Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 4. Nr. Juni 1998

Der Bildungsgedanke bei Pavel V. Annenkov (1856-1859)

Zum russischen Disput um die Bewertung des sog. "schwachen", gebildeten Menschen (slabyj celovek)

Thomas M. Martin (Hamburg)

Überarbeitete deutsche Fassung von: Ideia obrazovaniia u P.V. Annenkova (1856-1859). In: Ars philologiae. Professoru Askol'du Borisovichu Muratovu ko dniu shestidesiatiletiia. Pod red. P.E. Bukharkina, St. Petersburg 1997, S. 114-133.
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I.

Die literaturkritischen Arbeiten Pavel Annenkovs haben in der wissenschaftlichen Betrachtung stets ambivalente Urteile hervorgerufen. Es ist das Verdienst Boris Egorovs, ihn mit einer Reihe von Arbeiten seit Mitte der sechziger Jahre wieder in den Horizont des ideengeschichtlichen Diskurses zurückgeführt zu haben.(1) Doch auch die sich daran anschließenden Arbeiten von Derek Offord(2) und Anatolii Batiuto(3) bleiben in ihrem Urteil über seine Bedeutung als Kritiker schwankend. Unbestreitbar ist, daß er keine Nachfolger fand, die direkt an seine kritischen Bemühungen angeknüpft hätten. So blieben sie in der Geschichte des literaturkritischen Denkens in Rußland ohne nachhaltige Wirkung. Ihre Beurteilung wurde stark davon beeinflußt, daß die ideengeschichtliche Entwicklung wegen der Dynamik des gesellschaftlichen Wandels über Annenkovs Ansatz bereits zu seinen Lebzeiten hinwegging. Seine expressis verbis der ästhetischen Kritik verpflichtete Literaturbetrachtung(4) traf anders als die sog. "radikale Kritik" um Chernyshevskii und Dobroliubov gegen Ende der 1850er Jahre weder den Ton der Zeit noch thematisierte sie die aktuellen gesellschaftlichen Fragen. Vor allem einer jüngeren Leserschaft mußte Annenkov, der sich Mitte der 1850er Jahre mit seiner Pushkin-Edition, seinen Biographien zu Pushkin (1855) und Stankevich (1857) sowie dem Erinnerungstext an Gogol's Rom-Aufenthalt (1857) auf dem Höhepunkt seines öffentlichen Ansehens befand, als das Relikt einer vergangenen Epoche erscheinen. Denn er verweigerte sich nicht nur mit Nachdruck der Forderung nach einer gesellschaftlich engagierten und Partei ergreifenden Literaturbetrachtung, sondern provozierte darüber hinaus auch mit seiner rigorosen Ablehnung jeder didaktisch-pädagogisch motivierten Instrumentalisierung von Literatur, wie sie von Vertretern aus dem Kreise der Radikalen, der Slavophilen und später auch der Narodniki (Volkstümler) gefordert wurde. Eine nachhaltige Wirkung auf die weitere Entwicklung des kritischen Diskurses wurde jedoch auch dadurch erschwert, daß sich Annenkov nie um die Systematisierung seines Literaturkonzepts bemühte. So scheint sich sein beharrlich vorgetragener Hinweis auf die dem literarischen Text inhärente referentielle Bezogenheit auf die zeitgenössische Gesellschaft in theoretischer Hinsicht zunächst in Widerspruch zum üblichen Verständnis einer ästhetisch orientierten Kritik zu befinden. Für die vorausgesetzte innere Äquivalenzbeziehung zwischen einem Kunstwerk und der Epoche, in der es entstand, gebrauchte Annenkov den Begriff Sovremennost' (etwa: Zeitgenossenschaft). Hier wird übrigens auch ein wesentlicher Unterschied zu Aleksandr Druzhinin sichtbar, in dessen Realismusbegriff die literarhistorische Komponente dominierte, wie sein ausführlicher Artikel über George Crabbe (1754-1832), dem frühen Wegbereiter des englischen Realismus, aufzeigt.(5) In seiner literaturkritischen Praxis folgte Annenkov aber einem Literaturkonzept, das durchaus stringent war und das sich bei der Beurteilung eines Werkes allein dem Kriterium des Kunstcharakters (khudozhestvennost') verpflichtet fühlte. Seine Argumentation zielte darauf ab, der Kunst im allgemeinen und der Literatur im speziellen einen eigenständigen Bezirk innerhalb der Gesellschaft zu sichern, um sie auf diese Weise dem drohenden Zugriff einer Instrumentalisierung für nichtliterarische Zwecke zu entziehen. Indem Annenkov den Primat des Kunstcharakters mit dem Sovremennost'-Postulat verband, vermied er es gleichzeitig, die Kunst zu einem gesellschaftsfernen Refugium zu machen. Stets sprach er sich gegen eine solche Verkürzung seiner Überlegungen zur reinen Kunst (chistoe iskusstvo) aus.(6) Es wäre gewiß problematisch, bei Annenkov schon von einer möglichen Antizipation des Zugriffs ideologischer Konzepte auf die hohe Literatur zu sprechen, wie er dann im 20. Jahrhundert erfolgte. Dennoch gehört er zu denjenigen, die Kunst und Literatur als eine "autonome Sinnsphäre"(7) zu konstituieren versuchten, da er die Gefahren, die von ihrer Vereinnahmung für konfessionelle, moralisch-didaktische und ideologische Interessen ausgehen, realistisch einschätzte.(8)
Am Beispiel des theoretischen Essays "O znachenii khudozhestvennykh proizvedenii dlia obshchestva"(9) ("Über die Bedeutung von Kunstwerken für die Gesellschaft", 1856) sowie der beiden Turgenev-Rezensionen "Literaturnyi tip slabogo cheloveka" (10) ("Der literarische Typus des schwachen Menschen", 1858) zu "Asia" und "Nashe obshchestvo v Dvorianskom gnezde Turgeneva" ("Die russische Gesellschaft in Turgenevs Adelsnest", 1859)(11) soll Annenkovs Auseinandersetzung mit dem Bildungsgedanken untersucht werden. Denn er entwickelte seine Gedanken im wesentlichen über die Kritik der Figuren, durch die er ihn thematisiert sah.(12) Dies geschieht nicht mit der Absicht, ihm etwa eine bislang übersehene Wirkung zuzuschreiben. Vielmehr sind seine Aufsätze als historisches Indiz einer Literaturbetrachtung aufzufassen, die ihren Ansatz zwar formulieren konnte, die aber wegen des forcierten geistigen und gesellschaftlichen Wandels in Rußland seit Mitte der 1850er Jahre weder zur Entfaltung kam noch eine lebendige Tradition schuf. Die Tragik der Generation Annenkovs, jener literaturbegeisterten "Menschen der vierziger Jahre" ("liudi 40-kh godov"), bestand unter anderem darin, daß sie sich in den 1840er Jahren nur gegen erhebliche Behinderungen durch den nikolinischen Staatsapparat öffentlich formieren konnte und daß sie nach dem Tod von Zar Nikolaj rasch mit jener jüngeren Generation konfrontiert wurde, die auf tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen drängte und die in der Literatur ein geeignetes Mittel zur direkten Einflußnahme sah. Es ist also das Scheitern Annenkovs, das seine literaturkritischen Texte interessant macht, das Scheitern einer Literaturbetrachtung, die gerade zu dem Zeitpunkt von der allgemeinen Entwicklung überholt wurde, als sie die Möglichkeit erhalten hatte, selbstbewußt an die Öffentlichkeit zu treten. Es bedurfte nicht erst der spöttischen Titulierung als "Russkii turist 40-kh godov" ("Russischer Tourist der vierziger Jahre") und "Turist-estetik" ("Tourist und Ästhet") gegen Ende der 1870er Jahre, um dieses Scheitern zu formulieren.(13) Annenkov war sich der kulturellen Situation hoch bewußt und erkannte frühzeitig, daß seine kritischen Schriften in zunehmendem Maße hinter der eigenen Zeit zurückblieben und vor der künftigen Entwicklung nicht würden bestehen können. Selbst erst knapp Mitte vierzig, brachte er im Brief an Druzhinin vom 1. September 1856 (a.St.) das Schicksal seiner Generation lange vor seinen späteren Kritikern mit eindringlicher Klarheit zum Ausdruck:

Chto my? Ia polagaiu, chto my uzhe ne zhivem, i esli sposobny eshche pis'mo napisat', tak po privychke, s kotoroi i v grobu rasstat'sia ne mozhem. Umerli my, Aleksandr Vasil'evich, tol'ko pokhoron ne bylo. [...] Vospominaniia, tolkovaniia, obsuzhdeniia byvshikh teorii i izlozheniia byvshei zhizni, - vse eto popakhivaet zemlei, i posle vsego etogo okna otkryt' sleduet. (14)
[Was sind wir denn? Ich vermute, daß wir schon nicht mehr leben, und wenn wir noch in der Lage sind, einen Brief zu schreiben, so aus einer Gewohnheit heraus, von der wir selbst im Grabe nicht lassen können. Wir sind gestorben, Aleksandr Vasil'evich, nur daß kein Begräbnis stattgefunden hat. [...] Erinnerungen, Deutungen und Diskussionen vergangener Theorien und Darstellungen eines vergangenen Lebens - das alles riecht nach Erde, und nach all dem sollte man die Fenster öffnen.]

Annenkovs Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Literatur verdankte ihren Impuls in hohem Maße dem Bestreben, das kulturelle Selbstbewußtsein jener Generation der 1840er Jahre aus der Retrospektive kritisch zu formulieren. Diese partielle Rückwärtsgewandtheit ist dem kritischen Werk, den biographischen Arbeiten und den Erinnerungstexten gemeinsam.

II. "Slabyi" chelovek als Träger des Bildungsgedankens

Annenkovs Einschätzung von Bildung und ihrer Bedeutung für die Verwirklichung des Humanitätsideals ist von außerordentlichem Optimismus geprägt. Seine diesbezüglichen Überlegungen unterscheiden zwischen einem realen kultursoziologischen und einem fiktionalen literarischen Typus des gebildeten Menschen. Sie beruhen auf drei Prämissen:

  1. Das Ideal einer rationalen Daseinsbegründung entlaste die menschliche Existenz vom Stigma des Zufälligen, der Schwäche und der Steuerung durch Triebe. Annenkov sah den Menschen vor die Aufgabe gestellt, "das eigene Leben auf vernünftigen Grundlagen zu organisieren, ihm eine gewisse Ordnung zu verleihen und ihm den Stempel grober Zufälligkeit und erbärmlicher Erschöpfung zu nehmen."(15) Sein Glaube an die rationale Begründbarkeit des Menschen war der Aufklärung verpflichtet, doch erkannte er auch ihre Schwäche in bezug auf eine Theorie der Literatur. Ihre Ursache sah er in der Konkurrenz zwischen ihrem didaktischen Interesse und dem unverzichtbaren Anspruch von Literatur auf Wahrheit. (Literaturnyi tip, S. 152-153)
  2. Die zivilisierte Gesellschaft stelle dem Einzelnen die Mittel zu einer rational-sittlichen und persönlich zu verantwortenden Daseinsgestaltung zur Verfügung. Darin bestehe ihre Bedeutung, aber auch ihre Grenze. Die konkrete Ausgestaltung seines Lebens und seiner Persönlichkeit bleibt mithin in der Verfügungsgewalt des Einzelnen: "Die Berge an Wissen und sämtliche Schätze der Zivilisation sind nur das rohe Material, aus dem der Mensch selbst den Stoff seines Lebenes spinnt: mit einem schönen oder einem häßlichen Muster, zu seinem Nutzen oder zu seiner Schande."(16)
  3. Der Einzelne habe die Pflicht, den ihm möglichen Beitrag zur Fortführung des Zivilisationsprozesses zu leisten, den Annenkov nicht technisch-naturwissenschaftlich oder gesellschaftlich-politisch verstand, sondern akzentuiert kulturgeschichtlich. Nachdrücklich forderte er von den Angehörigen eines Personenkreises, dem der Erwerb von Bildung grundsätzlich offenstand, eine Lebensleistung ein, die dem Begriff der Arbeit kommensurabel war: "Wenn in ihm nicht der Wille, die Energie und das Bedürfnis wohnen, durch seine Arbeit der Gesellschaft wenigstens einen Teil dessen zurückzugeben, was er umsonst nahm, so verdient der Mensch es nicht, als ein rechtschaffenes Wesen auch nur bezeichnet zu werden."(17) Der hohe Begriff von Bildung verband sich bei Annenkov mit der Einsicht in die Notwendigkeit zu sozialem Engagement. Das gemeinsam mit Turgenev verfolgte, aber letztlich nicht realisierte Projekt vom Herbst 1860, eine Gesellschaft zur Verbreitung der Schriftkunde und Grundbildung (Obshchestvo dlia rasprostraneniia gramotnosti i pervonachal'nogo obrazovaniia) zu gründen, beweist dies.(18)

Mit seiner Besprechung von Turgenevs "Asia" reagierte Annenkov auf einen Essay Nikolai Chernyshevskiis, der unter dem Titel "Russkii chelovek na rendez-vous" (19) (Der russische Mensch beim Rendez-vous) ebenfalls 1858 im Journal Atenei erschienen war. Dieser hatte am Beispiel von "Asia" seine Kritik an der Adelsgesellschaft formuliert und dabei auch den Aspekt der Bildung ins Spiel gebracht. Schon die Einleitung macht deutlich, daß seine Analyse von Turgenevs Figuren auf eine umfassende Kritik des gebildeten gutsbesitzenden Adels abzielte, daß der literarische Text also zum sozialpolitischen Argument wurde:

Vse litsa povesti - liudi iz luchshikh mezhdu nami, ochen' obrazovannye, chrezvychaino gumannye, proniknutye blagorodneishim obrazom myslei. (Russkii chelovek, S. 156)
[Alle Figuren der Erzählung gehören zu den besten unter uns und sind sehr gebildete, außerordentlich humane und von edelster Gesinnung durchdrungene Menschen.]

Wenig später wird die Perspektive aber auf eine einzelne Figur des fiktionalen Textes verengt und der adoleszente Adlige N.N. zum Repräsentanten der realen politischen und kulturellen Elite Rußlands erklärt:

Takovy-to nashi "luchshie liudi" - vse oni pokhozhi na nashego Romeo. [...] nash Romeo - deistvitel'no odin iz luchshikh liudei nashego obshchestva. (Russkii chelovek, S. 160)
[So sind sie also, die "besten Menschen" unter uns - sie ähneln allesamt unserem Romeo. [...] unser Romeo gehört in der Tat zu den besten Menschen unserer Gesellschaft.]

Auf dieser Repräsentanzfunktion der literarischen Figur für die soziale Schicht, der er sie entstammt, baut sein Urteil auf. Und erst durch die Identifizierung des russischen Adels insgesamt mit ihr gewinnt es grundsätzlichen Charakter. Diese Neigung zur utilitaristischen Vereinfachung war Annenkov an Chernyshevskii schon vorher aufgefallen. In einem Brief von Ende 1857 machte er Turgenev darauf aufmerksam:

Dlia nego ne imeet nikakogo znacheniia istina - literaturnaia, ekonomicheskaia, istoricheskaia i proch. Glavnaia tsel' - posobit' nuzhde, otvechat' potrebnosti, podderzhat' stremlenie, a vse ostal'noe dlia nego ne sushchestvuet. Lovkost', s kotoroi on obkhodit istinu - izumitel'na. (20)
[Wahrheit besitzt für ihn keinerlei Bedeutung - weder literarische noch ökonomische, noch historische usw. Vorrangiges Ziel ist für ihn, einen Bedarf zu decken, auf ein Bedürfnis zu antworten, eine Bestrebung zu unterstützen, alles andere aber existiert für ihn nicht. Die Gewandtheit, mit der er die Wahrheit umgeht, ist erstaunlich.]

Am Ende seines Essays zitiert Chernyshevskii - rhetorisch äußerst wirkungsvoll - aus einem zentralen Text des Neuen Testaments, nämlich aus der Bergpredigt (Mt. 5, 25-26), wo es im Anschluß an die Seligpreisungen heißt:

"Staraisia primirit'sia s svoim protivnikom, poka ne doshli vy s nim do suda, a inache otdast tebia protivnik sud'e, a sud'ia otdast tebia ispolniteliu prigovorov, i budesh' ty vvergnut v temnitsu i ne vyidesh' iz nee, poka ne rasplatish'sia za vse do poslednei melochi" (Matf., glava V, stikh. 25 i 26). (Russkii chelovek, S. 174)
["Vertrage dich mit deinem Gegner sogleich, solange du noch mit ihm auf dem Weg bist, damit dich der Gegner nicht dem Richter überantworte und der Richter dem Gerichtsdiener und du ins Gefängnis geworfen werdest. Wahrlich, ich sage dir: Du wirst nicht von dort herauskommen, bis du auch den letzten Pfennig bezahlt hast."]
(21)

Chernyshevskii beschließt seine Kritik am Adel also mit einer düsteren, kaum zu steigernden Drohung. Damit werden nicht nur für die eigene Person prophetische und für das moralisierende Pathos seiner Gesellschaftskritik religiöse Züge beansprucht. Die Wirkung des politischen Urteils, für das ihm die fiktionale Handlung Argumente liefert, beruht auf der Verbindung von satirischem Spott, moralisierendem Tonfall und Herstellung einer eschatologischen Perspektive.
Annenkov antwortete auf die Polemik Chernyshevskiis mit dem Konzept einer kulturhistorischen Argumentation. Dies entsprach zwar der sachlichen, die Rationalität des Lesers voraussetzenden Denkart Annenkovs, war aber in rhetorischer Hinsicht völlig unangemessen. Mit etlichen Aspekten der Kritik Chernyshevskiis erklärte er sich einverstanden. Ein Punkt war es aber insbesondere, der seinen Widerspruch herausforderte: die hemmungslose Übertragung des politischen Urteils über den Adel auf die Bildungsschicht. (22) Anders als Chernyshevskii dachte Annenkov den literarischen und metaliterarischen Diskurs als übergeordneten kulturellen Raum jenseits soziologischer Begriffe und politischer Absichten,(23) als einen Bereich innerhalb der Gesellschaft also, der auf Rationalität und Sittlichkeit gegründet war und der jedem, unabhängig von seiner weltanschaulichen Orientierung oder seinem sozialen Status, Freiheit und Ansehen garantierte. Sein Optimismus stützte sich auf die Beobachtung, daß in der literarischen Sphäre die Mechanismen der gesellschaftlichen Abgrenzung nur bedingt gültig oder sogar überwindbar waren:

On ["slabyi" chelovek; Th.M.] polozhil nachalo tomu povsemestnomu obshcheniiu obrazovannykh i blagonamerennykh liudei, kotoroe sostavliaet nravstvennyi krug, gde ne imeiut poniatiia o soslovnykh razlichiiakh i gde vsiakii chestnyi chelovek, otkuda by ni vykhodil, cenitsia tol'ko po dobrosovestnosti i pol'ze svoego zhiznennogo truda. (Literaturnyi tip, S. 170)
[Er schuf die Grundlage für jenen allgemeinen Verkehr unter den gebildeten und wohlmeinenden Menschen, der einen sittlichen Kreis ausprägt, wo man keine Standesunterschiede kennt und wo jeder ehrenhafte Mensch, woher er auch immer stammt, allein nach Maßgabe von Gewissenhaftigkeit und Nutzen seiner Lebensleistung beurteilt wird.]

Dies ist die Grundlage für Annenkovs Überzeugung, daß die Literatur und ihre soziale Manifestation im Alltag (literaturnyi byt) zum Kern einer gesellschaftlichen Erneuerung werden könnten. "Slabyi" chelovek ist grundsätzlich als Gegenentwurf zu einem Typus konzipiert, der zwar zu tatkräftigem Handeln befähigt ist, dem es aber an Kultur und Kultivierung fehlt und der bei Annenkov analog als silnyi kharakter (starker Charakter) bezeichnet wird. Der "schwache" Mensch ist in dieser Sichtweise der Kulturmensch, dessen Tätigkeit auf literarischen oder metaliterarischen Sprechhandlungen beruht. Zwar werden sie von Introversion und einer gewissen, allerdings nur scheinbaren Absonderung von der Gesellschaft begleitet. Dennoch sah Annenkov gerade in ihnen eine existentiell vertiefte Form des Handelns, das gesellschaftlich dadurch Position bezog, daß es die Tendenz der Verflachung von Bildung zur Mode als Entstellung entlarvte:

Vazhen byl pervyi primer obrazovan'ia, poniatogo ne kak novyi vid shchegol'stva, a v smysle deiatelia, ustanavlivaiushchego i sozidaiushchego vnutrennii mir cheloveka, k kotoromu potianetsia neobkhodimo i vsia okruzhaiushchaia ego sfera. (Literaturnyi tip, S. 161)
[Wichtig war ein erstes Beispiel für Bildung, nun nicht als eine neue elegante Pose verstanden, sondern als eine Wirkungsmacht, die die innere Welt des Menschen etabliert und aufbaut und zu der die ganze Sphäre, die ihn umgibt, notwendigerweise hinstreben wird.]

"Slabyi" chelovek gewinnt als kultursoziologischer Typus überragende Bedeutung, weil sich in ihm die Merkmale Bildung, Humanität und Einschluß des Nationalen zu einer Trias bündeln: "'slabyi' sovremennyi chelovek [...] neset v rukakh svoikh obrazovanie, gumannost' i nakonets ponimanie narodnosti." (24) Bewertet man die Figuren in Turgenevs "Asia" nach Annenkovs Verständnis von Bildung, bei dem sie integraler Bestandteil der persönlichen Identität ist, so kommt man notwendigerweise zu dem Schluß, daß sie als Repräsentanten des Bildungsgedankens überhaupt nicht taugen, da sie nur äußerlich dem Personenkreis angehören, für den das Streben nach Bildung existentiell notwendig war. Eine genaue Lektüre des fünften Kapitels von "Asia" zeigt dies deutlich auf: So verfügt weder Gagin über genügend Energie, um ernsthaft an einem Landschaftsgemälde zu arbeiten, noch reicht die Ausdauer des Ich-Erzählers zu mehr als nur zu wenigen Seiten Textlektüre. Indem Annenkov eine Wirkung von Literatur auf die Gesellschaft ausdrücklich vorsah, blieb bei ihm eine gesellschaftliche Perspektive stets erhalten. Es ging ihm dabei nicht um eine Verbesserung der Gesellschaft oder des Einzelnen in Fragen der praktischen oder politischen Moral. Alle andere als primär künstlerische Ziele lehnte Annenkov für den literarischen Text rigoros ab. Als Folge jeder präskriptiven Poetik befürchtete er nicht nur eine unkünstlerische "Vergröberung" der Literatur ("zagrubenie literatury"; O znachenii, S. 719), sondern auch einen Verlust an kreativer Potenz:

Opyty vsekh vekov dokazali, chto v unizhennom polozhenii, na vtorom plane i v podchinennosti, iskusstvo vsegda terialo sposobnost' proizvoditel'nosti. Emu nadobno svobodnoe, prostrannoe pole dlia soobrazhenii svoikh, i togda ono legko vstrechaetsia s potrebnostiami obshchestva: szhatoe i ogranichennoe polozhitel'nymi ukazaniiami, ono prokhodit mimo ikh. (O znachenii, S. 718)
[Die Erfahrung in allen Jahrhunderten hat erwiesen, daß die Kunst, wenn sie sich in einer erniedrigten Position befand, auf untergeordneter Ebene und in Abhängigkeit, stets die Fähigkeit zur Produktivität verlor. Sie benötigt ein freies, ausgedehntes Feld für ihre Überlegungen, und dann geht sie mühelos mit den Bedürfnissen der Gesellschaft konform: beengt und begrenzt von definitiven Weisungen verfehlt sie diese.]

Aus dieser Perspektive war es dann durchaus folgerichtig, das Scheitern des späten Gogol' auf die Unterordnung der künstlerischen Gestaltung (khudozhestvennost') unter den Primat der Belehrung (nastavlenie) zurückzuführen.(25) Die für den Zeitgenossen kaum wahrnehmbare Wirkung von Literatur sah Annenkov hingegen in der allmählichen kulturellen Durchdringung aller Sphären der Gesellschaft. Hinter Formulierungen wie "künstlerische Erziehung der Gesellschaft" ("khudozhestvennoe vospitanie obshchestva") und "sittliche Erhöhung" ("nravstvennoe povyshenie") wird die unausgesprochene Bezugnahme auf die Ästhetik Schillers ("Über die ästhetische Erziehung des Menschen", 1795) deutlich. Wie im deutschen Idealismus wird die Hoffnung auf die Möglichkeit erkennbar, daß sich die Gattung durch die Bildung des Einzelnen an Literatur ihrer Humanität bewußt werden könne. "Slabyi" chelovek, das heißt der kultursoziologische, nicht der literarisch-fiktionale Typus des Bildungsmenschen wird bei Annenkov zum Symbol dieser Hoffnung. (Literaturnyi tip, S. 169) Er grenzt ihn damit auch vom Typus des tsel'nyi kharakter (in sich geschlossener Charakter) ab. Dessen Fähigkeit zu aktivem äußeren Handeln entspringt nach seiner Auffassung einer "vollkommenen sittlichen Leere" (sovershennaia nravstvennaia pustota; Literaturnyi tip, S. 165) sowie der Neigung, sich von Instinkten steuern zu lassen.(26) Er definiert ihn folgendermaßen:

My razumeem pod ,tsel'nymi kharakterami' tekh liudei, kotorye sleduiut nevol'no i neuklonno [...] odnim potrebnostiam sobstvennoi prirody, malo podchiniaias' vsemu, chtó lezhit vne ee, nachinaia s poniatii, priobretennykh iz knig, do myslei, poluchennykh protsessom sobstvennogo mozgovogo razvitiia. (Literaturnyi tip, S. 150)
[Unter "in sich geschlossenen Charakteren" verstehen wir jene Menschen, die unwillkürlich und unentwegt allein den Bedürfnissen der eigenen Natur folgen und sich allem, was außer ihr ist, nur wenig unterordnen: angefangen von Begriffen, die aus Büchern stammen, bis hin zu Gedanken, die aus dem Prozeß der Entwicklung der eigenen Hirntätigkeit gewonnen sind.]

Trotz der Vorzüge eines solchen Charakters wie Eindeutigkeit und Ergebnisorientierung schwebt er deshalb in Gefahr, stärker dem Animalischen verhaftet zu bleiben, anstatt danach zu streben, das Humanitätsideal in sich zu verwirklichen. Die Argumentation Annenkovs schließt im Grunde an neuhumanistisches Gedankengut(27) und den frühen Belinskii(28) an. Der kulturelle Mensch wird im Gegensatz zum "tsel'nyi" kharakter von internalisierten Bildungserlebnissen geleitet. Mit großem Unverständnis reagierte Annenkov auf den Vorwurf, der gebildete Mensch zeichne sich durch Kälte gegenüber anderen Menschen und durch Gleichgültigkeit gegen die Gesellschaft aus. Denn spätestens mit dem Dekabristenaufstand von 1825 war ja offenkundig geworden, daß der literarisch gebildete Adlige an der russischen Wirklichkeit litt. Gerade seine Bildung, so Annenkov, habe ihm die Fähigkeit verliehen, ein mitleidendes Verständnis für das außerhalb seiner Person Liegende zu entwickeln:

Obrazovanie nagradilo ego sposobnost'iu zhivo ponimat' stradaniia vo vsekh ego vidakh i chuvstvovat' na samom sebe bedy i neschastiia drugogo. (Literaturnyi tip, S. 164, vgl. S. 170)
[Bildung verlieh ihm die Fähigkeit, Leiden in allen seinen Erscheinungsformen bis ins letzte zu verstehen und am eigenen Leib die Not und das Unglück von anderen zu empfinden.]

Im Unterschied zu den Vertretern der radikalen Kritik war für ihn damit noch kein Anlaß dafür gegeben, mit Hilfe einer didaktisch orientierten Literatur weltanschauliche Positionen und Systeme durchsetzen zu wollen. Im Gegenteil: Für ihn war es die Literatur mit ihrem unverfälschten Kunstcharakter an sich, die das Potential in sich barg, der Gattung Mensch die Option auf wahre Menschwerdung offen zu halten. Prägnant und in programmatischer Absicht hat er die These vom Primat des Kunstcharakters in "O znachenii khudozhestvennykh proizvedenii dlia obshchestva" ausgesprochen, doch sie ist auch in seinen späteren kritischen Texten gegenwärtig:

Po nashemu mneniiu, stremlenie k chistoi khudozhestvennosti v iskusstve dolzhno byt' ne tol'ko dopushcheno u nas, no sil'no vozbuzhdeno i propoveduemo, kak pravilo, bez kotorogo vliianie literatury na obshchestvo sovershenno nevozmozhno. (O znachenii, S. 719)
[Nach unserer Auffassung sollte bei uns das Streben nach dem rein Künstlerischen in der Kunst nicht nur zugelassen, sondern als ein Prinzip, ohne das ein Einfluß der Literatur auf die Gesellschaft vollkommen unmöglich ist, nachdrücklich erweckt und propagiert werden.]

Die Begegnung mit Literatur und Kunst eröffnet nach diesem Verständnis dem Einzelnen nicht nur die Chance der Individuation, sondern sie läßt ihn durch Bildungserlebnisse auch am Projekt der Humanität teilhaben. Die Denkweise Annenkovs war dialektisch und fußte auf der Annahme einer grundsätzlich bestehenden wechselseitigen Abhängigkeit zwischen Schriftsteller und Bildungsschicht: So wie die sich immer wieder neu formierende Bildungsschicht ihr kulturelles Selbstverständnis wesentlich aus dem Werk herausragender Künstler und Schriftsteller bezog, so benötigten im Gegenzug die kulturellen Protagonisten für ihre eigene geniale Entfaltung die soziale Gruppe der Gebildeten, jene "schwachen" Charaktere und ihre spezielle Form der Arbeit. Bildungsschicht und Sonderexistenz des Künstlers werden so trotz des Wissens um mannigfaltige heterogene Schichtungen als eine Art symbiotische Einheit entworfen:

Govoriat, chto genii sozdaiut sredstva, a na proverku vykhodit, chto genii tol'ko masterski upotrebliaiut uzhe zaranee podgotovlennye sredstva. Orudiem sovremennoi raboty my schitaem togo ,slabogo' cheloveka, kharakteristiku kotorogo staralis' predstavit' zdes'. (Literaturnyi tip, S. 169)
[Man sagt, daß Genies Mittel erschaffen, aber eine Überprüfung ergibt, daß Genies zuvor schon bereitgestellte Mittel nur meisterhaft anwenden. Wir betrachten jenen ,schwachen' Menschen, den wir hier zu charakterisieren versuchten, als Werkzeug für die Aufgabe in der Gegenwart.]

Annenkov verstand Bildung weder als weltfremden Rezeptionsvorgang noch als Mode, wie seine Kritik an Lavretskii bzw. Panshin in Turgenevs "Dvorianskoe gnezdo" verdeutlicht. Dem Eintreten für eine reine Kunst (chistoe iskusstvo) widerspricht dies keineswegs, da auch sie seiner Meinung nach ihr literarisches Rohmaterial aus der Gesellschaft gewinnen müsse und die Gesellschaft in Person der Rezipienten wiederum das Objekt ihrer Wirkung darstelle, wenn auch intentionslos. Er war sich bewußt, daß es wegen der nur mittelbar sichtbar werdenden Folgen eines solchen Textes schwerer war, eine Wirkungsästhetik des Kunstwerks zu begründen als didaktisch-utilitaristische Literaturkonzepte zu entwickeln. (O znachenii, S. 722) Er war jedoch der Überzeugung, daß ein am Prinzip der Khudozhestvennost' orientierter literarischer Text selbst im Vergleich zu wissenschaftlichen Werken einen überlegenen Erkenntniswert besitze, da der Kreativität des Künstlers ein geradezu unglaubliches Erkenntnispotential in bezug auf das zeitgenössische Leben wie auf kommende kulturelle Entwicklungen inhärent sei:

Pouchenie literaturnoe deistvuet svobodnee i nezavisimee issledovaniia: ono chasto smotrit poverkh zhiznennykh iavlenii i daleko za nimi, na dal'nem i eshche pustom gorizonte, chertit prorocheskie slova svoi. (Literaturnyi tip, S. 151)
[Literarische Belehrung wirkt freier und unabhängiger als eine Untersuchung: Häufig blickt sie über die Erscheinungen des Lebens hinaus und weit hinter sie und entwirft ihre prophetischen Worte in einem fernen, noch leeren Horizont.]

Annenkovs Konzept der Khudozhestvennost' beruht auf einer Form der künstlerischen Bearbeitung der Welt, die Mimesis als eine "Wiedergeburt" oder "Umschaffung der Fakten" ("pererozhdenie dannykh") versteht.(29) Es verlangt vom Schriftsteller eine besondere Variante von Bildung, nämlich das Vermögen und den Willen zur allseitigen kognitiven Durchdringung des Stoffes: "Vereinigung des kreativen Talents mit einem umfassenden, vielschichtigen Verständnis des gewählten Themas", lautet seine Formel ("posredstvom soedineniia tvorcheskogo talanta s obshirnym, mnogostoronnim ponimaniem vybrannoi temy"; O znachenii, S. 713). Darauf fußt sowohl seine These, daß Kunstwerke historische Dokumente ihrer Epoche seien (O znachenii, S. 714), als auch sein literarischer Wahrheitsbegriff, der neben dem Hang zur Einseitigkeit bei der Präsentation eines Gegenstandes auch die Bindung an persönliche Interessen ins Visier nahm.(30) Erst dann erlangt das künstlerische Endprodukt die filigrane Balance einer Analogie zum historischen Rohmaterial in der Differenz:

Iskusstvo dolzhno prezhde vsego poglotit' predmet, pererabotat' ego i zatem predstavit' v novom vide, parallel'nom [...] s materialami, iz kotorykh pocherpnulo svoiu zadachu, no niskol'ko s nimi ne skhozhem. (O znachenii, S. 718)
[Die Kunst soll vor allem den Gegenstand absorbieren, ihn bearbeiten und anschließend in einer neuen Gestalt präsentieren, die den Materialien [...] parallel ist, aus denen sie ihre Aufgabe gewann, die jenen aber in keiner Weise gleicht.]

Einerseits arbeitete Annenkov damit an einer realistischen Poetik.(31) Zum anderen erweiterte er den Bildungsbegriff über die historische Dimension hinaus um die Komponente des Verstehens der zeitgenössischen Wirklichkeit - eine Schlußfolgerung, die ihm die Arbeit an Pushkin aufdrängte. Seine Biographie von 1855 brachte Pushkin als den in diesem doppelten Sinne gebildeten Schriftsteller ins Bewußtsein. (32) Bildung und künstlerische Kreativität bündelten sich für ihn im Genie Pushkins zu einem epochalen kulturellen Phänomen. Es waren letztlich literaturtheoretische und kulturhistorische Positionen, die ihn zum Widerspruch gegen Chernyshevskiis pauschalen, politisch motivierten Angriff auf den gebildeten Adel veranlaßten. Denn Annenkov wies der kleinen gebildeten Elite, für die eine Teilhabe an Kultur existentielle Bedeutung besaß und aus der sich die russische Literatur generierte, eine überragende Rolle bei der Reformierung der russischen Gesellschaft im Sinne des Humanitätsideals zu:

Krug, tak nazyvaemykh, slabykh kharakterov est' istoricheskii material, iz kotorogo tvoritsia samaia zhizn' sovremennosti. On uzhe obrazoval kak luchshikh pisatelei nashikh, tak i luchshikh grazhdanskikh deiatelei, i on zhe v budushchem dast osnovu dlia vsego del'nogo, poleznogo i blagorodnogo. (Literaturnyi tip, S. 172)
[Der Kreis der sogenannten schwachen Charaktere ist der historische Stoff, aus dem das zeitgenössische Leben selbst hervorgeht. Er brachte sowohl unsere besten Schriftsteller als auch die hervorragendsten Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens hervor, und eben er wird in der Zukunft die Grundlage für alles Vernünftige, Nützliche und Edle bilden.]

Nach den Repressionen während der Regierungszeit von Zar Nikolaus I. und den Versuchen seiner Verwaltung, die Bildungselite unter Kontrolle zu bringen, knüpfte Annenkov im Grunde an den Bildungsoptimismus des frühen 19. Jahrhunderts an. Sein Bildungspathos war als Form eines kulturellen Widerstrebens gegen die Versuche gerichtet, Bildung für staatspolitische Zwecke zu usurpieren, doch wurde dadurch gleichzeitig der tiefe Riß innerhalb der Bildungsschicht verdeckt, der bereits durch Gogol's "Vybrannye mesta iz perepiski s druz'iami" ("Ausgewählte Stellen aus dem Briefwechsel mit Freunden", 1847) offen zutage getreten war und zu einer Polarisierung der literarischen Gesellschaft geführt hatte. Es entsprach Annenkovs kulturgeschichtlichem Denken, daß er die Hauptfigur in "Asia" zum Anlaß nahm, die geistige Verfassung des gebildeten Adels kritisch zu reflektieren, daß er vor einer fundamentalen Kritik an ihm jedoch zurückscheute. Während Chernyshevskii offenkundig einer politischen Absicht folgte, wählte Annenkov, so könnte man den Dissens zugespitzt formulieren, eine hermeneutische Perspektive, um dadurch dem Kunstcharakter der literarischen Figur Rechnung zu tragen. Es war keine Rhetorik, wenn er mit der Zustimmung zur Kritik Chernyshevskiis, soweit sie die literarische Figur betraf, die Hoffnung auf Vermeidung von Mißverständnissen verband. Darin äußerte sich vor allem die Furcht vor einem unwiederbringlichen Verlust des inneren Zusammenhalts der Bildungsschicht. Vielleicht wurde das grundsätzlich Verbindende in Lebensform und Interesse der Bildungsschicht erst jenseits der weltanschaulichen Divergenzen der 1830er und 1840er Jahre, das heißt erst in einer idealisierenden Retrospektive erkennbar.(33) Es ging Annenkov dabei um mehr als um die Dominanz einer bestimmten Art der Literaturbetrachtung oder gar um politische Präferenzen. Das drohende Schisma der Bildungsschicht schien ihm den Gebildeten existentiell zu gefährden. Nur selten erreicht sein Ton eine solche Eindringlichkeit wie in diesem Zusammenhang:

Nikomu iz gramotnykh i ser'eznykh deiatelei prosveshcheniia nel'zia vydelit'sia iz etogo kruga bez togo, chtob ne ochutit'sia v tiazheloi, otchaiannoi pustote. (Literaturnyi tip, S. 170)
[Niemand unter den gebildeten und ernsthaften Repräsentanten der Aufklärung kann sich von diesem Kreis absondern, ohne daß er in eine bedrückende, hoffnungslose Leere geriete.]

Annenkov fürchtete keineswegs eine Pluralisierung von Positionen. Eine monolithische geistige Welt widerspräche seinem toleranten Denken von Grund auf. Gefahr drohte von der Ausbreitung einer egozentrischen Weltsicht, die zum Zerfall eines sittlichen Konsenses führen konnte, indem sie Freiheit in Beliebigkeit umdeutete:

Kazhdyi chelovek u nas est' edinstvennyi rukovoditel', otsenshchik i sud'ia svoikh postupkov. My ne mozhem soglasit'sia drug s drugom ni v odnom, samom prostom i samom ochevidnom nravstvennom pravile, my raznimsia vo vzgliadakh na pervonachal'nye poniatiia, na azbuku, tak-skazat', ucheniia o cheloveke. [...] Vse eto nazyvaetsia svobodnoi zhizni.(34)
[Bei uns ist jeder Mensch selbst einziger Leitstern, Maßstab und Richter seiner Handlungen. Wir vermöchten es nicht, einander auch nur in einem einzigen, dem einfachsten und offensichtlichsten sittlichen Prinzip zuzustimmen. Wir unterscheiden uns in bezug auf unsere Ansichten zu den grundlegendsten Begriffen, dem Alphabet sozusagen, in der Lehre vom Menschen. [...] Und all das nennt man freies Leben.]

Hier antizipiert Annenkov einen Wesenszug Bazarovs, der sich im Streitgespräch mit Pavel Petrovich Kirsanov im sechsten Kapitel bzw. in Repliken seines Zöglings Arkadij im fünften Kapitel von Turgenevs "Väter und Söhne" grell abzeichnet. Bazarovs Geringschätzung von Dichtkunst, (theoretischer) Wissenschaft und Musik sowie seine Nichtanerkennung der Gültigkeit irgendeines Prinzips, also sein Nihilismus, negieren wiederum radikal Annenkovs Bildungsbegriff.

III. Der literarische Typus und die Möglichkeit des Scheiterns

Die Argumentation Annenkovs konstituiert eine doppelte Perspektive: "Slabyi" chelovek ist in seiner Verwendung erstens der literarische Typus in der zeitgenössischen fiktionalen Literatur, und er verweist zweitens kultursoziologisch auf die Bildungsschicht innerhalb des russischen Adels, wie sie seit der Gründung der Universität in Moskau Mitte des 18. Jahrhunderts allmählich entstanden war. Indem Annenkov den "slabyi" chelovek zum "einzigen sittlichen Typus" der zeitgenössischen Gesellschaft stilisiert und ihn damit grundsätzlich positiv wertet, löst er ihn aus der politischen Diskussion und macht ihn zum Gegenstand eines kulturgeschichtlichen Diskurses. Den Verdacht, er wolle den literarischen Typus in Turgenevs "Asia" verteidigen, weist Annenkov vehement zurück und kritisiert scharf dessen Egoismus und skeptizistische Passivität. In diesem Punkt stimmt er Chernyshevskiis Kritik vorbehaltlos zu.(35)

Sokhrani nas Bog ot mysli sdelat'sia zashchitnikami liudei neiasnogo soznaniia [...]. Prevoskhodnoe izobrazhenie otnositel'noi bednosti soderzhaniia etikh kharakterov, sdelannoe avtorom [d.h. Chernyshevskii; Th.M.], nashlo v nas glubokoe sochuvstvie. My [...] tol'ko govorim, chto "pokamest'" takoi kharakter (vziatyi otvlechenno [...]) est' edinstvennyi nravstvennyi tip, kak v sovremennoi nam zhizni, tak i v otrazhenii ee - tekushchei literature. (Literaturnyi tip, S. 153)
[Bewahre uns Gott vor dem Gedanken, uns zu Verteidigern von Menschen mit verschwommenem Bewußtsein zu machen. [...] Die ausgezeichnete Darstellung der relativen Armut dieser Charaktere in bezug auf ihren Gehalt, die der Autor [d.h. Chernyshevskii; Th.M.] gegeben hat, fand unsere tiefe Sympathie. Wir [...] sagen nur, daß ein solcher Charakter (abstrakt betrachtet [...]) "vorläufig" der einzige sittliche Typus bleibt, und zwar sowohl im zeitgenössischen Leben als auch als dessen Reflex in der aktuellen Literatur.]

Der literarische Typus verkörperte für Annenkov die Tradition des gebildeten Adligen in negativer Brechung: als Zerrbild einer kleinen historischen Bildungselite, die durch die Verbreiterung ihrer gesellschaftlichen Basis zwar ihre Exklusivität, aber auch ihren Wesenskern eingebüßt hatte. Gerade die leicht als soziale Abgrenzung mißzuverstehende Exklusivität seines Bildungsbegriffs mußte den Widerspruch politisch engagierter Kritiker provozieren:

No chtó zhe predstavliaet nam literaturnyi tip bespoleznogo, malo-deiatel'nogo cheloveka? Po nashemu mneniiu eto tot zhe samyi kharakter, kotoryi my staralis' izobrazit', no s chertami zagruben'ia i paden'ia, kotorye dolzhen on byl poluchit' pri perekhode svoem v tolpu, pri razdroblenii svoem na mnozhestvo lits, menee ser'eznykh ili menee schastlivo-nadmennykh zhivoi, uprugoi i plodotvornoi mysl'iu. (Literaturnyi tip, S. 162)
[Was stellt in unseren Augen der literarische Typus des unnützen, wenig aktiven Menschen eigentlich dar? Unserer Meinung nach handelt es sich um genau denselben Charakter, den wir zuvor darzustellen bemüht waren, nur mit Zügen der Vergröberung und des Verfalls, die er auf seinem Übergang in die Masse, bei seiner Zergliederung in eine Vielzahl von Personen annehmen mußte, die weniger ernsthaft sind oder in geringerem Maße als er eine beglückende Überheblichkeit aus einem lebendigen, beweglichen und fruchtbaren Denken beziehen.]

Im literarischen Typus des "slabyi" chelovek sah Annenkov mithin die Möglichkeit eines Scheiterns des Bildungs- und Humanitätsprojektes eingearbeitet. Zwei Gefahren drohen dabei vor allem:

  1. Desorientierung und Wirklichkeitsverlust wegen der prinzipiellen Unabschließbarkeit des Bildungsprozesses;
  2. Fehlschlagen der Initiation in die Sphäre der Bildung.

(a) Unabschließbarkeit des Bildungsprozesses
Für die historische Bildungsschicht war aus der Sicht Annenkovs der Bildungsprozeß die Reaktion auf ein existentielles Bedürfnis nach Wissen und Rationalität:

Obrazovalsia klass liudei, poniavshii nauku, kak zhivoe i neskonchaemoe vospitanie. S nego nachinaetsia u nas razumnaia zhizn' obshchestva. (Literaturnyi tip, S. 159)
[Es bildete sich eine Klasse von Personen heraus, die die Wissenschaft als lebendige und unabschließbare Erziehung verstanden. Mit ihr begann in Rußland ein auf Vernunft gegründetes gesellschaftliches Leben.]

Gerade die ausschließliche Beschäftigung mit der geistig-kulturellen Sphäre birgt eine Reihe von Gefahren in sich: Von weltverneinender Egozentrik über passiv distanzierte Weltbeobachtung bis hin zu enthusiastischer Hingabe an alle denkbaren geistigen Strömungen (sofern diese nur neue Empfindungen versprechen) scheinen dem nach Bildung strebenden Menschen sämtliche Haltungen möglich. Beide Fehlentwicklungen, die ziel- und folgenlose Selbstanalyse wie die Suche nach immer neuen geistigen Erfahrungen, führen in letzter Konsequenz in den geistigen Untergang ("dukhovnaia smert'"; Literaturnyi tip, S. 163). Im Hintergrund wird hier Stankevich sichtbar, in dessen Biographie von 1857 Annenkov diese Züge jedoch noch mit der Ausbildung der Fähigkeit zu "sittlichem Empfinden" entschuldigt hatte:

Est' zaputannost' bolee pochetnaia i nravstvennaia, chem inaia zdorovaia prostota [...]. Stradaniia Stankevicha, ego tiazhelye perekhody ot odnoi idei k drugoi i naklonnost' ischerpat' vse, chtó v nikh zakliuchaetsia - kazhutsia nam iavleniiami izbrannoi natury. V takikh stradaniiakh vyrabotyvaetsia glubokoe nravstvennoe chuvstvo, i iz takikh stradanii vykhodit nakonets muzh dolga i chesti.(36)
[Es gibt eine Art von Verwirrtheit, die ehrenvoller und sittlicher ist als jede noch so gesunde Einfachheit, [...]. Die Leiden Stankevichs, seine mühevollen Übergänge von einer Idee zur anderen und seine Neigung, alles bis zum letzten auszuschöpfen, was in ihnen beschlossen ist, scheinen uns die äußeren Kennzeichen einer auserwählten Natur zu sein. Durch solche Leiden bildet sich ein tiefes sittliches Empfinden aus, aus solchen Leiden geht am Ende der Mann der Pflicht und der Ehre hervor.]

Annenkov versuchte, die starke innere Spannung seiner Konzeption des "slabyi" chelovek aufzulösen durch die Differenzierung in einen kulturhistorischen Typus, den er verteidigte, und einen literarischen, den er stellvertretend für die zeitgenössische Ausprägung des historischen Typus kritisierte. Der These einer Einsicht des adligen Helden in seine Fehler am Ende von "Asia" stand er trotz seiner Leiden an deren Folgen skeptisch gegenüber. Für ihn waren sie Bestandteil der Fixierung des Helden auf sich selbst und versprachen deshalb keinen geistigen Wandel. Eine passiv leidende Grundhaltung motiviert für Annenkov das Scheitern geradezu, wenn es an die Stelle des aktiven Versuchs tritt, geistige oder äußere Veränderungen herbeizuführen. Aus dieser Sicht vollzieht sich das Scheitern von Liza und Lavretskii mit deren geheimen Einverständnis. (Nashe obshchestvo, S. 209) An Lavretskii illustriert Annenkov ferner die Gefahr eines ziellos bleibenden Strebens nach Bildung. Eine tiefe Diskrepanz zwischen theoretischer Weltaneignung und praktischem Weltverlust ist die Folge:

Pokuda roskoshnaia, parizhskaia zhizn' gremit v sobstvennom ego salone, pod rukovodstvom zheny, on sidit u sebia v kabinete i strastno, likhoradochno, neusypno uchitsia. Chemu imenno, zachem, dlia kakoi opredelennoi tseli - eto emu samomu neizvestno, eto tol'ko kharakteristicheskaia cherta ego epokhi. Bezvykhodnoe zaniatie, sudorozhnaia liuboznatel'nost', brosaiushchaiasia vo vse storony, plavanie v more nauki bez kompasa, bez pristani v vidu, - vot ego delo, kak i liubimoe delo vsego pokoleniia sovremennikov ego. (Nashe obshchestvo, S. 205)
[Während unter Leitung seiner Frau das pralle Leben von Paris in seinem eigenen Salon vibriert, sitzt er in seinem Arbeitszimmer und studiert leidenschaftlich, fieberhaft und unermüdlich. Was genau, weshalb, für welches bestimmte Ziel - das ist ihm selbst unbekannt, denn es ist bloß der charakteristische Zug seiner Epoche. Endlose Studien, eine krampfhafte Wißbegier, die sich gleichgültig in welche Richtung auf alles stürzt, und eine Fahrt im Meer der Wissenschaften ohne Kompaß und ohne irgendeinen Hafen im Sinn - eben das ist sein Anliegen wie auch die Lieblingsbeschäftigung seiner ganzen Generation.]

Introversion und Konzentration auf die ziellose Ausbildung einer sittlichen Seite seiner Existenz sind die charakteristischen Merkmale der Variante des "slabyi" chelovek, für die Lavretskii steht.(37) Der Zustand des "geistigen Umherirrens von einer geistigen Vorstellung zur nächsten" ("eto dukhovnoe skitan'e [...] iz odnogo nravstvennogo predstavleniia v drugoe"; Nashe obshchestvo, S. 219) ist für Annenkov die eigentliche Ursache der Schwäche von Lavretskii und Liza wie auch ihrer ganzen Generation.

(b) Fehlgeschlagene Initiation in die Sphäre der Bildung
Es wurde darauf hingewiesen, daß Annenkov zwischen der Sphäre der Kunst und des Lebens differenzierte.(38) Die Tragik des literarischen Typus besteht darin, daß der Bildungsprozeß prinzipiell scheitern kann und daß er sich deshalb weder im einen noch im anderen Raum wirklich entfaltet. Er scheitert an Kunst und Bildung, weil seine Initiation in die Sphäre des Sittlichen, in jene "abgesonderte Welt der Vernunft" ("otdel'nyi mir razumnosti"; Literaturnyi tip, S. 160) nicht gelingt. Mit dem oberflächlichen Panshin in "Dvorianskoe gnezdo" entsteht eine Variante des literarischen Typus, deren Egoismus und modische Halbbildung eine Initiation trotz einer allseitigen Begabung verhindern:(39)

Udivitel'nyi predstavitel' russkoi poluobrazovannosti i russkogo fal'shivogo razvitiia [...], on nadelen vsemi vozmozhnymi talantami: talantom zhivopistsa, muzykal'nym, chinovnich'im, no v toi stepeni, kakaia nuzhna, chtoby zanimat', teshit' liudei, i nikogda ne prinosit im ni dukhovnoi, ni veshchestvennoi pol'zy. (Nashe obshchestvo, S. 202)
[Er ist ein erstaunlicher Vertreter der russischen Halbbildung und der russischen Fehlentwicklung [...], er ist mit allen möglichen Talenten ausgestattet: mit dem Talent eines Malers, eines Musikers, eines Verwaltungsbeamten, aber nur in dem Maß, das nötig ist, um andere Menschen zu ergötzen und zu unterhalten, das aber niemals zu ihrem Nutzen gereicht, weder geistig noch materiell.]

Er wird so zum Repräsentanten des Petersburger Beamtentums und zum Zerrbild eines Westlers. Die Gefahr des Scheiterns hatte Annenkov bereits in der "Asia"-Rezension festgestellt. Er wies dort auf die Möglichkeit hin, daß durch die Begegnung mit Kunst und Bildung lediglich eine innere Erschütterung ausgelöst werde, die eigentliche Initiation aber ausbleibe. Der "schwache" Mensch scheitert, wenn er sich aktiv den Anforderungen der Selbstbildung versagt:

Oni tozhe oznakomilis' s mirom nravstvennykh idei i ochen' khorosho poniali, chego trebuet razumnaia, soznatel'naia zhizn' ot cheloveka. Bednost'iu prirody my ikh ne korim [...], no est' vozmozhnost' vozvysit' prirodnyi uroven' dukhovnogo svoego sushchestva. Oni pali pered trudom samovospitaniia. (Literaturnyi tip, S. 162)
[Ebenso lernten sie die Welt der sittlichen Ideen kennen und begriffen sehr gut, was ein vernünftiges, bewußtes Leben vom Menschen verlangt. Wir tadeln sie nicht wegen der Armut ihrer Natur [...], aber es besteht die Möglichkeit, das natürliche Niveau seines geistigen Wesens zu erhöhen. Sie versagten vor dem Werk der Selbsterziehung.]

Dennoch wies er nicht allein dem Einzelnen Schuld zu. Annenkov glaubte an die geistig-existentielle Bedeutung des kulturellen Erbes für die Entwicklung der Persönlichkeit. Er deutete ihr Versagen als Folge der geistigen Verwaisung einer ganzen Generation, als Folge des Alleingelassenseins durch die alte Bildungselite. Verlust der äußeren Welt und gesteigerte Introversion des literarischen "slabyi" chelovek entspringen demzufolge der Notwendigkeit, seine geistige Welt selbst strukturieren zu müssen - ein Akt, der fast seine gesamte Lebensenergie bindet, der aber nicht gelingen kann, weil er ohne Ziel bleibt. Lavretskiis Bemühen um Selbsterziehung wird so zum Versuch, sich von der Generation der Väter abzugrenzen, die "die Bildung zwar ebenfalls streifte, die jedoch nicht einmal die äußerste Schicht ihrer groben Hülle durchdrang" "(po kotorym tozhe obrazovanie skol'znulo, ne protochiv i pervogo plasta gruboi obolochki", Literaturnyi tip, S. 163). Für Annenkov tat sich darin ein Abgrund der kulturellen Entfremdung zwischen den Generationen auf, die zu einem Phänomen führte, das er auch als "sittliche Paralyse" (nravstvennyi paralich; Nashe obshchestvo, S. 208-209) bezeichnete. Nur durch einen gelungenen Bildungsprozeß schien ihm dieser Zustand vermeidbar. Deshalb richteten sich seine Hoffnungen auf den "slabyi" chelovek, dessen Vorbild für ihn Pushkin war. In Anspielung auf die erste, Horaz zitierende Strophe von Pushkins "Ia pamiatnik sebe vozdvig nerukotvornyi" ("Ein Denkmal, nicht von Hand geschaffen, habe ich mir errichtet"), mahnte er:

Pust' soidet on [d.h. "slabyi" chelovek; Th.M.] v grazhdanskuiu, obshchestvennuiu zhizn' tolpy, probivaia v nei novye kanaly i tropinki, nikogda ne zarostaiushchie [...]. (Literaturnyi tip, S. 167)
[Möge er in das öffentliche, gesellschaftliche Leben der Masse hinaustreten und neue Kanäle und Pfade in sie schlagen, die niemals wieder zuwachsen sollen ...]

Da Annenkov bei seinen kulturhistorischen Ausführungen wie in seinen literarischen Analysen geistig-existentielle Prozesse behandelte, erkannte er in gesellschaftlichen Fragen vor allem solche des Bewußtseins und der kulturellen Identität. Aus diesem Grunde konnte er dem Schriftsteller und der Bildung eine zentrale Rolle bei der notwendigen Erneuerung der Gesellschaft zuweisen.40)

 

 


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Anmerkungen:

(1) B.F. Egorov: P.V. Annenkov - literator i kritik 1840-kh - 1850-kh gg. In: Trudy po russkoi i slavianskoi filologii. XI: Literaturovedenie, Tartu 1968, S. 51-121; B.F. Egorov: Kompozitsiia i stil' stat'ei Ap. Grigor'eva, V.P. Botkina, P.V. Annenkova. In ders.: O masterstve literaturnoi kritiki. Zhanry, kompozitsiia, stil', Leningrad 1980, S. 238-262; B.F. Egorov: Bor'ba esteticheskikh idei v Rossii serediny XIX veka, Leningrad 1982; B.F. Egorov: Evoliutsiia russkogo liberalizma v XIX veke ot Karamzina do Chicherina. In: Structure and Tradition in Russian Society. Ed. by R. Reid, J. Andrew, V. Polukhina, Helsinki 1994, S. 18-28.

(2) D. Offord: Portraits of Early Russian Liberals. A Study of T.N. Granovsky, V.P. Botkin, P.V. Annenkov, A.V. Druzhinin and K.D. Kavelin, Cambridge 1985.

(3) A.I. Batiuto: Turgenev, Chernyshevskii, Dobroliubov, Annenkov. Sviazi i protivorechiia. Tvorchestvo I.S. Turgeneva i kritiko-esteticheskaia mysl' ego vremeni, Leningrad 1990, S. 166-219.

(4) Im Brief an Turgenev vom 25.11.1860 (a.St.) rechnete Annenkov auch Petr L. Lavrov (später Theoretiker des Narodnichestvo) wegen dessen These vom Wechselverhältnis zwischen literarischer Form und philosophischer Erkenntnis noch zum Kreis der ästhetischen Kritiker: "On nash brat - pozornyi estetik". ["Er ist unser Bruder - ein schändlicher Ästhet."] In: Pis'ma P.V. Annenkova k I.S. Turgenevu. Predisl. i prim. N.M. Mendel'sona. In: Trudy Publichnoi biblioteki SSSR im. Lenina. Vyp. III, Moskau 1934, S. 45-184, hier S. 104.

(5) A.V. Druzhinin: Georg Krabb i ego proizvedeniia. In: Sovremennik 54 (1855) kn. 11, otd. 2, S. 1-46; kn. 12, otd. 2, S. 111-150; 55 (1856) kn. 1, otd. 2, S. 1-32; kn. 2, otd. 2, S. 55-91; 56 (1856) kn. 3/4, otd. 2, S. 47-74; 57 (1856) kn. 5, otd. 2, S. 1-38; abgedr. in: Sobranie sochinenii A.V. Druzhinina. Red. izd. N.V. Gerbelia, Bd. IV, St. Petersburg 1865, S. 363-587. - In diesem heute kaum mehr beachteten Aufsatz übte Druzhinin scharfe Kritik am Wirklichkeitsbegriff der Autoren der natürlichen Schule, den er als überzogen, "ultranaturalistisch" und "daguerrotypistisch", vor allem aber als gegen den Realismus Homers (!) gerichtet kritisierte. S. 365 heißt es: "Real'noe napravlenie v slovesnosti nashego vremeni kak russkoi, tak i chuzhestrannoi, zashlo slishkom daleko, dazhe perestupilo granitsy psevdo- i ul'tra-realizma. Natural'nost' napravleniia i nepriznavanie zhiznennoi poezii u nas stali pochti sinonimami, kak budto by pisatel' novogo pokoleniia imeet vozmozhnost', po svoemu proizvolu otbrosit' iz zhizni chelovecheskoi ee zdravo-ideal'nuiu, vozvyshennuiu storonu!" ["Die realistische Richtung in der russischen wie auch in der ausländischen Literatur unserer Zeit ging zu weit und überschritt selbst die Grenze zum Pseudo- und Ultrarealismus. Die grobe Natürlichkeit dieser Richtung und die Nichtanerkennung einer Poesie des Lebens sind bei uns fast zu Synonymen geworden, als ob der Schriftsteller der neuen Generation die Option hätte, aus dem menschlichen Leben dessen vernünftig-ideale, erhabene Seite nach eigenem Gutdünken zu verbannen."] - Zum Dissens innerhalb der ästhetischen Kritik vgl. B. Egorov: Annenkov - literator i kritik (wie Anm. 1), S. 98-100.

(6) Seine Überlegungen zur Khudozhestvennost' haben ausgesprochen defensiven Charakter und sollten m.E. daher nicht ohne weiteres in den Horizont ästhetizistischer Kunstkonzepte gestellt werden.

(7) Der Gedanke, daß Literatur einen autonomen Sinnbezirk konstituiere, kehrt mittlerweile im Diskurs über ihre interkulturelle Dimension wieder. Die sprach-, kultur- und epochenübergreifende Kommunikation unter Künstlern und Schriftstellern scheint schwer anders erklärbar als mit produktiven Alteritätserfahrungen innerhalb einer "autonomen Sinnsphäre"; vgl. Norbert Mecklenburg: Über kulturelle und poetische Alterität. Kultur- und literaturtheoretische Grundprobleme einer interkulturellen Germanistik. In: Alois Wierlacher (Hrsg.): Perspektiven und Verfahren interkultureller Germanistik. Akten des I. Kongresses der Gesellschaft für Interkulturelle Germanistik, München 1987, S. 563-584.

(8) Hinweise gibt sein Disput mit Katenin zur Frage der Moralität von Pushkins Motsart i Salieri und seine Furcht vor einem dauerhaften Niedergang der russischen Literatur, falls ihre Autoren ihr Künstlertum mit einer konkreten gesellschaftlichen Wirkungsabsicht verbänden. Der Reflex dieses Disputs bei P.K. Katenin: Vospominaniia o Pushkine. (1852) In: Pushkin v vospominaniiakh sovremennikov v dvukh tomakh, Bd. I, Moskau 1985, S. 186-199, hier S. 195-196; Annenkov reagierte im Brief an Turgenev vom 21.1.1853 (a.St.). In: Literaturnyi arkhiv (1994), S. 188-216, hier S. 193.

(9) Russkii vestnik 1 (1856) t. 1, kn. 2, S. 705-731. - Abgedr. unter dem Titel: Staraia i novaia kritika. In: P.V. Annenkov: Vospominaniia i kriticheskie ocherki, Bd. II, St. Petersburg 1879, S. 1-22.

(10) Literaturnyi tip slabogo cheloveka. Po povodu turgenevskoi Asi. In: Annenkov: Vospominaniia, Bd. II (wie Anm. 9), S. 149-172. - ED: Atenei (1858) 32, S. 322-350.

(11) Nashe obshchestvo v Dvorianskom gnezde Turgeneva. In: Annenkov: Vospominaniia, Bd. II (wie Anm. 9), S. 194-221; ED: Dvorianskoe gnezdo, roman I.S. Turgeneva. In: Russkii vestnik (1859) 16. - Er verfaßte zwei weitere Rezensionen zu Werken Turgenevs: O mysli v proizvedeniiakh iziashchnoi slovesnosti. (Zametki po povodu poslednikh proizvedenii gg. Turgeneva i L.N.T.) In: Sovremennik (1855) t. 49, kn. 2, otd. III, S. 1-26; abgedr. unter dem Titel: Kharakteristiki: I.S. Turgenev i L.N. Tolstoi. In: Vospominaniia, Bd. II, 1879, S. 84-108; sowie: (Russkaia) sovremennaia istoriia v romane I.S. Turgeneva Dym (1867). In: Vospominaniia, Bd. II, 1879, S. 342-363; ED in: Vestnik Evropy (1867) 7, S. 100-120. Seine Stellungnahme zu "Nov'" beschränkt sich auf Briefe an Turgenev aus den Jahren 1876 bis 1877; vgl.: Nov'. K perepiske P.V. Annenkova s I.S. Turgenevym. Materialy Pushkinskogo Doma. Red. i vstup. stat'ia M.D. Beliaeva. In: Literaturnaia mysl' (1922) 1, S. 188-207.

(12) Die Reflexion Annenkovs auf ältere Bildungskonzepte kann hier nicht dargestellt werden. Daß diese Frage vor der Zäsur in der zweiten Hälfte der 1850er Jahre noch Relevanz besaß, zeigt S.A. Goncharov: Tvorchestvo Gogolia i traditsii uchitel'noi kul'tury, St. Petersburg 1992.

(13) Unter diesen Titeln rezensierte ein Anonymus (wahrscheinlich Petr L. Lavrov), die ersten zwei von drei Bänden von Annenkovs Werkausgabe: Russkii turist 40-kh godov. (Vospominaniia i kriticheskie ocherki. Sobranie statei i zametok P.V. Annenkova. 1849-1868 g. Otdel pervyi. SPb. 1877 g.) In: Delo 11 (1877) kn. 8, otd. II, S. 24-40; Turist-estetik. (Vospominaniia i kriticheskie ocherki. Sobranie statei i zametok P.V. Annenkova. 1849-1868 g. Otdel vtoroi. SPb. 1879 g.) In: Delo 13 (1879) kn. 10, otd. II, S. 1-24. Zu Lavrov, der sich Anfang der 1860er Jahre den radikalen Kritikern um Chernyshevskii annäherte, vgl.: Filosofy Rossii XIX-XX stoletii, Moskau 21995, S. 326-327; Wilhelm Goerdt: Russische Philosophie. Grundlagen, Freiburg München2 1995, S. 519-522.

(14) Pis'ma k A.V. Druzhininu (1850-1863). Red. i kommentarii P.S. Popova. (Letopisi 6, izd. Gosudarstvennogo literaturnogo muzeia), Moskau 1948, S. 26-29, hier S. 26.

(15) Literaturnyi tip, S. 152: "[...] ustroit' sobstvennuiu zhizn' na kakikh-libo razumnykh osnovaniiakh, privesti ee v nekotoryi poriadok i sniat' s nee pechat' gruboi sluchainosti, zhalkogo iznemozheniia."

(16) Ebd., S. 151: "Gory svedenii i vse sokrovishcha tsivilizatsii sut' tol'ko syroi material, iz kotorogo sam chelovek priadet tkan' svoei zhizni s krasivym ili bezobraznym risunkom, na pol'zu ili na pozor sebe."

(17) Ebd., S. 152: "Esli v nem net voli, energii i potrebnosti vozvratit' obshchestvu trudom svoim khot' chast' togo, chtó im vziato zadarom - chelovek ne zasluzhivaet dazhe nazvaniia chestnogo sushchestva."

(18) Vgl. Egorov: Annenkov - literator i kritik (wie Anm. 1), S. 102-103.

(19) N.G. Chernyshevskii: Russkii chelovek na rendez-vous. Razmyshleniia po prochtenii povesti g. Turgeneva Asia. In: PSS v 15-i tomakh. Tom V: Stat'i 1858-1859, Moskau 1950, S. 156-174. - ED: Atenei (1858) 18, S. 65-89.

(20) Am 16.11.1857 (a.St.). In: Pis'ma Annenkova k Turgenevu (wie Anm. 4), S. 72. Nach eigenem Bekunden traf Annenkov noch 1857 regelmäßig mit ihm zusammen. Aber bereits im Brief vom 7(19).11.1856 hatte er mißbilligend auf lobende Worte Turgenevs für Chernyshevskii reagiert und dessen Perspektive als verzerrt durch die Jahre der Verbannung kritisiert: "Vozglasy, vskriki, frondirovka nam ne kazhutsia zdes' veshchami vazhnymi teper', - a v otdalenii oni, pravda, dolzhny kazat'sia vozvyshennym golosom. Udivitel'naia shtuka - otdalenie." (Ebd., S. 59.) [Zwischenrufe, Aufschreie und Frondieren erscheinen uns hier im Augenblick nicht als die wichtigen Dinge, aber aus der Ferne muß es freilich so erscheinen, als erhebe man damit seine Stimme. Eine erstaunliche Sache - die Entfernung.] - Sein Verhältnis zu Chernyshevskii war jedoch komplex und ist nicht auf bloß polemische Gegnerschaft reduzierbar; vgl. B. Egorov: Annenkov - literator i kritik, S. 85-87 (wie Anm. 1).

(21) Zit. nach der Lutherübersetzung in der revidierten Fassung von 1984.

(22) Annenkov war in diesem Punkt weniger kompromißbereit (vielleicht auch weniger verständig) als Turgenev, der in einem Selbstkommentar zu "Ottsy i deti" (Väter und Söhne) - sich offenkundig auf die Kritik Chernyshevskiis beziehend - zu Protokoll gab, daß die poetologische Konzeption der Adelsfiguren der Überlegung folgte, den Adel als gesellschaftliche Führungsschicht zu desavouieren: "Vsia moia povest' napravlena protiv dvorianstva kak peredovogo klassa. [...] Esteticheskoe chuvstvo zastavilo menia vziat' imenno khoroshikh predstavitelei dvorianstva, chtoby tem vernee dokazat' moiu temu: esli slivki plokhi, chto zhe moloko?" [Meine ganze Erzählung richtet sich gegen den Adel als führende Klasse. [...] Mein ästhetisches Empfinden zwang mich, gerade positive Vertreter des Adels zu nehmen, um mein Anliegen um so besser zu beweisen: wenn der Rahm schon schlecht ist, was ist dann erst mit der Milch?] - K.K. Sluchevskomu, 14(26) aprelia 1862 g. In: Roman I.S. Turgeneva Ottsy i deti v russkoi kritike, Leningrad 1986, S. 27-29.

(23) Literaturnyi tip, S. 160: "Ostavalos' odno - sozdat' sebe otdel'nyi mir razumnosti [...]. Na etom ustroistve osobennogo mira nravstvennykh [...] pravil [...] istoshchilas' vsia energiia ikh, a energii bylo u nikh mnogo." [Es blieb also, sich eine eigenständige Welt der Vernunft zu erschaffen [...]. In diesem Aufbau einer besonderen Welt aus sittlichen [...] Regeln [...] erschöpfte sich ihre ganze Energie, und Energie hatten sie reichlich.]

(24) Ebd., S. 165: "Der 'schwache' zeitgenössische Mensch [...] hält in seinen Händen Bildung, Humanität und schließlich Verständnis des Nationalen." - Der Begriff des Nationalen (narodnost') meint bei Annenkov nicht die kulturelle Abhängigkeit von der Ethnie, sondern die aktive Prägung des Begriffs des Nationalen durch die Arbeit der kulturellen und speziell der literarischen Elite. Damit wäre das Nationale im übergeordneten Begriff der Khudozhestvennost' eingeschlossen und ihren Prinzipien untergeordnet - und nicht umgekehrt. Jede präskriptive Ästhetik, die auf die künstlerische Umsetzung einer politisch, ethnisch oder gesellschaftlich definierten Narodnost' abhebt, verfehlt danach das eigentliche Wesen der Literatur. Nach Annenkov beschreibt sie keine unveränderlichen nationalen Merkmale, sondern sie gestaltet das Verständnis des Nationalen kreativ mit; vgl. O znachenii, S. 715-717. Er knüpft hier zwar an die ursprüngliche Fragestellung bei Belinskii aus dem Jahr 1834 an, kritisiert dabei jedoch den entscheidenden Punkt: Belinskiis Forderung nach einer mimetischen Abbildung von spezifisch nationalen Zügen in der Literatur: "Nasha natsional'naia fizionomiia vsego bol'she sokhranilas' v nizshikh sloiakh naroda; [...]. No razve odna chern' sostavliaet narod? [...] vysshaia zhizn' naroda preimushchestvenno vyrazhaetsia v ego vysshikh sloiakh ili, vernee vsego, v tseloi idee naroda. [...] Bezotnositel'naia narodnost' dostupna tol'ko dlia liudei svobodnykh ot chuzhdykh inozemnykh vliianii [...]. Itak, nasha narodnost' sostoit v vernosti izobrazheniia kartin russkoi zhizni." [Unsere nationale Physiognomie bewahrte sich am reinsten in den niedrigen Schichten des Volkes; [...] Aber repräsentiert denn der Pöbel allein das Volk? [...] das höchste Leben des Volkes kommt vor allem in seinen höchsten Schichten zum Ausdruck oder, besser gesagt, in der ganzen Volksidee. [...] Absolute Nationalität erlangen nur Menschen, die frei von fremden, ausländischen Einflüssen sind [...]. Folglich besteht unsere Nationalität in der Genauigkeit der Darstellung von Bildern aus dem russischen Leben.] - Literaturnye mechtanija. (1834) In: Vissarion G. Belinskii: PSS, Bd. I: Stat'i i retsenzii. Khudozhestvennye proizvedeniia 1829-1835, Moskau 1953, S. 20-104, hier S. 92-94.

(25) O znachenii, S. 730: "On ne vyderzhal prizvaniia, usomnilsia v vozmozhnosti khudozhestvennym putem dostich' primireniia s samim soboi [...] i vnes v delo chisto nastavnicheskii element; na kotorom v iskusstve nichego sozdat' nel'zia. Nastavlenie est' otvlechennoe opredelenie predmeta, a ne izobrazhenie ego." [Er ertrug seine Berufung nicht, begann an der Möglichkeit zu zweifeln, daß er auf künstlerischem Wege die Aussöhnung mit sich selbst erlangen könne, [...] und führte ein rein belehrendes Element, auf das man in der Kunst nichts gründen kann, in die Sache ein. Belehrung ist eine abstrakte Bestimmung des Gegenstandes, nicht seine Darstellung.]

(26) Literarische Beispiele sah er in Turgenevs "Zapiski okhotnika" ("Aufzeichnungen eines Jägers"), bei Ostrovskii, Shchedrin und Aksakov; ebd. S. 166; vgl. B. Egorov: Annenkov (wie Anm. 1), S. 91.

(27) Bei der historischen Herleitung des Bildungsmenschen scheint bei Annenkov auch die Naturfeindschaft der Aufklärung durch; vgl. Literaturnyi tip, S. 160.

(28) Dies zeigt eine Passage aus dem frühesten bekannten Text von ihm: "Chelovek imeet tol'ko sposobnost' i sredstva byt' razumnym. [...] Chelovek, chtoby dostignut' vozmozhnogo sovershenstva, dolzhen prosvetit' svoiu dushu naukami i vozvysit' onuiu temi blagorodnymi, vozvyshennymi vpechatleniiami, kotorye dostavliaiutsia iziashchnymi iskusstvami. [...] On dolzhen znat' obshchie obychai svoego otechestva i chastnye usloviia obshchestva, sredi kotorogo on nakhoditsia." [Allein der Mensch hat die Fähigkeit und die Mittel, vernünftig zu sein. [...] Um zur möglichen Vervollkommnung zu gelangen, muß der Mensch seine Seele durch die Wissenschaften aufklären und sie durch jene edlen und erhabenen Eindrücke erhöhen, die von den schönen Künsten bereitgestellt werden. [...] Er muß sowohl die allgemeinen Sitten seines Vaterlandes als auch die speziellen Verhältnisse der Gesellschaft kennen, in der er sich befindet.] - Rassuzhdenie. Dobroe vospitanie vsego nuzhnee dlia molodykh liudei. (1829) In: V.G. Belinskii: PSS, Bd. I, Moskau 1953, S. 15-19, hier S. 15-16.

(29) Zum historischen Begriff der Mimesis vgl. die tiefe Analyse von Hans Blumenberg: "Nachahmung der Natur". Zur Vorgeschichte der Idee des schöpferischen Menschen. In: H. Blumenberg: Wirklichkeiten in denen wir leben. Aufsätze und eine Rede, Stuttgart 1981, S. 55-103.

(30) O znachenii, S. 727: "Khudozhestvennoe izlozhenie prezhde vsego snimaet kharakter odnostoronnosti s kazhdogo predmeta, preduprezhdaet vse vozrazheniia i nakonets stavit istinu v to vysshee otnoshenie k liudiam, kogda chastnye ikh interesy i vozzreniia uzhe ne mogut ni potemnit', ni peretolkovat' ee." [Eine künstlerische Darstellung nimmt jedem Gegenstand vor allem den Charakter der Einseitigkeit, greift allen Einwänden vor und setzt die Wahrheit in jene höchste Beziehung zu den Menschen, wo sie von deren persönlichen Interessen und Ansichten weder verdunkelt noch verdreht werden kann.]

(31) In Verbindung mit dem russischen Realismus-Diskurs brachte ihn auch V.I. Kuleshov: Natural'naia shkola v russkoi literature XIX veka, Leningrad 21982, S. 14, 15 passim. Iurii Mann sieht ihn im Kontext der Herausbildung einer Dokumentarliteratur: Memuary kak esteticheskii dokument. In ders.: Dialektika khudozhestvennogo obraza, Moskau 1987, S. 155-172.

(32) Vgl. z.B. A.V. Druzhinin: A.S. Pushkin i poslednee izdanie ego sochinenii. (1855) In ders.: Prekrasnoe i vechnoe. Vstup. stat'ia i sost. N.N. Skatova. Komment. V.A. Kotel'nikova, Moskau 1988, S. 52-100, z.B. S. 54-57.

(33) Vgl. etwa O znachenii, S. 711. - Im Brief vom 25.1.1857 (a.St.) beklagte er die zunehmende Unversöhnlichkeit und Polarisierung: "Vrazhda za poniatiia i mneniia delaetsia iasnee s kazhdym dnem, i liudi nachinaiut stanovit'sia po svoim mestam." [Die Feindseligkeit wegen Begriffen und Ansichten wird von Tag zu Tag offensichtlicher, und man fängt an, auf der eigenen Position in Stellung zu gehen.] In: Pis'ma Annenkova k Turgenevu (wie Anm. 4), S. 65.

(34) Nashe obshchestvo, S. 218. - Da Annenkov Moralität von Sittlichkeit unterschied, geht die These vom verlorenen sittlichen Konsens über die Frage einer homogenen praktischen Moral hinaus.

(35) Die Rezeptionsgeschichte hat in ihm mitunter den Fürsprecher Oblomovs gesehen. Aus Annenkovs Sicht kann Oblomov aber den gebildeten Adligen gar nicht repräsentieren. Denn sein Mangel an Bildung und die ablehnende Haltung gegenüber Ol'gas Versuch, ihn literarisch zu bilden, schließen ihn aus dem Kreis der "enlightened minority" (D. Offord: Portraits [wie Anm. 2], S. 135-136) aus. Damit fehlt ihm gerade jenes Merkmal, das den referentiellen Bezug des literarischen zum kultursoziologischen Typus des gebildeten Adligen erst herstellt. Annenkov verteidigt nicht den literarischen Typus, sondern die zahlenmäßig geringe Schicht, die historisch Träger des Bildungsgedankens war; zu seiner Kritik an "Oblomov" vgl. B. Egorov: Annenkov - literator i kritik (wie Anm. 1), S. 97, Anm. 90.

(36) N.V. Stankevich. Biograficheskii etiud. In: P.V. Annenkov: Vospominaniia (wie Anm. 9), Bd. III, 1881, S. 268-383, hier S. 308-309. Die Verbindung zu "slabyi" chelovek stellte mit einem etwas anderen Akzent bereits Egorov: Annenkov - literator i kritik (wie Anm. 1), S. 86-90, her. Egorov erarbeitet die versteckte Kritik an Turgenev in der Frage, ob der sittliche Mensch auch in überzeugender Weise der glückliche sein könne. Stankevich, so Egorov, diente Annenkov als positives Beispiel.

(37) Nashe obshchestvo, S. 210: "Lavretskii potratil ogromnoe kolichestvo truda i sily na druguiu, nravstvennuiu storonu svoego sushchestvovaniia. [...] Energicheskoe upravlenie svoim vnutrennim mirom - vot gde edinstvennaia doblest' Lavretskogo." [Lavretskii wandte eine immense Menge an Arbeit und Kraft für die andere, die sittliche Seite seiner Existenz auf. [...] Die energische Beherrschung seiner inneren Welt ist das einzig Heldenhafte an Lavretskii.]

(38) Gelegentlich wird sogar eine antagonistische Beziehung darin gesehen; vgl. B. Egorov: Annenkov - literator i kritik (wie Anm. 1), S. 71: "printsipial'naia nesovmestimost' iskusstva i zhizni" [die prinzipielle Unvereinbarkeit von Kunst und Leben].

(39) Annenkov vertieft damit einen Gedanken des frühen Belinskii; vgl. V.G. Belinskii: Rassuzhdenie (wie Anm. 28), S. 16: "Vprochem, pod slovom: vospitanie ia razumeiu ne odno pustoe znanie svetskikh prilichii; net: prosveshchenie uma, obrazovanie serdtsa i soedinennaia s onymi utonchennost' obrashcheniia - vot chto sostavliaet istinno dobroe vospitanie." [Übrigens, ich verstehe unter dem Wort Erziehung nicht einzig das nichtssagende Wissen um weltmännischen Anstand, mitnichten: Aufklärung des Verstandes, Bildung des Herzens und in Verbindung mit jenen Raffinesse im Umgang - das ist, was eine wirklich gute Erziehung ausmacht.]

(40) Nashe obshchestvo, S. 220: "Pisateliam nashim predstoit vazhnaia rol' v obshchestve, potomu chto vsiakoe delo nravstvennogo svoistva vsegda bylo predchuvstvuemo imi ranee, chem drugimi, i v minutu svoego sversheniia vsegda nakhodilo ikh za sebia i v perednikh riadakh." [Unseren Schriftstellern kommt künftig eine bedeutende Rolle in der Gesellschaft zu, denn jeder Vorgang sittlicher Art war von ihnen immer früher als von anderen erahnt, und in der Minute seiner Vollendung fand er sie auf seiner Seite und in den vordersten Reihen.]


Webmeisterin: Angelika Czipin
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