Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 3. Nr. März 1998

Information oder Wissen? Die Kulturwissenschaften im digitalen Zeitalter

Antonio Sousa Ribeiro (Coimbra)

Es liegt auf der Hand, daß die neuen Möglichkeiten des Umgangs mit Information nicht einfach eine verbesserte technische Hilfe darstellen, wie man vielleicht anfangs, in der "imitativen Phase" der neuen Technologien hätte denken können, sondern tiefgreifende Folgen für die Ordnung des Wissens unumgänglich mit sich bringen. Gerade an diesem Punkt müßte sich die Selbstreflexion als besondere Tugend der Kulturwissenschaften erweisen. Zumal da die digitale Revolution global ist, was unter anderem zu bedeuten hat, daß sie eine totale technologische Reorganisierung des sozialen Raums impliziert.

Ich erzähle zuerst eine Geschichte. Es dürfte allgemein bekannt sein, daß das magische Wort Hypertext zum ersten Mal 1965 bei einem inzwischen in der Cyberculture fast legendären Vortrag von Theodor Nelson auf die Welt kam. Vielleicht nicht so bekannt ist aber, daß Nelson seine Hypertexttheorie zunächst als persönliche Therapie entwickelte. Er leidet nämlich unter dem sogenannten Syndrom der Defizitären Konzentration, d.h. er kann sich nur schwer und nicht lange konzentrieren, verliert immer wieder den Faden der Gedanken, jede selbst geringfügige Unterbrechung hat für ihn qualvolle Folgen. Unter diesen Umständen ist er auf die Idee gekommen, ein System der sprachlichen Darstellung zu entwickeln, das aus zusammenhängenden aber untereinander unabhängigen Zellen oder Knoten bestehen würde. So könnte eine Gedankenkette verschiedenen Wegen folgen, aber nie wirklich aus der Bahn geraten und scheinbar disparate Wege würden im Grunde immer in einen sinnvollen Zusammenhang gebracht werden können. Ted Nelson hat selbst nie ein Buch zu Ende schreiben können. Seine beiden einzigen Buchveröffentlichungen (Computer Lib / Dream Machines, 1967; Literary Machines, 1982) wurden von Freunden und Mitarbeitern fertiggestellt. Auch verfügt er über Lagerräume, wo tausend und abertausend Stunden Audio- und Videoaufnahmen aufbewahrt sind. Alles irgendwie Brauchbare, das ihm in den Kopf kommt, wird aufgenommen. Er kann es, auch aus Zeitgründen, nicht selbst verwerten, registriert aber alles, damit es einmal von anderen - vielleicht - wiederverwendet wird. Er registriert alles, weil er sich überhaupt nicht erinnern kann - er stellt ein Archiv zusammen, das auf die Utopie eines totalen Gedächtnis zielt, eine Utopie, wie sie viele heutzutage in den digitalen Medien verkörpert finden. Sie sehen vielleicht schon, worauf ich mit dieser Geschichte hinauswill. Als ich vor kurzem auf sie stieß, erschien sie mir eigentlich als die perfekte Parabel für die gewandelten Bedingungen des Wissens in der sogenannten Informationsgesellschaft. Das Subjekt als Mittelpunkt und Träger des Wissens verschwindet von der Bildfläche; was bleibt, ist das Archiv als hypertextuell konstruiertes Netz, ein Labyrinth, wo jeder seinen Faden nicht von einer Ariadne empfängt, sondern selbst mitbringen muß, ohne jemals sicher sein zu können, daß er ausreichend lang sein wird. Für die einen ist dieses Labyrinth eine befreiende Erfahrung, für andere, die Vertreter einer humanistischen Kritik, ist das Netz der Minotaurus selbst: wenn man anfängt, sich mit ihm einzulassen, ist man schon verloren - gefangen im eigenen Netz. Glücklicherweise gibt es eine dritte Alternative, die Alternative einer bescheidenen Epistemologie, die sich den neuen Möglichkeiten weder euphorisch noch apokalyptisch annähert. Ein Zentrum gibt es in diesem Netz nicht mehr, wie in der berühmten Erzählung von dem Garten der Wege, die sich verzweigen, von Jorge Luis Borges, wo es keine richtige Lösung gibt oder geben kann, sondern eine Vielzahl im Grunde gleichwertiger Möglichkeiten, die durch Zufall verfolgt oder auch nicht verfolgt werden. Zeit und Raum sind somit definitiv zu unmenschlichen - oder, wenn man will, posthumanen - Größen geworden, weil mit der individuellen Erfahrung eigentlich inkommensurabel. Das Netz wäre die beste Metapher für den postmodernen Zustand, für eine Ordung des Wissens, die durch Dissemination und Dispersion charakterisiert wird; es ist aber keine Metapher, im Internet-Zeitalter ist es Wirklichkeit geworden. Eine der vielen möglichen Defitionen der Postmoderne, von dem französischen Anthropologen Marc Augé theoretisiert (er zieht eigentlich den Ausdruck "surmodernité" vor, aber das tut hier nichts zur Sache), wäre ihre Charakterisierung als Produzentin von Nicht-Orten (Augé, 1993). Der Begriff des "Nicht-Ortes" steht bei Augé im Gegensatz zum Begriff des anthropologischen Ortes. Dieser ist ein Ort, der eine stabile Identität definieren kann, der eine Relation mit dem Anderen erlaubt und eine beständige geschichtliche Dimension aufweist. Anthropologische Orte stellen sinnvolle Zusammenhänge her, sind subjektzentrierte Referenzpunkte, die eine strukturierende Funktion in der Gedächtnisbildung und der Wissensproduktion haben. Sie sind also Gedächtnisorte im Sinne Pierre Noras. Der Nicht-Ort im Gegenteil wird durch die Figur des Exzesses determiniert: Exzesse der Ereignisse, eine Erfahrung des Raumes, die durch Flüchtigkeit und Geschwindigkeit definiert ist, und, drittens, unendliche Multiplizierung der Referenzpunkte. Nicht-Orte sind auch in diesem Sinne einsame Orte, weil sich jede Begegnung jederzeit ins Nichts auflösen kann. Das digitale Netz ist der Nicht-Ort par excellence, das Revier des postmodernen elektronischen Flaneurs, des neuen Daten-Dandys.

Nun ist gerade die Frage nach einer Anthropologisierung des Wissens als Mittel zur Überwindung der Zersplitterung der geisteswissenschaftlichen Forschung in letzter Zeit laut geworden, wie in der 1991 von einem prominenten Team verfaßten Denkschrift Geisteswissenschaften heute (Frühwald, 1991: 51). Anthropologisiertes Wissen ist handlungsorientierendes Wissen, kontextuelles Wissen, das Identität und Relation herstellt. Die Forderung von dieser anthropologischen Fundierung wird im wörtlichen Sinne von einem radikalen Gedanken getragen - der Gedanke vom Menschen als die Wurzel des Menschen. Nun ist diese Figur im Zuge der rasanten technologischen Entwicklung inzwischen recht fragwürdig geworden. Die postmoderne Turbulenz hat das Gleichgewicht zwischen Wurzeln und freien Entscheidungen ins Schwanken gebracht. Im digitalen Zeitalter gibt es eigentlich keine Wurzeln mehr, es gibt bloß Rhizome, um das schon alte Bild von Gilles Deleuze wieder aufzugreifen - und eine Rhizomkultur ist eigentlich weder verwurzelt noch entwurzelt (Santos, 1998: 95). Es entsteht also ein permanenter Schwebezustand, der die etablierten Begriffe von Kultur und von kultureller Identität in tiefgreifender Weise in Frage stellt.

Jeder technologische Fortschritt hat schon immer widersprüchliche Reaktionen hervorgerufen. Die Spannung zwischen den technologischen Möglichkeiten und deren sozialem Gebrauch hat schon immer zu Strategien der Verneinung oder umgekehrt zu Formen eines technologischen Determinismus und einer blinden Materialgläubigkeit geführt. Die Fragen, die dabei unvermeidlich entstehen, sind auch immer eminent politisch gewesen; das Grunddilemma der Moderne - das Schwanken zwischen Emanzipationsversprechen einerseits und der Logik von Regulation und Disziplinierung andererseits - spiegelt sich hier in besonders prägnanter Weise. Wir wissen nur allzu gut, daß dieses Dilemma sich regelmäßig in Richtung einer verstärkten Regulation entschieden hat - davon, von der Erkenntnis der systematischen Enttäuschung des emanzipatorischen Potentials der Moderne nährt sich schließlich das postmoderne Denken.

Im Zusammenhang der digitalen Revolution vollzieht sich dieser Vorgang in besonders drastischer Weise. Es verwundert nicht, daß die Reaktionen sich entsprechend drastisch darstellen. Es wird aber auch sehr schnell klar, daß eine traditionelle Kulturkritik hier bald an ihre Grenzen stößt. Dies ist gerade an den prominenten Kritikern der digitalen Revolution deutlich abzulesen. Nehmen wir einen der prominentesten, Neil Postman, bei dem man ohne Zweifel vieles findet, das zum Nachdenken zwingt. In einem Vortrag im Jahre 1990 (ausgerechnet bei einem Treffen der Deutschen Gesellschaft für Informatik) stellte Postman die sehr treffende Frage, ob wir uns eigentlich nicht "zu Tode informieren". Seine Argumentation geht in die Richtung, daß Information "keine Beziehung mehr zu der Lösung von Problemen hat", daß jeder "Zusammenhang zwischen Information und Aktion abgebrochen ist", "daß Information nichts mehr als eine Ware ist, deren Gebrauchswert gegenüber ihrem Marktwert vollkommen irrelevant geworden ist". Ich zitiere weiter: "our information immune system is inoperable. We don't know how to filter it out; we donít know how to reduce it; we don't know how to use it. We suffer from a kind of cultural AIDS." (Postman, 1990)

In dem 1992 erschienenen Buch Technopoly, mit dem bezeichnenden - und sehr fragwürdigen - Untertitel The Surrender of Culture to Technology, beklagt Postman das Ende eines kohärenten Kulturbegriffs im Zuge des fortschreitenden Prozesses einer integralen Technologisierung, dessen Paradigma die USA in seiner Sicht darstellen. Hauptmerkmal von diesem absoluten Primat von technischen Lösungen für menschliche Probleme ist seines Erachtens "the explosion of context-free information". Kultur oder Technologie als Alternative, Technologie als Kulturfeindin, das kann natürlich nicht unsere Sache sein. Postman bezeichnet die digitale Revolution als eine "Faustische Wette" (mit der deutlichen Unterstellung, daß man dabei die "Seele" unvermeidlich verliert) und stellt seine Überlegungen dementsprechend in die lange Tradition der Dämonisierung von Technik. Es fällt aber auf, daß Postman selbst eigentlich auch keine "menschlichen" Lösungen anzubieten hat. Sein Vorschlag, man sollte wieder der Schule einen humanistischen Auftrag zuteilen und als Mittel dafür dringend eine Curriculum-Reform durchführen, mutet äußerst unsachgemäß und gemessen an der Dimension des Problems eigentlich fast lächerlich an. Die Grenzen solcher Dämonisierung und überhaupt jeder moralisierenden Haltung werden spätestens dann offensichtlich, wenn man bedenkt, daß eine noch so radikale Kritik der Technopolis ohne den Zugang zu den elektronischen Medien und ohne deren Gebrauch schlichtweg undenkbar geworden ist. Die Information, die wir brauchen, um die blinde Logik der "Informationsgesellschaft" kritisch zu befragen, wird uns eben durch die von dieser Gesellschaft entwickelten Werkzeuge frei Haus geliefert.

Nun fehlt es andererseits auch nicht an euphorischen Berichten gerade auch im pädagogischen Bereich. Neulich zum Beispiel habe ich in einem kanadischen Aufsatz über "Auslandsgermanistik und Multimedia" gelesen, "daß es für den fleißigen Studenten der Philologie, der gute Computerkenntnisse besitzt, bereits heute möglich ist, mehr Wissen über einige Werke und Autoren zu sammeln, als sein Professor es in seinem professionellen Leben durch herkömmliche Methoden schaffen könnte" (Liddel, 1995: 559). Es liegt hier ganz offensichtlich die oft anzutreffende, fatale Verwechslung zwischen Information und Wissen vor , die eigentlich meinen Titel motiviert hat. Es ist die Verwechslung der Welt des Signals mit der Welt des Sinns oder, im Sprachgebrauch der Empirischen Literaturwissenschaft, zwischen dem Text und dem Kommunikat, zwischen dem in den Kommunikationsapparaten zirkulierenden Objekt und seiner spezifischen Aneignung durch ein historisches Subjekt. Anders ausgedrückt: die Dissoziierung zwischen Verfügungswissen und Orientierungswissen wird immer spürbarer, je mehr die Informationsexplosion weiterwirkt. Die Hauptfrage, mit der wir eigentlich konfrontiert sind, ist demnach, ob und wie diese Lücke geschlossen werden kann. Oder mit anderen Worten: wie läßt sich die Anthropologisierung des Wissens (mit der impliziten Rückbindung an das Subjekt) digital betreiben.

In der Auseinandersetzung mit dieser Hauptfrage ist die Rolle der Kulturwissenschaften natürlich zentral. Wie wir Kultur und Kulturwissenschaften definieren, ist daher von entscheidender Bedeutung. Wenn im UNESCO-Dokument "Our Creative Diversity" unter Kultur "the total and distinctive way of life of a people or society" verstanden wird, dann setzt dies meines Erachtens einen statischen Identitätsbegriff voraus, der in Frage gestellt werden muß (UNESCO, 1995). Man wird unwillkürlich an die alte Klage von C.P. Snow erinnert, dem Verfasser des berühmten Buchs über die "zwei Kulturen", der da überspitzt schreibt, daß nach gängigen Begriffen Shakespeare gelesen zu haben Kultur wäre, den zweiten Hauptsatz der Thermodynamik zu kennen dagegen nicht. Wenn man Kultur einfach als "a way of life" definiert, dann wird die wissenschaftliche Kultur zum großen Teil notwendig ausgeklammert. Und wenn man dieses "way of life" als Attribut von "a people or a society" versteht, dann werden gerade die kaleidoskopartigen Identitäten unseres Zeitalters nicht reflektiert werden können und weder die konfliktgeladene Pluralität innerhalb der territorialen Grenzen noch die heutigen nicht-territorialen, vielfältigen Formen der Beziehung zwischen dem Lokalen und dem Globalen adäquat thematisiert werden können.

Um solche wohlmeinenden aber eigentlich einengenden Definitionen zu vermeiden oder um sie differenzierter zu gestalten, muß die kulturwissenschaftliche Forschung immer stärker transdisziplinär ausgerichtet werden. Ich spreche nicht von Interdisziplinarität als mosaikartige Kooperation von Disziplinen, die diese im Grunde unberührt läßt oder gar stabilisieren hilft, sondern, wohlgemerkt, von Transdisziplinarität, als eine Form der transversalen Formulierung und Lösung von Forschungsaufgaben. Der amerikanische Soziologe Immanuel Wallerstein - ein für mich wichtiger Name, der, soweit ich es überblicken kann, im deutschen Sprachraum bisher wenig rezipiert wurde - geht neuerlich sogar so weit, bewußt herausfordernd von "Unidisziplinarität" zu sprechen, natürlich nicht in einem monistischen Sinne, sondern in der Erkenntnis von der letztlich fragwürdigen disziplinären Zerstückelung des Wissens (andere wiederum ziehen den Ausdruck "Postdisziplinarität" vor).

In seinem Buch mit dem bezeichnenden Titel Unthinking Social Science. The Limits of Nineteenth Century Paradigms (wohlgemerkt, "unthinking", nicht "rethinking") stellt Wallerstein die Forderung nach Überwindung "of the most enduring (and misleading legacy of nineteenth century social science - the division of social analysis into three arenas, three logics, three ëlevelsí - the economic, the political, and the social cultural" (Wallerstein, 1991: 4). Wenn man den Gegenstand der Kulturwissenschaften wie die Verfasser der Denkschrift Geisteswissenschaften heute als die kulturelle Form der Welt definieren, dann haben wir mit einem Gegenstand zu tun, der ein integratives, globales Durchdenken notwendig voraussetzt. Gefordert wird ein gemeinsames Denken in Themen- und Problemzusammenhängen statt einem Denken nach Fachzuständigkeiten. Ein solches Vorgehen negiert natürlich nicht die Existenz von autonomen Bereichen, verwischt nicht willkürlich die Grenzen, sondern erweist sich als fähig, Formen und Strukturen eines Denkens an der Grenze konsequent zu entwickeln. Bei dem "Kaputtdenken" des herkömmlichen disziplinären Wissens im Sinne Wallersteins können die digitalen Technologien sicherlich hervorragende Dienste leisten. Somit kehre ich zum eigentlichen Thema dieser Sitzung zurück, von dem ich vielleicht mit meinem epistemologischen Exkurs etwas abgekommen bin. Ich werde mich in der Folge fast stichwortartig auf einen kurzen Fragenkatalog konzentrieren, der hoffentlich einige Impulse zur Diskussion liefern kann. Es geht, glaube ich, um Fragen, die in unsere Alltagspraxis als Kulturwissenschaftler im digitalen Zeitalter notwendig hineinwirken. Rein technische Fragen, wie z. B. die Kompatibilität zwischen Systemen, werden hier ausgeklammert, obwohl ich gern zugebe, daß auch hier die Sachen sich um Dimensionen drehen, die oft den bloß technischen Bereich überschreiten.

  1. Ich fange mit dem Problem der "electronic literacy" an, d.h. der Fähigkeit des richtigen Umgangs mit den Informationssystemen. In der schon zitierten Denkschrift Geisteswissenschaften heute und in den daraus entstandenen Empfehlungen wurde Medien- und Computerkompetenz zwar schon als Desiderat deutlich anerkannt, die Auswirkungen der Informationstechnologien auf die Forschung wurden aber nur am Rande in die Argumentation einbezogen. Dies war 1991 - man sieht, wie rasant die Entwicklung verlaufen ist. So rasant, daß gerade unter Kulturwissenschaftlern nur ein kleiner Prozentsatz wirklich in der Lage ist, die neuen Möglichkeiten völlig auszuschöpfen. Ich habe z. B. zusammengerechnet, daß von den Mitgliedern des portugiesischen Germanistenvereins nicht über 20% über eine E-mail Adresse und Internet-Anschluß verfügen. Anderswo wird die Lage, so vermute ich, nicht sehr verschieden sein.
    In der Konferenz über "Digital Resources for the Humanities", die im September 1997 in Oxford stattfand (die Beiträge zur Konferenz kann man natürlich im Internet lesen) wurden die Ergebnisse einer empirischen Fallstudie von Sarah Porter und Lisa McRory (1997) präsentiert, die das Verhalten von verschiedenen Studentengruppen untersuchten, denen die jeweiligen Kursmaterialien anstatt auf Papier elektronisch zur Verfügung gestellt wurden. Es hat sich z. B. herausgestellt, daß unter vierzig potentiellen Benützern nur einer (sogleich als "ideal user" eingestuft) es verstanden hatte, die ihm angebotenen Möglichkeiten ausreichend auszuschöpfen. Ein Drittel der Gruppe hatte es nicht einmal versucht; unter den zwei Dritteln, die es versucht hatten, gelang es nur einem, die technischen Anforderungen zu meistern.. Im Diskurs der Cyberculture wie sonst immer verdeckt eine Rhetorik des Universellen die Frage der Ausgrenzung. Unter den neuen Formen der sozialen Ausgrenzung am Ende des Jahrhunderts nimmt die "electronic illiteracy" eine wichtige Stelle ein. Es liegen hier riesige kulturpolitische und bildungspolitische Aufgaben vor.
  2. Die Frage nach dem Verhältnis zwischen Forschungen und Informationssystemen stellt sich heute notwendigerweise im Rahmen des Internets. Internet wurde als ein offenes System konzipiert. Selbst wenn unsere Forschungsbedürfnisse nur eine selektive Benützung des World Wide Web erfordern, muß der globale Zustand des Netzes für uns von Interesse sein. Und dieser Zustand ist besorgniserregend. Niemand weiß genau wieviele Millionen Homepages es schon jetzt gibt - und sie wachsen exponentiell. Das Netz ist schon mit einer Pyramide verglichen worden - eine Pyramide mit einer sehr breiten Basis, die aus eigentlich irrelevanter Information besteht, und einer sehr schmalen Spitze. Die Spitze ist natürlich nicht autonom - hier macht sich der hybride Charakter der gegenwärtigen Kultur bemerkbar - eine absolute Grenzziehung ist daher unmöglich. Die Folgen des Überangebots an Information werden nicht nur in den technischen Aspekten spürbar - z. B. in der ständig lauernden Gefahr der Staubildung - sie haben auch einen inhaltlichen Charakter, indem in der Informationsflut die Frage der Relevanz ganz besonders akut wird. Wer schon einmal über einer der Internet-Suchmaschinen eine Anfrage z. B. über "Kafka" gestartet hat und vielleicht 30.000 "Hits" erzielte - die meisten natürlich vollkommen irrelevant - weiß wovon ich rede. Hier findet wirklich der berühmte Umschlag von Quantität in Qualität statt - in schlechte Qualität. Dringend notwendig sind also perfektionierte Orientierungs- und Suchsysteme. Aber das wird nicht genügen. Wir brauchen Vermittlungsinstanzen, die als Lotsen fungieren können. Und entgegen der Auffassung, wonach traditionelle Informationsfilter nicht mehr funktionieren, wird man nach altbewährten Mitteln greifen müssen, wie z. B. der Forschungsbericht, die kommentierte Bibliographie, die einfache Rezension - auch und gerade inhaltlich aufschlußreiche Rezensionen von Web-Seiten (alles selbstverständlich digital abrufbar). Man muß also dieselben Wertungskriterien anwenden, die sich in der akademischen Praxis bewährt haben. Die Frage der Selektion und der Relevanz führt mich zu einem weiteren, überaus wichtigen Punkt: die Frage der Autorität.
  3. Strukturell ist das Netz ein reines, offenes Nebeneinander. Gerade die Hypertext-Theoretiker heben nachdrücklich hervor, daß der Hypertext notwendig zu nicht hierarchischen und nicht-kanonisierten Formen führt. Die poststrukturalistischen Thesen vom Verschwinden des Autors würden gleichsam vom Hypertext wörtlich realisiert. Damit paart sich oft die These vom strukturell demokratischen Charakter des Netzes. Als eine Form der Kommunikation "from many to many" hat das Netz zweifellos ein wichtiges Demokratisierungspotential. Dezentrierung und Ent-Hierarchisierung müssen aber nicht als das "Verschwinden des Autors" verstanden werden - sie können auch einfach als eine andere auktoriale Strategie angesehen werden. Die Frage der Autorität im wörtlichen Sinne bleibt also weiterhin zentral. Unter anderem impliziert sie Verantwortungskriterien, die einzig gegen die Nivellierungstendenz des Mediums entgegenwirken können. Das Kriterium der Autorität bedeutet unter anderem, auf die Praxis des sogenannten "skywriting" zu verzichten, d.h. die Gewohnheit, alles Geschriebene sofort digital zu verbreiten. Im Gegenteil - der Grundsatz "mehr schreiben, weniger publizieren" (Frühwald, 1991: 147) sollte gerade bei den elektronischen Medien verstärkte Anwendung finden. Im Grunde handelt es sich auch hier darum, die bewährten Formen des wissenschaftlichen Dialogs beizubehalten, allen voran der Grundsatz der Lektorierung und des "peer-reviewing". Das Kriterium der Autorität gilt nicht nur für E-Texte, sondern in gleichem Maße für den Aufbau von Archiven und Datenbanken. Im Grunde ist eine Datenbank als eine besondere Diskursform zu verstehen, die wie jeder Diskurs eine Fülle von Vorentscheidungen mitimpliziert. Datenbanken sollen nicht nur handhabbar, sondern auch transparent sein, in dem Sinne, daß sie ihre Konstruktionskriterien offenlegen und so der Kritik zugänglich machen. Auch gilt es, die Illusion der Vollständigkeit zu vermeiden, die gerade in der anscheinenden Uferlosigkeit des Internet besonders konkret wird. Nur als eine besondere Diskursform aufgefaßt kann eine Datenbank der Gefahr der Standardisierung entkommen. Wenn die Darstellungsmöglichkeiten unbedingt einer glatten Kommunikation geopfert werden müssen, kann vieles verlorengehen: die Unregelmäßigkeit, die Lücken, Reibungen, Widersprüche - das, was das eigentliche Denken ausmacht. (Nebenbei impliziert natürlich diese Auffassung, daß der Aufbau einer Datenbank als eine anspruchsvolle intellektuelle Leistung anerkannt wird - auch und gerade für akademische Zwecke).

Ich konzentriere mich in der Folge nur noch auf ein paar weitere Fragen, die ich fast kommentarlos aneinanderreihe.

  1. Die Frage des Kontexts. Wie kann man bei der digitalen Speicherung und Verbreitung von Information es vermeiden, Wissen von seiner Genese abzukoppeln? Die globalen Medien erwirken notwendigerweise eine Dynamik der Ent-kontextualisierung. Kontextualisieren umgekehrt hieße stabile Referenzpunkte herstellen, sozusagen digitale Gedächtnisorte aufbauen, der Entterritorialisierung und Entkulturalisierung des Wissens entgegenwirken, das Lokale nicht im Globalen verschwinden lassen und seinerseits das Globale zu lokalisieren. Dies bringt notwendigerweise mit sich das Problem der Sprache: es ist vor Jahren gegen eine interkulturelle Germanistik auf Deutsch wirksam polemisiert worden (Zimmermann, 1989). Wie forscht man interkulturell auf einem durch und durch anglisierten Medium?
  2. Das Verhältnis Zentrum/Peripherie ist in der letzten Frage implizit. Es wird oft fälschlich behauptet, daß dieser Gegensatz im Netz als dezentriertes Medium verschwinden würde. Im Gegenteil: es werden neue Formen der Integration geschaffen, die dazu tendieren können, die Rolle von zentralen Instanzen zu untermauern und die Dynamik einer Globalisierung als Einbahnstraße zu verstärken. Wie immer stellt sich hier unumgänglich die Frage der Macht.
  3. Das Internet bringt ein ausgeprägt transdisziplinäres Potential mit sich (schon aus dem einfachen Grunde, weil es eine Zusammenarbeit zwischen Kulturwissenschaftlern und Informationstechonologen erfordert). Wie dieses Potential erfolgreich zur Geltung bringen und nicht bloß die alten disziplinären Grenzen digital zu reproduzieren?
  4. Ist eine virtuelle wissenschaftliche Gemeinschaft möglich? Wenn sie feste Konturen erhalten soll - und also zu einer wirklichen Gemeinschaft werden - müssen nicht andere Mittel und Kommunikationsmöglichkeiten herhalten? Eine Diskussion über die Erfolge und Defizite von Mailinglisten und Diskussionsgruppen wäre in diesem Zusammenhang sicherlich lehrreich.
  5. Die Frage des Zugangs. Tendenzen zur Kommerzialisierung sind im Internet immer stärker bemerkbar. Auch öffentliche Einrichtungen, Bibliotheken z. B., wollen inzwischen bezahlt werden. Wie dagegen kämpfen (nach dem Beispiel der Electronic Frontier Foundation in den USA, die sich für einen freien Zugang zum Internet einsetzt)?
  6. Ich klammere andere sich aufdrängende Fragen aus (pädogogische Fragen z.B. oder die Frage der Zeit, der Kompatibilität zwischen verschiedenen Zeiten - die Zeit der Information und die Zeit der Reflexion - im Zeitalter der postgutenbergischen Hektik) und stelle zum Schluß nur noch die Frage nach dem Schicksal der traditionellen Medien. Wird das Buch, wie u.a. Norbert Bolz behauptet, bloß noch eine kompensatorische Funktion haben, als Vermittlungsinstanz einer illusorischen Stabilität des Wissens und einer menschenkompatiblen Erfahrung von Raum und Zeit? Oder umgekehrt: Wird es eine der wichtigsten Funktionen der neuen Informationssysteme sein, in kreativer und effizienter Weise wieder zum Buch zu führen? Kulturwissenschaften handeln primär mit Texten, nicht mit Daten; und Texte sind nur bedingt auf Daten reduzierbar. Auch ein Grund dafür, zugleich mit den Möglichkeiten auch die Grenzen der digitalen Informationssysteme schärfer ins Auge zu fassen.

© Antonio Sousa Ribeiro (Coimbra)

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Zitierte Literatur:

Augé, Marc (1992), Non-lieux: Introduction á une anthropologie de la surmodernité, Paris, Seuil.

Frühwald, Wolfgang u.a. (Hrsg.) (1991), Geisteswissenschaften heute. Eine Denkschrift. Frankfurt am Main, Suhrkamp.

Liddell, Peter (1995), "Nicht nur drill and kill. Auslandsgermanistik und Multimedia", Zeitschrift für Kulturaustausch 45(4), 556-560.

Porter, Sarah; McRory, Lisa (1997), "Digital Texts in Humanities Teaching (http://users.ox.ac.uk/~drh97/Papers/): What about the Users?".

Postman, Neil (1990), "Informing Ourselves to Death (cec.wustl.edu/~cs142/articles/MISC/informing_ourselves_to_death--postman)", Rede am 11. Oktober 1990 in Stuttgart vor der Deutschen Gesellschaft für Informatik.

Postman, Neil (1993), Technopoly. The Surrender of Culture to Technology, New York, Vintage Books.

Santos, Boaventura de Sousa (1998), "The Fall of the Angelus Novus. Beyond the Modern Game of Roots and Options", Current Sociology 46(2), 81-118.

UNESCO (1995), Our Creative Diversity. Report of the World Commision on Culture and Development, Paris, UNESCO.

Wallerstein, Immanuel (1991), Unthinking Social Science. The Limits of Nineteenth Century Paradigms, London, Polity Press.

Zimmermann, Peter (Hrsg.) (1989), Interkulturelle Germanistik. Dialog der Kulturen auf Deutsch?, Frankfurt am Main, Peter Lang.


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