Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 2. Nr. November 1997

Theaterwissenschaft und Literaturwissenschaft
Gegensätzlichkeiten und Ergänzungen

Ulf Birbaumer (Wien)
[BIO]

Kunst ist nicht ein Luxusmittel, in schönen Seelen die Gefühle der
Schönheit, der Freude oder dergleichen auzulösen, sondern eine
wichtige geschichtliche Form des gesellschaftlichen Verkehrs
der Menschen untereinander, wie die Sprache.

Rosa Luxemburg

I

Früher einmal - an manchen Universitäten liegt das noch gar nicht so märchenhaft weit zurück - wäre man wohl überrascht gewesen, so gegensätzliche Disiplinen, was ihren Forschungsgegenstand, ihre Methodik und ihre Teleologie betrifft, in einem grundsätzlichen Beitrag mit einem freundlichen und verbunden zu sehen. Da setzte man entweder ein klares und gegnerschaftliches versus (das bedeutete wenigstens eine ehrliche Auseinandersetzung) oder - und das habe ich noch in meiner frühen Assistentenzeit erlebt - man wollte von Seiten der Germanistik einfach nicht wahrhaben, daß der "Dissident" Max Herrmann bereits in den Zwanzigerjahren eine über die reine Theatergeschichtsschreibung weit hinausgehende neue Disziplin geschaffen hatte, basierend auf seiner "Rekonstruktionsmethode" der szenischen Aufführung von Dramentexten.(1) Wenn diese Methodik auch bald revidiert werden mußte, wenn die gesamte Disziplin im deutschsprachigen Bereich sich auch bald reichsdramaturgischem Gebrauchswert unterzuordnen hatte - die Abspaltung von der Literaturwissenschaft war ein für allemal vollzogen. Spätere Heimholungsversuche in den Schoß der alten Mutter Germanistik, in die Literatur- oder in die Textwissenschaft blieben vergeblich.(2)

Mit zunehmender Eigenständigkeit der Theaterwissenschaft ging ein wachsendes positives Selbstverständnis dieser insgesamt sehr jungen Disziplin einher, in Verbindung mit einer wesentlichen Erweiterung des Forschungsgebietes seit dem Ende der sechziger Jahre dieses Jahrhunderts nicht nur in Richtung der Medienforschung, sondern auch der kulturellen Kommunikation im weiteren, der Theater- und Mediensoziologie sowie theater- und medien-spezifischer Zeitgeschichte im engeren Sinn. Zudem zwingt der verstärkte Bedarf der Interdisziplinarität in der modernen Wissenschaft und Forschung zu mehr Partnerschaft und Zusammenarbeit, deren Notwendigkeit durch Zwänge von außerhalb der Universitäten (in ganz Europa geht die neue Austeritypolitik im Bereich der Wissenschaft vor allem zu Lasten der sog. Kulturwissenschaften) noch unterstrichen wird.

 

II

An die Stelle des peniblen Sich-Abgrenzens früherer Jahre (3) gegenüber so nahestehenden Disziplinen wie beispielsweise der Literatur- oder der Kommunikationswissenschaft ist das Miteinander des Sich-Ergänzens getreten.

Lassen wir die Erweiterung der Disziplin in den Bereich der technischen Medien vorerst einmal beiseite, dann bleibt uns eingangs nur eine ebenso banale wie lapidare Formel:

Theaterwissenschaft ist die Wissenschaft vom Theater. Und nicht (nur) die Wissenschaft vom Drama: sonst müßte sie ja Dramenwissenschaft heißen. Der dramatische Text ist ein literarisches Genre und gehört als solches zu den Forschungsgebieten der Literaturwissenschaft. Was aber nicht bedeuten kann, daß die Theaterwissenschaft damit nichts zu tun haben will; aber sie ist sich immer bewußt, daß das Drama, der literarische Text nur ein Faktor von vielen sein kann, die bei der Entstehung einer Theateraufführung zusammenwirken. Und nicht einmal das ist ganz sicher: kennt doch das Theater in Vergangenheit und Gegenwart zahlreiche Theaterformen, die u.U. teilweise oder zur Gänze ohne einen solchen Dramentext auskommen. Vom ersten professionellen Theater, dem teatro dell’arte an (der commedia all’improvviso, oder - in unserem Fall einleuchtender - auch commedia a sogetto genannt) bis zu den Experimentaltheaterformen des 20.Jahrhunderts, ganz speziell wiederum der 60er und 70er Jahre, gibt es Theater ohne literarisch ausformulierten Text. Die Spielvorlage wird meist im Kollektiv der Mitwirkenden geschaffen: man spricht von écriture collective oder création collective.(4)

Die Pariser Theatersemiologin Anne Ubersfeld hat es verstanden, diese Diskussion auf einen systematischen, formelhaften Punkt zu bringen, indem sie in "lire le théâtre" (5) das oben Gesagte in ein scheinbar banales Kürzel zwingt:

T + T’ = P

T bezeichnet den dramatischen Text, der - in welcher Form auch immer (als Druck, als Kopie, als Manuskript) - dem Leser, somit auch allen Beteilgten an einer ev. geplanten szenischen Realisierung vorliegt. Da er allerdings nicht 1:1 umsetzbar ist, fügt Ubersfeld ein T’ hinzu, das soviel bedeutet wie szenisch konnotierter Text, übertragen in die Theaterpraxis: Spielvorlage, szenische (dramaturgische) Fassung, Regiebuch etc. Beim Film könnte man von der Letztfassung des Drehbuches sprechen. T’ ist die unmittelbare Vorlage für P, das ist die présentation (représentation), das heißt die Aufführung, die schon genannte szenische Realisierung. Natürlich vermittelt diese Formel das Gefühl mathematischer Exaktheit. Da im Theater es durchaus vorkommen kann, daß 2 + 2 gleich 5 ist, schlage ich eine kleine Änderung vor in: T > T’ > P, schließlich handelt es sich ja um einen theatralen Prozeß, um einen kommunikativen Vorgang, der da in Bewegung gesetzt wird. Die statische Formel muß wohl in ein dynamisches Kommunikationsschema verwandelt werden, um dem szenischen Gesamtkunstwerk gerecht zu werden. Dazu gleich noch mehr.

Aus Ubersfelds Ansatz resultiert für uns auch die Erkenntnis, daß T # P ist. T, der literarische Text, wir sagten es schon, ist nicht in kongruenter Form auf die Bühne umsetzbar. Dazu bedarf es nicht einmal eines "Marstheaterstücks" wie Kraus’ "Letzte Tage der Menschheit" oder einem Monsterstück des Dokumentartheaters der 60er Jahre wie Hochhuths "Stellvertreter". Kein Drama entkommt dem Stadium, das ich einmal dramaturgische Fassung nennen möchte. Ganz zu schweigen von jenen Theaterarbeiten, denen überhaupt kein T zugrunde liegt, sondern nur ein wie immer zustandegekommenes T’ wie in der genannten écriture collective.

Semiotisch gesprochen unterscheiden sich T und P durch die Zeichen, durch die sie jeweils konstituiert werden: der Text durch linguistische, die Aufführung durch szenische; das bedeutet Monolog, Dialog, Didaskalien auf der einen, akustische, visuelle, ev. auch haptische und olfaktorische Zeichen auf der anderen Seite. Was die Rezeption betrifft, so erfolgt sie bei T durch den Leser diachron (entsprechend der linearen Lektüre), während der Theaterzuschauer die vielfältigen (linguistischen und nicht-linguistischen) szenischen Zeichen synchron, also gleichzeitig, erlebt. Werden die linguistischen Zeichen des Textes durch die Lektüre einer zeitlichen Ordnung unterworfen, so ist die Rezeption der vielfältigen, simultanen raum-zeitlichen Zeichen der présentation scénique durch den Zuschauer selbst zu organisieren. Er tut dies natürlich nicht unbeeinflußt: schon der Autor (Dramatiker oder Kollektiv) setzt in seiner Publikumsdramaturgie (6) sog. Wirkungsprinzipien (7) fest (direkte und indirekte szenische Anmerkungen - Didaskalien, sprechende Namen im Personenverzeichnis, Ortsangaben in den Dialogen etc), das Aufführungsteam (Regisseur, Bühnenbildner, Dramaturg) unterstreicht dann oder unterläßt, betont oder blendet aus, verstärkt oder schwächt ab gemeinsam mit den Akteuren durch das Setzen akustischer und visueller Symbole, also szenischer Zeichen, wünschenswerterweise in größtmöglicher réciprocité, (d.i. in gegenseitiger Entsprechung mit dem Text des Dramatikers) und lenkt auf diese Weise die Organisation des Zuschauers im Sinne seiner interpretatorischen Sicht, seiner In-szenierung. Ubersfeld sagt, der Regisseur schreibe sich in die Lücken ein, die der Dramatiker läßt.

 

III.

Ein Beispiel: Molière. Er kommt vom Jahrmarkt, von der Commedia-Wandertruppe. Das erklärt vielleicht, warum er mit Didaskalien so geizt. Die Béjart und all die anderen in der Truppe wußten blind, wie seine Texte umzusetzen waren. Eine Chance für den Regisseur heute: er kann sich sehr umfangreich in die Lücken einschreiben. Ubersfeld nimmt das Beispiel des "Misanthrope", hier erscheint T besonders "durchlöchert". Zu Beginn wissen wir nichts über den szenischen Kontext. Alceste und Philinte zu Beginn. Sind die beiden Personen schon auf der Bühne oder kommen sie erst? Wenn ja, wie kommen sie? Schreiten sie oder laufen sie? Wer folgt wem? Von welcher Seite kommen sie? Welche Bedeutung für die szenisch erzählte Geschichte hat die Regie-Entscheidung für diese oder jene Auftrittsvariante? Fragen, auf die die Inszenierung zu antworten hat. Fragen, die dann post festum die theaterwissenschaftliche (und nicht die literaturwissenschaftliche) Interpretation durch die Aufführungsanalyse (8) zu ihrem Thema macht, eine Interpretation der theatralen ( # textuellen) Zeichen.

Konkret läßt sich das Gesagte sehr gut anhand der mise en scène des "Tartuffe" durch Ariane Mnouchkine (Wien, 1995) zeigen. Das Théâtre du Soleil gastierte bei den Wiener Festwochen mit Hélène Cixous’ "La ville parjure", ein Stück, das sich u.a. mit dem Versagen französischer Ärzte und der Gesundheitspolitik bei der Herstellung und dem Einsatz von Blutkonserven kritisch auseinandersetzt. Durch längere Zeit hindurch waren auch aids-infizierte Blutkonserven in Verwendung. Ärztekritik. Ein sehr molièreskes Thema. Durch einen Kooperationsvertrag mit den Festwochen hatte die Mnouchkine die Möglichkeit ihr Tartuffe-Projekt in Wien fertigzustellen. Ein Teil des Bühnenbildes von "La Ville parjure", eine Mauereinfriedung mit zentralem schmiedeeisernen Tor im Hintergrund, wurde als ein Element der Verbindung von beiden Produktionen übernommen. Mit diesem, aufs erste Hinschauen eher vordergründigen szenisch-räumlichen Element beginnt der Moment des "Sich-Einschreibens in die Lücken" von dem zuvor die Rede war. Ariane verwandelt die graue Mauer vor der Industriearchitektur der zwanziger Jahre in eine Gartenmauer, hell, freundlich, an vielen Stellen mit Bougainvillias in verschiedenen Rottönen überwachsen. Helles mediterranes Licht fällt in den Patio, wo schwarzgekleidete alte Frauen geschäftig herumschwirren... Plötzlich ertönt Ethnomusik, ohne Mühe einzuordnen in den nordafrikanischen Maghreb - wie das ganze Ambiente. Rechts hinten wird ein Wagen mit den verschiedensten Waren von einem kleinen Mann mit einem roten Fez auf dem Kopf hereingeschoben; auch die Quelle der arabischen Musik wird sichtbar: ein längliches Portable mit zwei Lautsprechern wird vom Händler abgestellt. Das Tor wird geöffnet, das mediterrane Personal in dem Wohlhabenheit austrahlenden Anwesen kauft dies und das... Bisher wurde noch kein Wort gesprochen, erst jetzt kann Molières "Tartuffe" beginnen. Was bei allen Theatergöttern hat er mit diesem Ambiente zu tun? Wie man sehen wird, doch einiges. Mnouchkine hat in die vom Autor offengelassenen Lücken so eingeschrieben, weil sie den bigotten Tartuffe in ein islamisches Umfeld stellen will, besser gesagt in ein muslimisch-fundamentalistisches: das wird durch sein Äußeres und durch seine Begleitung noch unterstrichen. Vollbärtig und mit einer langen Djellaba bekleidet, wie auch seine stummen Begleiter, tritt er auf. Eine Aktualisierung, gewiß, aber eine, die durchaus noch das Prädikat Werktreue verdient. Molières Text wird nicht verändert.

 

IV

An diesem Beispiel sollte gezeigt werden, wie sich zumindest in einem Teilbereich die Theaterwissenschaft von der Literaturwissenschaft unterscheidet. Diese will den Theatertext linguistisch analysieren, nach linguistischen Regeln, jene hat mit der Aufführungsanalyse (analyse des spectacles) zu tun. Die Aufführung ist durch ein von den textualen Zeichen unterschiedenes Zeichensystem konstituiert, das - zumindest teilweise - einem Kommunikationsprozeß gleicht. Anne Ubersfeld sagt auch warum: weil es mehrere Sender gibt, eine ganze Serie von Botschaften und einen multiplen Empfänger (wenn auch am selben Ort). Doch zu Theater als kommunikativer Vorgang komme ich noch zu sprechen.

Von einer semantischen Äquivalenz der textgebundenen Zeichen in T und der szenisch gebundenen Zeichen in P könnte mithin nur dann gesprochen werden, wenn beide Zeichengruppen kongruent wären. Das bleibt aber Illusion, weil es eine totale Übereinstimmung von T und P nicht geben kann. Hingegen weisen die beiden Zeichengruppen so etwas wie eine mobile Intersektion auf, die je nach Aufführung kleiner oder größer sein kann. Nun gibt es im zeitgenössischen Experimentaltheater, da wieder vor allem in bestimmten Genres (Tanztheaterformen z.B.), schon seit den 70er Jahren die Tendenz, T in der Produktion auf radikale Weise zurückzudrängen, ja Textuales überhaupt zum Verschwinden zu bringen - P besteht dann nur mehr aus nonverbalen Zeichen.(9)

Das Besondere, das das darstellerische Kunstwerk auf der Bühne auszeichnet, ist seine Theatralität, von der Roland Barthes (mit Bernard Dort der wichtigste französische théoricien-critique) sagt, sie sei die veritable informatische Polyphonie, sie repräsentiere eine Dichte der Zeichen, die im Ereignis, also in der Aufführung, feststellbar ist.(10)

Wenn wir also etwas über das Theaterkunstwerk aussagen wollen, sei es über länger zurückliegende (historische) Aufführungen oder über den gestrigen Theaterabend (der in dieser ephemeren Kunst natürlich auch längst historisch zu nennen ist), müssen wir eine möglichst genaue Aufführungsanalyse durchführen, so wie wir für unsere anderen Forschungsobjekte aus dem Bereich der AV-Medien ja auch primär eine kritische Präsentationsanalyse brauchen.

Patrice Pavis beeilt sich in seinem jüngsten Buch (11) darauf hinzuweisen, daß die Aufführungsanalyse natürlich weder eine Erfindung des Strukturalismus ist, noch der Semiologie: jeder Zuschauerkommentar zu einer Aufführung sei bereits ipso facto eine Analyse, "dès lors qu’il relève, nomme, privilégie et utilise tel ou tel élément, établit des liens entre eux, approfondit l’un au dépens de l’autre. En commentant verbalement le spectacle, le spectateur n’est pas contraint de verbaliser l’indicible, il s’efforce plutôt de trouver des points de repère. La description se greffe le plus souvent sur le récit d’une histoire (d’une fable), ou du moins sur la narration des événements scéniques les plus marquants, ce qui facilite un repérage des matériaux utilisés, une segmentation naturelle de la représentation et une extraction des temps forts ou des morceaux choisis de la mise en scène."(12) Zum Beispiel visuelle Symbolik.

Die Aufführungsanalyse hat also durchwegs eine lange Tradition, mit Diderot und Lessing ist sie ältere, mit Dort und Barthes - im Sinne einer kritischen Theorie - jüngere Theatergeschichte, mit entsprechenden Facetten: der der dramaturgischen Analyse (bis hin zu Brecht) und der der Analyse des Ästhetischen und Ideologischen bei den genannten Kritiker-Philosophen. Ihre Annäherung an die Aufführung ist eher die synthetische, die Zersplitterung des Blicks durch die Unterstreichung der Hauptlinien des Theaterereignisses unterstreichend.

Patrice Pavis versucht in seinem neuen Buch (theaterhistorische) Analyse und Semiologie zusammenzudenken. Für die Aufführungsanalyse sieht er grossomodo zwei Hauptfunktionen: die der Reportage und die der Rekonstitution (wohlgemerkt nicht Rekonstruktion).

Der Analyse-Typ Reportage (Pavis bringt den Vergleich zur Radio-Direktübertragung eines Fußballspiels) setzt natürlich voraus, daß der Analysierende die Aufführung möglichst mehrmals sehen kann, also seine persönliche Erfahrung methodisch einbringt. Er steckt quasi mittendrin, er kann so die Aufführung "dans le feu de l’action" (12a) in den Griff kriegen. Er kann Wirkungsprinzipien am Detail festmachen, er kann die ganz konkrete Erfahrung machen, was den Zuschauer im Laufe der Aufführung tatsächlich betroffen macht: er kann sagen, was ihr punctum ist (13). Er kann studieren, wie der Zuschauer reagiert (emotional und cognitiv), was die Vielfältigkeit und Simultaneität der szenischen Zeichen bewirken.

Die rekonstitutive Analyse hingegen versucht sich am historischen Objekt. Der Theaterforscher sammelt Indizien, um eine Aufführung post festum zu rekonstituieren; Dokumente der verschiedensten Art wie Regiebücher, Rollenbücher, Souffliertexte, Fotos, Programmhefte, Bühnenbild- und Kostümskizzen, Modelle, Probentagebücher etc. und alle Formen der akustischen und visuellen Speicherung: Tonband, Video, Film, CD-Roms.

Und natürlich auch Kritiken und Interviewtexte (oral history), Quellen die gesondert und mit der gebotenen Vorsicht zu gebrauchen sind. Und er studiert sie. "Un tel studium est sans fin, mais la difficulté ... est d’exploiter l’étude de tous ces documents de facon à restituer une partie de l’expérience esthétique qui a été celle du public."(14)

 

V

Doch zurück zur Theaterwissenschaft und ihrem noch jungen Selbstverständnis als Wissenschaft der kulturellen Kommunikation, einem Punkt somit, wo sie sich m.E. grundsätzlich von der Literaturwissenschaft unterscheidet, vor allem in jenen Ausprägungen des Faches (und das ist weltweit mehrheitlich so), die die Medienwissenschaft, die Wissenschaft von den technisch vermittelten Medien Film, Fernsehen, Video, PC / Internet, inkludieren. Vorerst das Theater betreffend: schon Ubersfeld sprach davon, daß das szenische Zeichensystem spectacle einem Kommunikationsprozeß gleiche (siehe oben).

I. Osolsobê beispielsweise spricht vom Theater als Prototyp zwischenmenschlicher Kommunikation, wenn er meint: "Ce qui est exclusivement spécifique du théâtre, c’est qu’il représente son objet, la communication humaine, par la communication humaine: au théâtre la communication humaine (la communication des personnages) est alors représentée par la communication humaine elle-même, par la communication des acteurs." (14a)

Da sich die Theaterwissenschaft als Wissenschaft der kulturellen Kommunikation auch als Medienwissenschaft (die es in dieser Form nicht als eigenständige Disziplin gibt - zumindest nicht in Österreich) verstehen will, wäre nunmehr nach einer Darstellung zu suchen, die die interdependenten und/oder interaktiven Faktoren in einem dynamischen Kommunikationsmodell zusammenfaßt. Die Makrostruktur eines solchen Kommunikationsprozesses - sozusagen als kleinster gemeinsamer Nenner für Theater im weitesten Sinn und die technisch kommunizierten Medien - könnte wie folgt aussehen:

Diese Makrostruktur gewährleistet tatsächlich eine Untersuchung der Forschungsobjekte der Theaterwissenschaft in ihrer ganzen Komplexität. Die jeweiligen Mikrostrukturen sind leicht und jeweils entsprechend in das Schema einzubauen. Die Bezeichnung der Eckpunkte mit P ist der Merkfähigkeit zuliebe zugegebenermaßen etwas vereinfachend erfolgt. So wäre P 4 vielleicht besser mit Rezeption zu bezeichnen.

Vielleicht noch ein Wort zu den Prämissen, die, genauer gesprochen, die exogenen Bedingungen im gesellschaftlichen (sozialen) Umfeld meinen. Mir ist im Laufe meiner Arbeit natürlich klar geworden, daß unser generelles Forschungsobjekt formalästhetisch wie inhaltlich mit der jeweiligen Gesellschaft aufs engste verbunden ist, deren Kommunikationsmittel es naturgemäß darstellt. Daher müssen die exogenen Bedingungen eine Art Brückenkopf des Kommunikationsschemas bilden.(15)

Im Grundsätzlichen ähnlich hat übrigens schon der amerikanische Kommunikationsforscher H.D.Lasswell versucht, der Kommunikationsforschung eine systematisierende Formel an die Hand zu geben. Sie lautet: Who Says What in Which Channel to Whom With What Effect?"(16)

Was aber hier noch fehlt und was unser Schema zusätzlich einbringt, sind eben diese Bedingungen, ohne die das interaktive Kommunikationsschema nicht funktionieren kann.

 

VI

Ich komme zum Schluß. In der Anwendung hat sich dieser methodische Ansatz in unserer Disziplin vielfach bewährt. So hat beispielsweise Christian Mikunda in seiner Arbeit über die emotionale Sprache des Films diese interaktive Makrostruktur zu einem "kybernetischen Modell kultureller Prägung" weiterentwickelt (17). In jedem Fall hat dieses Schema oder Modell etwa der in der Kunstsoziologie gebrauchten linearen Formel (Autor-Werk-(Interpret)-Publikum) oder den statischen Funktionsschemata der Theaterwissenschaft (Margret Dietrich) etwas ganz Wichtiges voraus: nämlich die Dynamik des Sozial-Prozeßhaften im Sinne von Anne Ubersfelds "Ungleichung" T # P. Und es hilft dem Theaterforscher als Medienwissenschafter, um es banal auszudrücken, seine erweiterten Forschungsaufgaben, sprich: Theater und AV-Medien methodisch leichter unter einen Hut zu bringen.

Mir ist vollkommen klar, daß die diversen Wisenschaftsfelder der neueren Theaterwissenschaft hiermit in keiner Weise vollständig abgehandelt werden konnten, so wäre mir noch sehr stark an Fragen der Theatersoziologie, Publikumsforschung, aber auch Devianzforschung (also Nischenforschung) gelegen. Und natürlich an der detaillierteren Erläuterung des engeren Forschungsobjekts Theater , das bei aller Kompliziertheit seines ephemeren Charakters - eine Theateraufführung ist Abend für Abend eine andere, während die technisch vermittelten Medienprodukte (relativ) konstant zur Verfügung stehen - auch einen enormen Vorteil vor der Literatur hat: Theater ist international, interregional, interkulturell; da die Sprache, da der literarische Text nur ein Faktor von vielen ist, ist Theater kaum regional begrenzt oder kulturkreisfixiert. Theater ist grenzüberschreitend und damit auch die Wissenschaft vom Theater.

© Ulf Birbaumer (Wien)

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Anmerkungen:

(1) Vgl. Dietrich Steinbeck: Einleitung in die Theorie und Systematik der Theaterwissenschaft. Berlin 1970. bes. S. 21 ff.

(2) Das zeigt die Situation an der Wiener Universität und ihrer Geschichte sowie die Institutsgeschichte der dort in der grund- und integrativwissenschaftlichen Fakultät beheimateten Theaterwissenschaft.

(3) Etwa zur von Paupié vertretenen "Zeitungswissenschaft".

(4) So etwa Armand Gatti oder Ariane Mnouchkine ("Wir alle sind Autoren"). Auch auf die katalanische Gruppe Fura dels Baus trifft das u.a. zu.

(5) Anne Ubersfeld: Lire le théâtre, seit 1977 in 5 Auflagen erschienen. Mir stand die Ausgabe von 1982 (Paris, Messidor - éditions sociales) zur Verfügung.

(6) Vgl. Volker Klotz: Dramaturgie des Publikums. München 1976.

(7) Christian Mikunda: Die emotionale Sprache des Films, Diss. Wien 1983. Später als "Kino spüren" in Buchform erschienen.

(8) Patrice Pavis: L’Analyse des spectacles. Paris 1996.

(9) Vgl. Ubersfeld, S. 20 ff.

(10) Zitiert ebenda.

(11) Siehe Anm. (8)

(12) A.a.O., S.9.

(12a) A.a.O., S.11.

(13) Ebd.

(14) A.a.O., S. 12.

(14a) Patrice Pavis: Dictionnaire du Théâtre. Paris 1996, 2.Auflage, S.61.

(15) Ulf Birbaumer: Theorie und Praxis alternativer theatralischer Kommunikation... Wien 1981 (Habil.), S.65 ff.

(16) H.D.Lasswell: The Structure and Function of Communication of Ideas. New York 1964, S.54.

(17) Christian Mikunda: Die emotionale Sprache des Films. Wien 1983 (Diss.). Später als "Kino spüren" in Buchform erschienen.


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