Im Mittelpunkt des Romans steht der Widerstand des Baumeisters Sinan gegen die Machthaber, die die Künstler unter ihre Kontrolle zu nehmen versuchten, damit sie an der Macht bleiben konnten. Elif Schafak gelingt in ihrem Roman, darzustellen, wie der Hofarchitekt, der die Süleymaniye-Moschee, viele Bauwerke, Brücken, Paläste in seiner Karriere gebaut hat, all die von den den Machthabern nahe stehenden Künstlern inszenierten Intrigen, Verbrechen, Lügen zu meistern versucht, wie er zu seinen Schülern und zu seinen Bauprojekten in der Liebe und der Aufopferung bleibt, um seiner schöpferischen Kraft Ausdruck zu verleihen.
Schlüsselwörter: Elif Shafak, Der Architekt des Sultans, Künstler, Kunst, Osmanisches Reich
Dieser Beitrag fokussiert sich im Zentrum seiner Untersuchung auf den Roman “Der Architekt des Sultans” von Elif Shafak aus dem Jahr 2015, der seiner eigenen Aussage zufolge nicht die Absicht verfolgt, der Realität zu entsprechen.
Ganz im Gegenteil geben Gedichte, Geschichten, Theaterspiele und andere Kunstwerke im Roman facettenreiche Einblicke in die Entwicklungsgeschichte einer Nation in solch einer Weise, wie es den Geschichtsbüchern nie zu erklären gelang. Diesbezüglich wurde dieser Beitrag auch verfasst, um die künstlerische Identität und den Kunstverstand des Architekten Sinan darzustellen.
Nur die Leser werden eine Entscheidung darüber treffen, ob – wie es auch im Roman erläutert wird- der Architekt Sinan Widerstand gegen die Padischahs, also die Paschas, leistete, und darüber hinaus auch darüber, ob die soziale Struktur, welche aus dem Architekt Sinan und den Padischahs seiner Zeit, den Ulemas und Janitscharen bestand, der historischen Realität entspricht oder nicht.
In ihrem Roman “Der Architekt des Sultans” [2] (Kein und Aber, 2015), übersetzt von Michaela Grabinger, nimmt Elif Shafak den Kunstverstand und Kampf des Architekts Sinan gegen die Sanktionen, die von den auf den Dschihad beruhenden Staatsmächten zur Einschüchterung der Gesellschaft angewandt wurden, unter die Lupe. Das Hauptthema des Romans beruht hierbei auf der Art und Weise, wie der Staatsapparat, welches aus dem Padischah, den Ulemas (intellektuelle Gruppe) und den Janitscharen (Repräsentanten der Militär) besteht, Gott mit außergewöhnlichen Kräften interpretiert. Diese Kräfte bestehen aus einem Entscheidungsmechanismus und aus der Macht, nur mit einem Wort einen Krieg zu beginnen und unerschrocken das Todesurteil über Menschen zu vollstrecken.
Im Fokus der Kritik liegen die Ulemas, deren Ziel es war, alle Menschen auf der Erde unter dem selben Dach einer einzigen Religion zu vereinen und sich dafür kontinuierlich zu expandieren begannen. Sie betrachten alle Menschen, die innerhalb ihrer Grenzen lebten, als Soldaten des Dschihad-Prozesses. Laut ihnen würden die Menschen, die in den Kriegen- welche begonnen wurden, um die Ansichten der Ulemans zu verbreiten- ums Leben kommen, als Märtyrer und die, die sich verletzten würden als Kriegsversehrte als Veteranen betitelt werden. Die Staatsverwaltung kündigte an, dass diejenigen, die an diesen Kriegen teilnehmen, einen Palast im Paradies geschenkt bekommen würden. Diejenigen, die dafür am meisten kämpften, würden an die wichtigsten Positionen der staatlichen Verwaltung gebracht werden. Die Padischahs forderten ein Fetwa an: Sie forderten, dass bei Bestimmungen, bei denen es um die Zukunft des Staates ankam, wie beispielsweise, wer als Nächster den Thron besteigen wird, dies rechtfertigerweise den im Krieg Ermordeten eigenen Söhnen und Brüdern aus religiöser Ansicht zustehe. Die Ulemas wurden kritisiert, dass sie diese Forderung als Befehl annahmen und die Padischahs und deren Führungsstile dem Volk gegenüber legalisierten.
Der Staatsapparat, der seine wirtschaftliche Kraft nur für die Eroberung von neuen Ländern mobilisiert, ist nicht dazu in der Lage, die Angehörigen verschiedener Religionen, Sekten und Zugehörigkeiten Lebens- und Gütersicherungen bereit zu stellen, Lösungen in Bezug auf ihr Zusammenleben und ihre Unterkunft zu bieten und ihre Lebensbedingungen zu verbessern. Die staatlichen Institutionen in Istanbul, der damaligen Hauptstadt des Osmanischen Reichs, waren nicht fähig, die Infrastrukturprobleme der Stadt zu lösen und ihre Grundfunktionen zu erfüllen. Dies wird im Roman mit folgenderweise beschrieben:
„Der Anblick, der sich ihnen beim Rundgang um die Hagia Sophia bot, war zu erschütternd, als dass er sich in Worte fassen liess. Den Regenrinnen, die an den Außenmauern der Moschee befestigt waren, entströmte trübes Wasser, nach dessen Berührung man schmutziger war als zuvor. An den Rändern des Bauwerks quakten Frösche, huschten Ratten umher und türmte sich menschlicher wie tierischer Kot. Als sie um eine Ecke bogen, stießen sie auf ein Kadaver eines Hundes ohne Schnauze, dessen Augen so weit aufgerissen waren, dass man noch immer das Entsetzen darin sah.” (Shafak: 2015, 405)
Anstatt die sich immer weiter ausbreitenden Infektionen zu bekämpfen, auf die Gründe der Probleme einzugehen und Lösungen zu finden, neigen die staatlichen Institutionen dazu, diese Krankheiten als eine Konspiration der Westmächte mit dem Ziel das Reich zu gefährden und als Komplott anderer Länder, zu erklären. Mit dem Ziel, gesellschaftliche Ordnung und Sicherheit zu gewährleisten werden Menschen in den Stadtmitten mit verschiedenen Waffen ohne Gnade ermordet. Shafak stellt dies konkret dar:
„Blut vermischte sich auf dem Boden mit Blut, versickerrte, färbte den Grund schwarz. Mit geblähten Nüstern und schaumbedeckten Mäulern jagten die Pferde dahin und ihre Reiter standen in den Steigbügeln. […] Gefangene, Frauen, Mädchen und Kinder werden erbarmungslos geschlagen, ja sogar gefoltert und exemplarisch bestraft. „Ja, die Schlacht war schnell vorüber, doch Jahann duchlebte sie Tausende Male. Das Sterben, das er erblickt, aber nicht gesehen, die Schreie, die er wahrgenommen, aber nicht gehört hatte, sollten wieder und wieder zurückkehren. Noch Jahrzehnte später, als alter Mann erinnerte an jenen Nachmittag – ein blutverschmierter Schild im Schlamm, ein brennender Pfeil, an den Fleischfetzen hingen, ein abgeschlachtetes Pferd und irgendwo hinter dem Schleier der Zeit immer, immer das Gesicht der Prostituierten, die ihn auslachte.” (Shafak: 2015, 144ff)
Die osmanische Armee bestand aus den Janitscharen. Sie waren damit beauftragt, für die Sicherheit der Gesellschaft zu sorgen. Doch anstatt den Menschen ein friedliches und sicheres Leben zu gewährleisten, zogen sie es vor, die Stadt in ein Chaos zu stürzen, sie auszuplündern, in Brand zu setzen und die Feuerbekämpfung zu verhindern. Dies war auch der Grund dafür, dass die Aufruhr in den Städten ein unkontrollierbares Ausmaße annahm, wie es Shafak imposant darstellt:
„Wie sich herausstellte, war der Janitscharen-Agha zwar tatsächlich krank, hatte seinen Soldaten jedoch nicht aus diesem Grund erst so spät Anweisungen zukommen lassen. Im Heer wurde höherer Sold gefordert, und die Soldaten hatten das Feuer als Gelegenheit gesehen, ihre Unersetzlichkeit zu beweisen. Da der Großwesires mit dem Erhöhen des Solds nicht heilig gehabt hatte, war der Agha mit den Befehlen an seine Janitscharen auch nicht schneller gewesen.” (Shafak: 2015, 375f)
Während das Volk mit unzähligen Schwierigkeiten zu kämpfen hatte, wurden die Probleme, durch Eingriff in den Lebensstil des Volks, wie beispielsweise das Trinken von Boza[3] verboten wurde (vgl. Shafak: 2015, 210) zu lösen versucht:
“Erst kürzlich hatte der Scheichülislam den Bau weiterer Moscheen im ganzen Reich angeordnet und der Öffentlichkeit durch zahlreiche Erlasse verkündet, dass an jedem, der nicht zum Freitagsgebet erscheine, ein Exempel statuiert werde. Jeder muslimische Mann, ob in der Stadt oder auf dem Land, wurde dazu gedrängt, fünfmal am Tag zu beten.” (Shafak: 2015, 207)
Für die Überwindung dieser Probleme wurden Methoden angewandt, die jedoch die Lösungen unmöglich gestalteten und zu weiteren Poblemen führten, den Lebens- und Menschenverlust vergrößerten, die Probleme verschärften und das Leben noch unvollstellbarer erschwerten, wie es im Werk offengelegt wird:
“Die Wohnviertel wurden abgeschottet, jede Straße verwandelte sich in eine Zitadelle, aus der sich keiner hervorragte. […] Die Ehefrauen der Reichen verbargen ihren Schmuck und zogen die Kleider ihrer Dienerinnen an in der Hoffnung, so die Gunst Gottes zu gewinnen. Man schwor, noch im selben Jahr nach Mekka zu pilgern und die Armen in Arabien zu speisen. Istanbul feilschte mit Gott.“ (Shafak: 2015, 162)
Die Kriegsbeute, die bis zur Aufstiegsphase des Osmanischen Reichs ergattert wurde, stand für die Erweiterung der Staatsgrenzen und der Ausübung der Verpflichtungen dem Volk gegenüber als außerordentlich großes finanzielles Mittel zur Verfügung. Sogar die Materialien, die für einen dauerhaften und qualitativen Bau und Ausbesserung von Gebäuden und Brücken benötigt wurden, wurden mithilfe dieser Kriegsbeuten besorgt, wie es Shafak in ihrem Werk darstellt:
“Dennoch kamen die Bauarbeiten erst nach der Eroberung der Insel in Schwung. Geld aus Tributzahlungen strömte herein, die Zahl der Arbeiter und die Materialmengen konnten erhöht werden.” (Shafak: 2015, 402)
Doch nach der Zeit der Aufstiegsphase, nach den vielen aufeinanderfolgenden Niederlagen, waren es nicht nur die Kriegsbeute, die zurückblieb sondern auch verfallene, zerstörte Städte und die Verzweiflung und Verzagtheit der Menschen, die ihre Geliebten verloren hatten, waren es, was zurückblieb. Dass keine Kriegsbeuten mehr ergattert werden konnten, führte dazu, dass die Wirtschaft des Landes in einen Engpass geriet, die Entwicklung der Architektur zurückging, nicht genügend finanzielle Ressourcen für die Aufwärtsentwicklung bereitgestellt werden konnten und Schwierigkeiten in der Besorgung von grundlegendsten Materialen, insbesondere dem Stein auftauchten, welche für das Bauen von prächtigen Gebäuden nötig gewesen wäre. Es wurde auch keine entsprechende Bebauungspolitik in Kraft gesetzt, so dass auch die vorhandenen historischen Gebäude zu schützen. Infolgedessen wurden die historischen Gebäude in den Städten geplündert und in Brand gesetzt, um anstelle dieser neue Gebäude bauen zu können, wie es im Werk widergespiegelt wird:
“Ein anderer hatte versucht, in seinem Garten einen Brunnen zu bohren, und war dabei so tief in die Erde vorgedrungen, dass das Fundament der Hagia Sophia Schaden litt. Das Haus eines Dritten war, eben erst errichtet, in sich zusammengefallen, wobei wie durch ein Wunder niemand verletz worden war; danach hatte er ein zweites gebaut, das tatsächlich stehen blieb.” (Shafak: 2015, 406f)
Die Ulemas äußerten die Ansicht, dass das Renovieren von byzantinischen Aquädukten als Gottlosigkeit gelte. Dies zeigt, welche Ausmaße die Rolle des religiösen Glaubens in der Entscheidungsphase erreicht hatte. Die Staatsregierung war weder fähig, intellektuelle Kader zu erstellen, noch Institutionen zu bilden, die die gesellschaftliche Ordnung wiederherstellen konnten. Um die Legitimist des Dschihads zu gewährleisten, wurden die Ulemas an sehr wichtige Positionen des Staats gebracht und hatten keine andere Aufgabe als die Befehle der Führungsgruppe zu erfüllen. Sie hatten mit Abstand das höchste Einkommen und befanden sich in einer sehr angesehenen Position. Eine Aufklärung der Gesellschaft hingegen strebten sie niemals an.
Der Scheich Madchnun war der Meinung, dass sich Gott in allen Lebewesen des Universums wiederspiegelt, dass das Verletzen eines von Gott geschaffenen Lebewesens dem Verletzen von Gott selbst entspreche, wie es im Roman selbst geschildert wird:
“Scheich Madchnun sprach über die Liebe, die Liebe zu Gott und den Mitmenschen, die Liebe zur gesamten Welt und zum kleinsten Teilchen.” (Shafak: 2015, 107f)
Alle Menschen gleich zu lieben, ohne einen davon zu bevorzugen, bringe den Menschen näher zu Gott und bedeute, seine bzw. Gottes Eigenschaften zu besitzen. Die Ulemamitglieder, die Scheich Madchnuns Vorstellung als Shirk[4] interpretierten, interpretierten seine Gedanken als Gottlosigkeit und entschlossen ihn aufgrund seiner gotteslästernden Aussagen hinzurichten. Worauf er antwortet: “Ich liebe den Geliebten, wie der Geliebte mich liebt. Weshalb sollte ich die Liebe bereuen?“(Shafak: 2015, 108). Die Ulemas entschieden daraufhin zu Scheich Madchnun, dass man ihm sein Leben vergeben werde, wenn er von seinen Aussagen zurücktritt. Ansonsten werde er sterben müssen. Allerdings bevorzugt es Leyli, der sich dessen bewusst ist, dass die Aufgabe seiner Gedanken dem Zustimmen des Auferlegungssystems entsprechen würde, die Treppen der Richtstätte hinauf zu steigen und sich dem Urteil zu ergeben (vgl. Shafak: 2015, 108).
Laut Ebussuud Efendi, einer der Mitglieder des damaligen Ulemas, liegt der Grund für den Brückeneinsturz nicht an mechanischen Faktoren, sondern daran, dass die Brücken nicht mit “Iman” [5]gebaut wurden. Der Architekt Sinan hingegen vertritt die Meinung, dass es zum Brückensturz führen kann, wenn der Wasserlauf nicht methodologisch korrekt ausgemessen und keine gute Bodenforschung durchgeführt wurde. Der Sturz von Gebäuden habe nichts mit dem Glauben zu tun. Die Sicherheit der Menschen, die in diesen Gebäuden wohnen, sei das Wichtigste. Dem Architekten Sinan zufolge, sollten die Gebäuden im Lichte der wissenschaftlichen Entwicklungen gebaut und alle mechanischen Berechnungen detailliert durchgeführt werden:
“Ebussuud Efendi, der Scheichülislam, dessen Miene so unleserlich war wie ein verblichenes Manuskript, ergriff er als Erster das Wort: ‘In unserer prächtigen Stadt gibt es Brücken, aus der Zeit der Ungläubigen, die nicht überdauert haben, sondern zusammenbrachen, weil Sie ohne den wahren Glauben errichtet wurden. Stimmst du mir zu?’ Viele altertümliche Brücken sind eingestürzt, weil man sie nicht auf festem Boden errichtet hat. Wenn wir eine Brücke bauen, achten wir darauf, dass das Wasser seicht, der Boden fest und die Strömung günstig ist. Brücken werden mithilfe des Glaubens errichtet, das stimmt. Aber auch mithilfe von Wissen.” (Shafak: 2015, 324)
Während dem Dialog zwischen Ebussuud Efendi und dem Aga der Janitscharen, wurde Architekt Sinan der Hexerei beschuldigt, da er vor Brückenbaubeginn eine Wasser-und Bodenanalyse durchgeführt hatte, wie es im Werk folgendermassen dargestellt wird:
“Sultan Süleyman vollführte eine Geste mit der linken Hand, woraufhin der Janitscharen-Agha zu sprechen begann. ‘Majestät, Euer Diener Sinan scheint zu glauben, er könnte vorhersagen, wie viel Wasser sich sieben Schichten unterhalb des Erdbodens befindet. Wie sollte das möglich sein? Wir haben ihn für einen Architekten gehalten, nicht für einen Geisterbeschwörer. Betreibt er womöglich auch Zauberkunst? […] Sinan erwiderte: ‘Ich besitze keine hellseherischen Fähigkeiten. Die Wassermenge unter der Erdoberfläche kann mittels entsprechender Instrumente gemessen werden.” (Shafak: 2015, 324f)
Ziel der Ausbildung in einer Medrese ist es nicht, kreatives, freies und kritisches Denken zu schaffen und somit freie Individuen zu erziehen, sondern ein menschliches Modell zu kreieren, das der Idee des Dschihads dient, die die Grundlage der Gründungsphilosophie des Reichs bildet. Dieses menschliche Modell soll gegen die Feinde kämpfen und den angeordneten Befehlen gehorchen, wenn es heisst:
“Die Lehrerschaft bestand ausschließlich aus Männern, darunter auch Eunuchen. Sie hielten stets einen langen Stock in der Hand, den Sie ohne zu zögern, schon bei der kleinsten Verfehlung gebrauchten. In den Räumen herrschte Stille, und die Regeln waren streng.” (Shafak: 2015, 183)
Was es bedeutete, als Künstler im Osmanischen Reich zu leben
Künstler, die Werke gemäß der bestehenden politischen Struktur und den Forderungen des Padischahs produzierten, hatten die Gelegenheit, den Staatskader bis zu den obersten Rängen zu besteigen und sich in der Gesellschaft ein hohes Ansehen zu verschaffen. Die obersten Institutionen des Staats standen Künstlern, die dem Dschihad nicht dienen wollten im Weg und bezeichneten sie, wie beispielsweise den Architekten Sinan, als “Verräter”. Die Sanktionen, welche der Staat der Gesellschaft und den Künstlern verhängt hat, um die gesellschaftliche Ordnung zu sichern und das Aufkommen unerwünschten kritischen Denkens zu verhindern, hält die Künstler nicht nur davon ab, dass sie ihre freien Gedanken ausdrücken und Kunstwerke gemäß dem eigenen Kunstverständnis erstellen, sondern diese Verbote führten sogar noch weiter, bis zum Untergang des Osmanischen Reichs.
In Shafaks besprochenen Werk werden das Sultanat- welches behauptet, es wäre gemäß der Religion gerechtfertigt, den Bruder und sogar den eigenen Sohn mit der Begründung, sie würden ihren Interessen schaden, zu töten- die Ulemaklasse und das Staatsverständnis, welches die Janitscharen aufrecht gehalten haben, mit einem kritischen Ansatz ersichtlich gemacht. Und obwohl die Künstler, die sich bewusst sind, dass es für sie die eigene Meinung in einem derart repressiven Umfeld zu äußern, mit schwersten Sanktionen verbunden ist und sie deshalb sogar ums Leben kommen können, weichten keineswegs von ihrem Glauben ab. Ihre Weltansicht und die Kommunikation mit ihren Lehrlingen wird dem Leser im Roman als alternatives Denksystem deutlich gemacht.
Die Padischahs andererseits waren sich darüber bewusst, dass sie weiterhin auf ihrem Thron verbleiben können, wenn das ihrem Befehlen gehorchende Kunstverständnis weiterhin bestehen bleibt und das freie Denken hingegen zum Untergang ihrer Herrschaft führen könnte. Sie duldeten keine Kritik, die sich wie im Roman ersichtlich in ihren Methoden äußerte. Künstler hingegen, die Werke produzierten, die nicht den Interessen, Erwartungen und Befehlen des Padischahs entsprachen, wurden in Haft gesetzt, ins Exil geschickt, umgebracht, dem System unterworfen. Es wurde mit allen Mitteln verhindert, dass sich ihre Gedanken ausbreiteten. Gerüchte wurden verbreitet, dass der Architekt Sinan christliche Wurzeln habe. Redereien liefen herum, es sei unwürdig, dass ein Mensch wie er eine Moschee baut und dass die von einem Christen erbaute Moschee nicht lange halten könne. Rufmorde wurden begangen (vgl. dazu Shafak: 2015, 209) indem Behauptungen aufgestellt wurden, dass er Materialen von den Bauplätzen stehlen würde, um sein eigenes Haus auszubessern. Er wurde sogar als Verräter abgestempelt, wie beispielsweise an folgender Stelle:
“’Aber Lütfi Pascha hasst mich’ ‘Nun, mir ist er auch alles andere als wohlgesinnt’, erwiderte Sinan mit leicht gesenkter Stimme. ‘Wegen der Brücke? ’ ‘Wegen meines Ungehorsams. Das hat er nicht vergessen. Er ist nicht gewohnt, für jedes Wort von allen verehrt zu werden. Wer sich mit Kriechern umgibt, die alles loben, was man tut, wird einem ehrlichen Mann, der die Wahrheit sagt, niemals vergeben.” (Shafak: 2015, 179)
Auch der Großwesir, der mit außerordentlichen Kräften ausgestattet war, so dass er den Architekten Sinan abfangen, das Kunstverständnis des Padischahs durchsetzen und alle Sanktionsmechanismen auferlegen konnte, konnte von keiner Macht zum Halten gebracht werden:
“Architekten, die mit Sinan konkurrierten und ihm sein Talent neideten, wollten nicht, dass er einen so gewaltigen Auftrag erhielt. Sie fürchteten, er könnte ihn erfolgreich ausführen.” (Shafak: 2015, 285)
Im Roman wird verdeutlicht, dass der Druck auf die Künstler nicht nur psychologischer Gestalt ist, sondern, in Fällen, in denen dieser Druck nicht ausreichend ist, auch die Bedrohungen zunehmen. Architekten, die den Befehlen der Padischahs nicht gehorchen, bezahlen den Preis dafür mit ihren Leben. Falls der Architekt Sinan nicht nachlassen sollte, werde auch er auf gleicher Weise enden. Es wird wie folgt darauf hingewiesen, dass diejenigen, die den Wunsch des Padischahs nicht erfüllen, weder das Recht haben ein unabhängiger Künstler zu sein, noch zu leben:
“Sinan antwortete so bedächtig, als spräche er zu eigenem missgelaunten Kind. ‘Ich weiß, von seinem traurigen Schicksal, Eure Hoheit.” “Dann weißt du auch, was die erwartet, die ihre Versprechungen nicht erfüllen. Sieh zu, dass dich ein anderes Schicksal ereilt.” (Shafak: 2015, 211)
Falls der Padischah am Werk etwas seinem Geschmack nicht entsprechendes entdeckte, war es für die Architekten nicht möglich, ihr Kunstleben weiterhin auszuführen. Der Padischah wollte, dass die Moschee, die gebaut werden sollte, größer als die Hagia Sophia ist. Der Oberarchitekt Sinan aber setzte nicht viel Wert auf die Pracht der Moschee, sondern auf die Bestandsfestigkeit seines Werkes und darauf, dass es allen Menschen dient und bis in die Ewigkeit fort bestehen bleibt. Er wandte sich nicht von seinem Kunstverständnis ab und wurde vom Padischah schwerstens bestraft, da er dessen Erwartungen nicht erfüllte, wie es im Roman beschrieben wird:
“Fatihs Wunsch zufolge sollte diese Moschee das majestätische Bauwerk sein, das damals errichtet worden war, majestätischer noch als die Hagia Sophia. Deshalb hat er die höchsten Säulen nach İstanbul gebracht, die er hatte finden können. Als er hörte, dass sein Hofarchitekt diese Säulen gekürzt hatte, ohne ihn zu fragen, geriet er in Wut und beschuldigte ihn, die Pläne des Sultans zu hintertreiben. Der arme Atik Sinan versuchte zu erklären, dass er auf Sicherheit achten müsse, da İstanbul von Erdbeben bedroht sei. […] Die Antwort gefiel Fatih nicht. Er ließ den Architekten, in den dunkelsten Kerker werfen, ihm die Hände abschlagen und schließlich zu Tode prügeln. (Shafak: 2015, 210S. 212)
Wie ungünstig die Bedingungen auch sind, hat laut dem Architekten Sinan ein Künstler alle Probleme und Schwierigkeiten, die auf seinem Lebensweg auftreten können, in Kauf zu nehmen und diese zu überwinden. Er solle nicht aufgeben, sich auf sein Kunstverständnis zu fokussieren, seiner Kunst Leben zu geben und Lösungen für gesellschaftliche Probleme zu finden:
“Kayan verstand nicht, wie es seinem Meister gelang, inmitten all der Niedertracht zuversichtlich zu bleiben und angesichts des boshaften Getratsches die Ruhe zu bewahren. Nicht ein einziges Mal hatte Jahan den Architekten auf Verleumdung mit Verleumdung antworten hören.” (Shafak: 2015, 285)
Architekt Sinan, ein Künstler, der entschlossen ist, alle Hindernisse zu bewältigen, die in Bezug auf das Verwandeln des eigenen Körpers in Kunstwerke auftreten, flüchtet sich wir im Werk berichtet wird, niemals in Ausrede:
“Sinan hatte ihn betrachtet und legte ihm die Hand auf die Schulter. ‘Begabung ist eine göttliche Gunst. Ihre Vervollkommnung bedarf harter Arbeit. Genau das müssen wir tun – hart arbeiten.” (Shafak: 2015, 212)
Er ist sich dessen bewusst, dass alle Menschen mit den schönsten Kenntnissen zur Welt kommen und dass sie ihr kreatives Denken in Bewegung setzen und es somit ans Tageslicht rücken können. Wenn der Körper, der dem Menschen geschenkt wurde, in eine Brücke, Moschee und ein Kunstwerk verwandelt wird, dann kann er bis in die Ewigkeit aufrechterhalten bleiben, während aber ein Körper, der keine schönen Werke und Ideen produziert, sich als Fleischklumpen mit der Erde vermischt und dort verschwindet, wenn es heißt: “‘Gott hat den Palast unseres Leibes errichtet und uns den Schlüssel anvertraut’ sagte Sinan.” (Shafak: 2015, 324). Der Architekt Sinan ist der Meinung, dass es ein ernster Interpretationsfehler ist, Armeen zu gründen, um Gesellschaften, die eine andere Glaubensrichtung haben oder einer anderen Sekte angehören, zu zerstören, einen Feldzug gegen diese zu führen und Menschen zu ermorden. Dies würde sich mit dem Glauben an Gott widersprechen. Menschen und Gesellschaften sollten aufgrund ihrer Glaubensrichtung, ethnischen Herkunft, ihrem gesellschaftlichen Status und ihren Positionen nicht diskriminiert, und ihr Lebensstil respektiert werden, wie es ich in seinen Worten ausdrückt: “Deshalb sollst du jeden Menschen achten, ob er ein Sklave ist oder Wesir, Muslim oder Heide. Denk bitte stets daran: Selbst ein Bettler besitzt einen Palast” (Shafak: 2015, 342). Alle Menschen sollten ans Herz gedrückt werden, ein Verständnis für das Zusammenleben von Menschen verschiedener Religionen, Sprachen, Sekten, Rassen und Hautfarben sollte geschaffen werden. Das Ganze interpretiert er als Erfordernis des Glaubens an Gott:
“Während der Meister und seine Schüler die Moschee errichtet hatten, war ihr Schicksal vom Universum zusammengefügt worden. Niemals zuvor hatte er sich Gott als einen Architekten gedacht. Christen, Juden, Muslime, Zoroastrierer und Menschen unzähliger anderer Religionen und Glaubensbekenntnisse lebten unter derselben Kuppel.” (Shafak: 2015, 230)
Deshalb sollten Architekten die Städte und Gebäuden so entwerfen, dass Menschen mit unterschiedlichen Glaubensrichtungen, Rassen und Angehörigkeit miteinander Zeit verbringen, die Anforderungen ihrer Glaubensrichtungen erfüllen und friedlich miteinander leben können, wenn er fordert:
“Wir sollten Kuppeln bauen, die den Menschen zeigen, dass es einen Gott gibt, und dass Er kein Gott der Sünde und der Hölle ist, sondern ein Gott der Liebe und der Barmherzigkeit.” (Shafak: 2015, 535)
Der Architekt Sinan fordert offensichtlich, dass sich Künstler Gedanken darüber machen sollten, ob sie nur ihre Verantwortungen erfüllen, sofern sie sich nicht mit dem Baumuster, die von ihnen als Zeichnung erwartet wird, zufriedengeben, oder ob sie mit diesen Stadtplänen und Baumustern Lösungen für die Probleme ihrer Gesellschaft finden. Die größte Verantwortung des Künstlers in diesem Zusammenhang ist es zu versuchen, die Feindseligkeit, welche der Grund für die Kriege ist, bei denen viele Menschen ums Leben kommen, durch ein Kommunikationssystem zu ersetzen, in dem Menschen ohne Auseinandersetzungen friedlich miteinander leben und welches auf Freundschaft und Brüderlichkeit beruht. Der Künstler sollte sich dessen bewusst sein, dass durch die Brücken, Parkanlagen, Gaststätten und Hamams, die er gebaut hat, gleichzeitig auch die gesellschaftliche Struktur der Stadt und dem Land, in denen er lebt, aufgebaut und aufrechterhalten wird. Die Straßen, Gebäuden, Parkanlagen und Gärten der Städte sollten, genau wie die Organe eines menschlichen Körpers, mit einem ganzheitlichen Blick gebaut werden, wenn er fordert:
“Doch bedenkt, dass Städte wie Menschen sind und nicht aus Stein und Holz bestehen, sondern aus Fleisch und Knochen. Sie bluten, wenn man sie verletzt. Jedes ungesetzlich errichtete Gebäude ist ein Nagel in das Herz Istanbuls. Vergesst nicht, mit Städten mitzufühlen wie mit Menschen.” (Shafak: 2015, 417)
Der Architekt Sinan interpretiert den Glauben an Gott folgendermaßen: Das Anerkennen derjenigen, die als Ungläubig eingestuft werden, weil ihre Religion, Sprache und Sekte unterschiedlich ist; das Kommunizieren mit ihnen als gleichberechtigte Individuen; das Kämpfen für die Überlebung derjenigen, die ermordet werden wollen; die Annahme, dass jemandem Schmerzen zuzufügen, dem Schöpfer schmerzen zuzufügen und Ihn verletzen bedeute. Es wird einem Individuum nicht gelingen seine eigene Existenz aufzubauen, wenn er Hassreden, die die gesellschaftliche Struktur umfassen und behaupten, dass diejenigen, die ihm nicht ähnlich sind, als Feinde angesehen und getötet werden sollten, und Sanktionen nicht bekämpft. Um es zu verwirklichen, seine eigene Existenz aufzubauen, muss er sich selbst, sein Leben und die gesellschaftlichen Bedingungen jederzeit nochmals neu definieren, neu aufbauen und neugestalten.
Der Architekt Sinan war sich gewahr, dass es zu Massaker führt, wenn sich Menschen von ihrem Umfeld, von dem Gedanken, der behauptet, dass diejenigen, die einer unterschiedlichen Religion, Sprache und Sekte angehören, ungläubig sind, und ihrem Lebensstil nicht loslösen können. Er ist der Ansicht, dass dieses kulturelle Umfeld nur verändert werden kann, sofern versucht wird, die Menschen kennenzulernen, die sich auf der anderen Seite der Grenze befinden und getötet werden wollen. Dieses Problem könne nur dann überwunden werden, wenn ein interkulturelles Kommunikationsumfeld mit den Ausgegrenzten gestaltet wird. Er gibt an, dass die Brücken nicht nur Landteile miteinander verbinden, sondern auch eine interkulturelle Interaktion liefern. Der Bau von kulturellen Brücken könne nur dann verwirklicht werden, wenn neue Fremdsprachen erlernt werden: “Du bist begabt, aber du bedarfst der Unterrichtung. Du musst Sprachen erlernen” (Shafak: 2015, 181).
Die Aufgabe des Künstlers wäre es weder Lobgedichte über einen Kriegserfolg zu schreiben, noch nach einer Niederlage Antworten auf die Frage zu finden, wie der nächste Krieg mit Erfolg ausgehen könnte. Das alleinige Hauptziel des Künstlers sei es, Ideen in Kunststücke zu verwandeln, die allen Menschen auf der ganzen Erde ein Gefühl des Zusammenlebens geben:
“Für Sinan war jeder Auftrag eine Art Kokon-einmal darin, nahm er die Außenwelt nicht mehr wahr. Kriege interessierten ihn nicht. Siege noch weniger” (Shafak: 2015, 401f). Er meint zu seinen Lehrlingen, dass sowohl ihre individuellen Entwicklungen, als auch ihre Erfolge oder Misserfolge im Leben durch ihre eigenen Äußerungen und Handlungen zu erklären seien und empfiehlt ihnen, dass sie die Gründe dafür nicht draußen suchen sollten: “[…] mit unseren Taten und Worten ging es wieder nach unten” (Shafak: 2015, 188). Er rät ihnen, die Kritiken von Fachgenossen und Oberhäuptern nicht zu berücksichtigen, wenn er sagt:
“Jahan aber hatte etwas über sich gelernt: Er war an einem Punkt seines handwerklichen Könnens angelangt, an dem er besser werden oder aber sein Talent zerstören konnte. Nicht Davud, Yusuf und Nikols waren seine Rivalen – sein größter Gegner war er selbst.” (Shafak: 2015, 448)
Der Architekt Sinan empfiehlt dem Künstler darüberhinaus, sich bewusst zu sein, dass keine Sanktion ihn daran hindern könnte, seine kreativen Ideen in Kunstwerke umzuwandeln. Er rät ihm, die gesellschaftlichen Probleme aus einer anderen Perspektive heraus zu betrachten und zu versuchen, das bestehende Kunstverständnis durch ein neues zu ersetzen. Dafür sollte sich der Künstler über die Verbindungen zwischen den gesellschaftlichen Problemen und der Vergangenheit im Klaren sein und sein eigenes Kunstverständnis ins Leben rufen, so dass diese Probleme nicht noch einmal ans Tageslicht kommen. Er solle eine noch schönere Stadt, ein noch schöneres Gebäude als die bestehenden entwerfen und diese Entwürfe ins Praktische umsetzen, wenn er rät:
“Aber du musst dich von der Vergangenheit lösen. […] Die Feindseligkeit ist ein Käfig, das Talent ist ein gefangener Vogel. Zerbrich den Käfig, lass den Vogel frei und in die höchsten Höhen fliegen.” (Shafak: 2015, 181)
Künstler sollten sich Sinan zufolge merken, wie sehr sie auch die Perfektion zu erreichen versuchen, ihre Werke Fehler aufweisen werden. Es ist von höchster Wahrscheinlichkeit, dass Künstler, die an der Perfektion ihrer eigenen Werke nicht zweifeln, sich täuschen werden. Erst wenn die Werke des Künstlers bis in die Ewigkeit hin weiter interpretiert werden, kann die Rede von perfekten Werken sein. Maßgeblich entscheidend dafür, ob das Werk perfekt ist oder nicht, ist nicht der Künstler selbst, sondern die Menschen, die das Werk interpretieren oder nicht, ob das Schriftwerk gelesen wird oder nicht. Die Aufgabe eines Architekten besteht nicht nur aus dem Gebäudebau selbst. Ein Architekt sollte darauf achten, dass seine Entwürfe, seine Gebäude und Parkanlagen nicht Feindseligkeit bei Menschen aus unterschiedlichen Religionen, Sprachen und Sekten auslösen, sondern zum Zusammenleben hinführen. In diesem Zusammenhang erbittet Sinan von den Künstlern, die mit ihren Kunstwerken ihre eigene Identität, ihr Kunstverständnis und ein gesellschaftliches Kommunikationsmodell widerspiegeln, sich darüber bewusst zu sein, dass ihre Brücken, Parkanlagen und Gebäude der Gesellschaft eine schönere Zukunft bieten können, auch wenn die Gesellschaft derzeit noch nicht bereit dafür ist oder nicht daran glaubt. Dies wird besonders aus seinen folgenden Werten ersichtlich:
“Noch während sie in einem Viertel Gebäude zerstörten und den Schutt fortbrachten, wurden in anderen Teilen der Stadt bereits neue, ebenso ungenehmigte, gefährliche und hässliche Häuser errichtet, und die Vorschriften, die Sinan hinsichtlich der Breite der Straßen und Höhe der Häuser erlassen hatte, wurden einmal mehr missachtet. Niemals hätte er gedacht, dass es zu den Aufgaben eines Architekten gehörte, die Stadt vor ihren Bewohnern und die Vergangenheit vor der Zukunft zu schützen.” (Shafak: 2015, 418)
Damit der Künstler nicht im eingeschränkten und flachen Kunstverständnis gefangen bleibt, zu dem ihm die gesellschaftlichen Bedingungen und Zeit, in der er lebt, zwingen, sollte er die gesellschaftlichen Probleme und die Zukunft beleuchten, nicht nur von einem bestimmten Meister beeinflusst sein, mit dem Traum leben, zukunftsbestimmende Kunstwerke produzieren, sich darüber bewusst sein, dass es nur durch langfristige, geduldige und aufopfernde Bestrebungen möglich ist, sein eigenes Kunstverständnis zu entwickeln, und Werke von Künstlern, die in der Geschichte Spuren hinterlassen haben, in Bibliotheken zu recherchieren. “Meister sind etwas Großartiges, aber Bücher sind besser. Wer eine Bibliothek besitzt, hat tausend Lehrer.” (Shafak: 2015, 181S. 237), sagt er hierzu.
Für die existierenden gesellschaftlichen Probleme hielt der Architekt keine andere Person oder Behörde für verantwortlich als sich selbst. Die Probleme, die in der Zukunft auftreten können, könnten nur durch diejenigen gelöst werden, die dazu fähig sind, die Verantwortung für ihre Äußerungen und Taten zu tragen. Alle möglichen Schwierigkeiten, mit denen sie während ihrer Ausbildung konfrontiert werden, könnten nur durch eine gesellschaftliche Struktur gelöst werden, die mutig und aufopfernd zugleich ist. Der Architekt Sinan strengte sich nicht nur an, die Probleme seiner Lehrlinge in Bezug auf die Bauarbeiten zu lösen, sondern gab auch sein Bestes, um sie in der Zukunft zu kreativen Künstlern zu machen. Dies wird besonders in seinen folgenden Worten deutlich:
“Allmählich verstand er, was Sinan tat und von Anfang an getan hatte. Jahan, Davud und Yusuf – sie unterscheiden sich gänzlich, doch sie waren alle gleichermaßen gebrochene Menschen. Meister Sinan ging es nicht nur darum, sie auszubilden. Er wollte mit Entschiedenheit heilen.” (Shafak: 2015, 455)
Die friedlichsten Veränderungen lösen die grössten Kunstwerke aus
Gottes Existenz wahrzunehmen und sie zu verstehen, ist auch durch Gedanken möglich, die Kunstwerke hervorrufen. Im Werk heißt es dazu bedeutungsvoll:
“Das Taj Mahal wurde in strenger Symmetrie errichtet, als stünde auf einer Seite ein Spiegel und niemand wüsste, auf welcher. Steinernes Abbild im Wasser. Gottes Abbild in den Menschen.” (Shafak: 2015, 646)
Und erst durch die Interpretation der Kunstwerke, die die Künstler produziert haben, besteht die Möglichkeit, Gott zu erreichen und Ihn zu verstehen:
“So lag er unter der majestätischen Kuppel der Süleymaniye-Moschee, […] Auch die Zeit schien stehengeblieben zu sein, und er hatte das Gefühl, als wäre er in diesem Moment dem Mittelpunkt des Universums einen Schritt nähergekommen.” (Shafak: 2015, 230)
Das Leben neu zu definieren, ihm eine neue Richtung zu geben und die Suche nach der Wirklichkeit wird immer nur in Geschichten, Romanen, in den Klängen der Musik, im Gemälde des Künstlers, im Entwurf und der Idee des Architekten widergespiegelt. Aber für Kunstwerke, die zu einem auf gegenseitiger Liebe und Toleranz beruhenden Kommunikationsmodell beitragen, und die darauf hindeuten, dass Gesellschaften in Frieden miteinander leben können, erreicht:
“Das Abbild der Liebe im Leid des Herzens. Das Abbild der Wahrheit in den Geschichten. Wir leben, plagen uns und sterben unter derselben unsichtbaren Kuppel. Reich und Arm, muslimisch und getauft, frei und versklavt, Mann und Frau, Sultan und Mahut, Meister und Schüler […]” (Shafak: 2015, 645)
Die Namen derjenigen, darunter auch Padischahs, die ihre Herrschaft durch Gewalt zu schützen versuchen und Angehörige einer repressiven und imposanten Ansicht sind, werden in Zukunft nicht weiter erwähnt werden. Wie prächtig, prunkvoll und mächtig ihre Herrschaft auch sein mag und wie sehr sie auch versuchen, mit Armeen, Waffen und Gewehren Künstler davon abzuhalten, ihre Gedanken auszudrücken, werden sie in Vergessenheit geraten. Künstler hingegen, die unsterbliche Werke wie den Taj Mahal Tempel- welcher mit Liebe gebaut wurde- und die Süleymaniye Moschee- welche das friedliche Zusammenleben von Menschen darstellt- hervorbringen, werden mit ihren Werken, die ihre Kreativität widerspiegeln, weiterhin interpretiert werden und die verbietende und indossierende Ansichten verändern, selbst wenn sie eines Tages zum Tode verurteilt werden. Die Menschen auf der ganzen Erde ans Herz zu drücken ohne dass sie wegen ihrer Religion, Sprache, Rasse und Sekte diskriminiert werden, mit ihnen zusammen zu leben und sie leben zu lassen, Kunstwerke hervorzubringen, die den Frieden und die Freiheit hervorrufen: Dies alles wird dazu beitragen, dass die von gesellschaftlichen Bedingungen indossierten Feindseligkeiten und Kriegen, die den Interessen einer Handvoll von Oberhäuptern dienen, an Bedeutung verlieren und noch freiere, noch tolerantere Gesellschaftsbedingungen aufgestellt werden können. Dementsprechend heißt es im Werk:
“Wenn es eine Form gibt, die uns alle umfassen kann, so habe ich erkannt, ist es die Kuppel. In ihr verschwinden alle Unterschiede, und jeder Laut, ob freudig oder traurig, geht ein in die große Stille allumfassender Liebe. Wenn ich die Welt auf diese Weise betrachte, fühle ich mich verwirrt und benommen und ich kann nicht mehr sagen, wo die Zukunft beginnt und die Vergangenheit endet, wo der Westen hinabsinkt und der Osten aufsteigt.” (Shafak: 2015, 645)
Die imposante Ansicht, welche über alle institutionellen Mechanismen, Materialien, Rechten und Mächten verfügt, um jegliche Demonstrationen aufzulösen, die Legitimität ihrer Macht zu gewährleisten und Massenaktionen mit Gewalt ins Scheitern zu bringen, ist nur den Kunstwerken gegenüber wehrlos. Kunstwerke werden produziert, um von Rezipienten mit ihrem eigenen Willen und ihrer eigenen Entscheidung interpretiert zu werden. Sie haben keinen Eingriff auf die Gedanken dieser. Kunstwerke haben die Macht, auch die brutalsten Regime radikal und tiefgreifend zu erschüttern und zu verändern, ohne dass jemand dabei verletzt wird.
Die wirksamste Herausforderung des Individuums/Künstlers gegen das repressive System wäre es, seine Ansichten in Kunstwerken, Brücken, Gebäuden, Parkanlagen umzusetzen, welche darauf hindeuten, dass Menschen mit unterschiedlichen Angehörigkeit auf der ganzen Welt friedlich miteinander leben können, und somit dazu beitragen, dass diese Ansichten gespürt, gesehen und wahrgenommen werden und dass darüber gesprochen wird.
Die Machthaber fürchten sich davor, dass ihre Herrschaft in Gefahr gerät, wenn diese Kunstwerke interpretiert werden, Diskurse bestimmt werden und durch diese Ansichten sich die gesellschaftliche Struktur wandelt. Sie sind sich dessen bewusst, dass sie keinen anderen Ausweg haben als das Kunstverständnis, welches ihren eigenen Interessen dient, allen Künstlern zu indossieren und die Künstler, die sich dagegen wehren, zu töten. Es ist ihnen bewusst, dass Kunstwerke Eigenschaften besitzen, die sogar die brutalsten Regimes zerstören können. Doch die Zukunft wird nicht durch diejenigen gestaltet, die Angst vor Freiheit haben, sondern durch Kunstwerke, die die Eigenschaft haben, jederzeit und an jedem Ort wahrgenommen zu werden, und die die Idee des Zusammenlebens und die Freude daran hervorrufen.
QUELLENANGABEN
KAHRAMANLAR, Hüseyin (2004): Das Verhältnis zur Zeit und die ‚Vergegenkunft‘ in Gerhard Köpfs Prosa.- unveröffentlichte Doktorarbeit
SHAFAK, Elif (2015): Der Architekt des Sultans. Übersetzt von Michaela Grabinger
[1] Ich promvovierte dank der Unterstützung Prof.Dr. Gertrude Durusoys im Jahre 2004 mit meiner Doktorarbeit “Das Verhältnis zur Zeit und die ‚Vergegenkunft‘ in Gerhard Köpfs Prosa.”
[2] In diese Untersuchung wurde folgende Ausgabe in der Übersetzung von Michaela Grabinger verwendet: Der Architekt des Sultans, Kein und Aber, 2015- Original: The Architect’s Apprentice (2012).
[3] gegorenes Hirsegetränk
[4] Shirk: bezeichnet die Auflehnung gegen Gott
[5] fester Glaube, Annahme des Islams