Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 5. Nr. Juli 1998

Balkan Pulverfass - Festung Europa

Das Zusammenspiel zwischen regionaler und nationaler Politik
Die Dekonstruktion des Begriffes der Nation bei Canetti als kulturwissenschaftliches Paradigma

Penka Angelova (Rousse)
[BIO]

1. Der Traum von einem Europa der Regionen, der die Neukonstituierung europäischer Verhältnisse und der Europäischen Union begleitet, hat eine heikle Frage aufgeworfen - welche sind die Regionen. Die herkömmliche, durch den kalten Krieg vorgegebene Einteilung in Ost und West schien überlebt zu sein, seit den achtziger Jahren hatte sich die Konstituierung eines mitteleuropäischen Selbstbewusstseins um und aus Österreich auch etabliert, das etwa die Gebiete der Donaumonarchie erfaßte.

2.

Je mehr unsere Halbinsel zurück ins Zentrum der Weltpolitik und des Weltmarktes gerückt sei, formulierte Hans Magnus Enzensberger einmal, desto mehr werde ein neuer Eurozentrismus Raum greifen. Ein von Joseph Goebbels geprägter Begriff, die "Festung Europa" sei wieder ins öffentliche Bewusstsein zurückgekehrt. Früher hätte er militärische Bedeutung gehabt, heute ist er als wirtschaftliches und demographisches Konzept gemeint.(1)

In die Richtung einer Abgrenzung eines imaginierten Europa, welches mit dem Westeuropa zusammenfällt und "das römische Kulturmodell" aufweist, führen auch Ausführungen von Rèmi Braque, Otto Kalscheuer, Tony Judt u.a., werden jetzt mehrere Konferenzen durchgeführt, mentalitätshistorische Bücher geschrieben.

3. Ein Prozess von Nationalismen, ein "Balkanisierungsprozess" wie ihn die Geschichtswissenschaft mit Vorliebe bezeichnet, im Süden (Katalonien, Lombardei) und Osten (ehemalige Sowjetunion, ehemalige Föderative Republik Jugoslawien) scheint den Vereinigungsprozessen zu widerstreben. In dem einen Fall geht es um Bevorzugung einzelner Regionen auf übernationalem Niveau und um den Versuch, "kleinere Einheiten anzustreben, um im Verbund mit größeren, transnationalen die eigenen Interessen zu verfolgen" wie Tony Judt bemerkt(2), im anderen Fall aber "diesen Europäern (gemeint sind die Osteuropäer) nur der Ausweg in die "Nation", sprich den Nationalismus bleibt" und sein Ziel sei, so Tony Judt, "den Nationalstaat des 19. Jahrhunderts als Bollwerk gegen Veränderungen zu bewahren."(3)

4. Trotzdem tritt der Balkan als Pulverfass immer wieder in den Mittelpunkt der kriegerischen Interessen und da scheint es langsam um die Errichtung eines neuen Eisernen Vorhangs zu gehen. Wo genau die limes dieses Vorhanges verlaufen wird, steht noch nicht fest. In diesem Zusammenhang wäre nur auf die Politik der NATO in Bezug auf den Kossovo zu verweisen und auf ein Märchen aus alten Zeiten: Jonatan Swifts Märchen vom Fass (A Tale of a Tub), geschrieben im August 1697.(4) In alten Zeiten, so heißt es dort, hätten die Matrosen auf ihre Barken Fässer mitgenommen, die sie, wenn das Schiff von Walfischen überfallen, in Gefahr geriet, den Walen zugeworfen hätten, teils sich zu amüsieren, teils die Wale abzulenken und davonzusteuern. Ein Ablenkungsmanöver also. Den Verweis auf staatliche Strukturen und Verhältnisse haben wir noch von Swift: Er vergleicht die Walfische mit Hobbes Leviathan, dem Staat und seinen Institutionen und beschreibt die Konzeptualisierung des Staates als zwei unmenschliche Entitäten, wie die zwei Bestandteile eines Körpers bei Foucault. Eine territoriale Bodypolitik, die weder der Politik noch den Erklärungsmodellen unserer Zeit fremd ist.(5)

Angesichts der jetzigen Situation auf dem Balkan, die seit der Wende ständig historisch trächtige Brennpunkte aufweist und wie in einem Brennspiegel auch die Entstehung neuer Nationalismen konzentriert, möchte ich auf ein kulturwissenschaftliches Paradigma verweisen, welches Elias Canetti, ein Europäer par excellence in seinem Werk Masse und Macht entwirft, und welches als Paradigma für das Zusammenspiel von nationaler und allgemeinmenschlicher Problematik schlechthin dienen kann:

Canettis Nationenbegriff als kulturwissenschaftliches Paradigma

1. In Masse und Macht weist Canetti der Geschichte im Leben der Menschheit neben der Religion eine gleichgestellte Rolle: im dritten Kapitel untersucht er das Verhältnis der Meute zur Religion, im darauffolgenden, vierten Kapitel - das Verhältnis zwischen Masse und Geschichte. Diese Anordnung der Kapitel bringt es nahe, dass Geschichte bei Canetti nicht mehr die übergreifende Sicht und Anordnung der Ereignisse/des Geschehenen ist, in der sich menschliches Leben abspielt, sondern dass sie sich ihm als eine der Erscheinungsformen menschlicher Konfigurationen darstellt, zu denen Massen sich auf bestimmte Weise verhalten. In diesem Kapitel behandelt Canetti die Nationen als historische Erscheinungen: den Nationalsozialismus, das parlamentarische System, die Demokratie und den Sozialismus in seiner Spannung zwischen Verteilung und Vermehrung. Insofern wäre "Geschichte" in diesem Kapitel einerseits als die Erscheinungsform menschlicher Konfigurationen - Nationen und Staatsformen, seit der Entstehung des Historismus zu betrachten, andererseits behandelt Canetti diese Erscheinungsformen als historische, also als vergängliche Konfigurationen von Massen in der Spannung verschiedener Doppelmassen.

Historistische Erklärungsmodelle über die Entstehung von Kriegen sind wie die Frage nach dem "Bremsweg" in Musils Mann ohne Eigenschaften - durch das Kausalitätsdenken(6) geben sie an, etwas historisch richtig einzuordnen und nehmen ihm dadurch die unerhörte Einmaligkeit und das Unzeitgemäße seiner Unmenschlichkeit ab. In diesem Zusammenhang beschreibt auch Gauß mit Recht, "Jugoslawien einmal nicht als Sonderfall, sondern als europäisches Modell":

Canetti hat in Masse und Macht mit bitterer Hellsicht beschrieben, wie die Legitimation des Krieges, ist sie erst einmal in der vermeintlichen Bedrohung der eigenen Gemeinschaft gefunden, dazu nötigt, die Schraube der propagandistischen Verlogenheit immer fester anzuziehen. Immer neu muß die Fiktion geschaffen werden, ‘dass man bedroht wird’;... dass die eigene Seite die bedrohte war und nur der eigenen Vernichtung zuvorzukommen suchte, indem sie den potentiellen Aggressor noch auf dessen eigenem Gebiet vernichtete, wird dadurch nicht angefochten.(7)

So wird jeder Krieg der eigenen Bevölkerung als präventiver Krieg dargestellt: auch jetzt dauern immer noch die Debatten (vgl. Historikerstreit und Debatten um das Buch von Goldhagen) darüber, ob Hitler nicht "vorbeugend" die Sowjetunion überfallen habe, auch jetzt noch werden in Österreich von dem Chef einer regierenden Partei die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen im Dritten Reich hochgelobt; durch ähnliche Verdummungsstrategien wurde der Einmarsch der militärischen Truppen aus dem Ostblock von August 1968 in die Tschechoslowakei als vorbeugende Maßnahme gegen einen vermeintlichen Einmarsch der Westmächte dargestellt. Die eigene Aggression wird hinter dem Schutzschild von Verteidigung von "nationalen Interessen" verdeckt, hinter den blendenden Begriffen von "Verrat" und "Verteidigung" werden eigene Machtbestrebungen, das, was der Herrscher im Schilde führt, versteckt. Die Herrscher versuchen die Images der eigenen Nation, die in Volksliedern und Sagen einen Ausdruck gefunden haben, sich charismatisch zu eigen zu machen, die Bevölkerung dadurch zum "Volk" zu konsolidieren.

Genau diese sensiblen Saiten der menschlichen und der "nationalen" Seele berührt Canetti, wenn er die nationalen Images untersucht: Canetti versucht, die Images einzelner Nationen als Paradebeispiele auszuarbeiten:

Es kommt hier gar nicht so sehr darauf an, worin er (der Angehörige einer Nation) wirklich anders ist. Eine Untersuchung seiner Sitten und Gebräuche, seiner Regierung, seiner Literatur könnte gründlich scheinen und doch an diesem bestimmt Nationalen, das als Glaube da ist, wenn er Kriege führt, ganz vorübergehen. (I,186)(8)

Worauf es hier also ankommt, ist die Wiedererstellung, zwecks Erkenntnis, der Images, die in den einzelnen Menschen produziert und immer wieder reproduziert werden: eine getreue Wiedergabe der Fiktionen, die den Einzelnen an seine Masse binden, des wunden Flecks, der zum Krebsgeschwür von Nationalismen auswachsen kann.

2. Canetti stellt sich nicht zur Aufgabe, eine "scheinbar objektive"(I,185) Definition des Nationalen über gemeinsame Sprache, Territorium, Geschichte, Regierungen etc. "wissenschaftlich" zusammenzustellen, er fragt auch nicht nach der angeblich objektiven Geschichte einer jeden Nation, um ihre Größe oder nationale Konsolidation zu überprüfen. Die einzigen "Gemeinsamkeiten" zwischen den Nationen sucht er in jenem kollektiven Gedächtnis, jenem "eigentümliche(n) Gemisch moralischer und animalischer Prätenzionen"(I,185) und im Vorhandensein der Massensymbole, "dass der Angehörige einer Nation sich nicht allein sieht" (I,186). Und somit stellt Canetti auch gleich am Anfang des Kapitels über "Masse und Geschichte" die Frage nach diesem Imaginativen, welches in den Vorstellungen der einzelnen Vertreter einzelner Nationen in verschiedenem Grade durch die orale oder schriftliche Tradition - in Märchen, Lied und Sage - als Symbol für eine Zugehörigkeit zu einer Masse schlummert, und welches immer wieder wachgerufen werden kann. Mit Ausnahme des Korns, das als Symbol menschlicher Tätigkeit (des Säens) betrachtet werden kann, sind alle anderen Symbole aus dem größeren Zusammenhang der Natur und das heißt auch der Geographie entnommen. Wald, Wind, Feuer, Regen, Meer und Wind sind Teile des Universums und stellen jenen größeren Rahmen dar, in dem die menschliche Masse eingebettet ist. Die Masse der irdischen Natur stellt diesen größeren Bezugsrahmen massenhafter Identifikationssymbole - und Canetti zieht deren Gesetze in abgewandelter Form auch als für die menschliche Masse geltend in Betrachtung. Es ist derselbe Rahmen, in dem Canetti auch sein kognitives Erleuchtungserlebnis in seiner Autobiographie einsetzt und in den er seine Erkenntnistheorie einbaut: die dreiaktantige Konstellation zwischen der Masse des Universums, der menschlichen Masse, vertreten in der jeweiligen Gemeinschaft oder Gesellschaft und der Masse, die in einem jeden selber vertreten ist.

3. Nach Canetti haben die Nationen die Tendenz, auch als Ersatz oder als eine weitere Dimension des religiösen Glaubens zu erscheinen, es "sollen also die Nationen hier so angesehen werden, als wären sie Religionen. Sie haben die Tendenz, von Zeit zu Zeit wirklich in diesen Zustand zu geraten" (I,186).(9) Diese Union zwischen Nation(alismus) und Religion hat es zu verschiedenen Zeiten in verschiedene Kulturen auf unterschiedliche Art und Weise gegeben. Alle Nationalismen bauen auf einer teleologisch-heilsgeschichtlichen Grundlage auf .

Das Gemeinsame aller dieser nationalen Ideologien, so bezeichnet sie Canetti, ist nur ihr "aufdringlicher Appetit und Anspruch": "sie wollen Vergrößerung und sie begründen das mit Vermehrung" (I,185). Das Gefühl einer Zugehörigkeit zur Masse, das jeweilige Massensymbol, mit dem sich die einzelnen Menschen einer Nation identifizieren, ist immer ein anderes. An dieser Stelle müsste zwischen dem Massensymbol und dem Kollektivsymbol(10) unterschieden werden: Kollektivsymbole sind Symbole, die im kollektiven Bewusstsein als Symbole für bestimmte Denotate funktionieren, sie sind "Instrumente zur Reintegration der arbeitsteilig organisierten ‘verschiedenste(n) Praxis-, Wissens- und Diskursbereiche’ einer Gesellschaft".(11) Wenn man die Perspektivierung bei der Bezeichnung berücksichtigt, bezieht sich das Kollektivsymbol auf die Trägergruppe der Symbole - die jeweilige kollektive Einheit, die sie produziert und trägt. Massensymbol dagegen bezeichnet die Semantik, den Inhalt des Symbols, das zu Bezeichnende: "Kollektive Einheiten, die nicht aus Menschen bestehen und dennoch als Massen empfunden werden" und "in Mythus und Traum, Rede und Lied"(I,81) symbolisch auftreten. Diese Massensymbole werden sowohl vom Einzelnen als auch von dem entsprechenden Kollektiv getragen und decken sich nur in diesem Aspekt teilweise mit dem Kollektivsymbol als "Sinn-Bilder, deren kollektive Verankerung sich aus ihrer sozialhistorischen [...] Bedeutung ergibt und die in der Regel gleichermaßen metaphorisch wie repräsentativ-synekdochisch verwendet werden können."(12)

Und so werden den Engländern das als eine Art "nationale Ideologie" oder "Religion" zu verstehende Massensymbol des Meeres zugesprochen, den Holländern der Deich, den Deutschen das Symbol(13) des Waldes und des Heeres, und den Franzosen die Französische Revolution und der Sturm auf die Bastille, mit dem sie sich identifizieren können, zugewiesen. Den Schweizern werden die Berge zugesprochen, den Spaniern - wie zu erwarten - das Massengefühl beim Stierkampf, denn der Held tritt "angesichts der ganzen Menschheit" an (I,193) und führt das Erlegen des Ungetüms in jeder Einzelheit seinen Zuschauern vor.

Umstritten und widersprüchlich wird auch die Beschreibung der Juden von der Rezeption immer wieder angenommen: mit dem Symbol der Wanderschaft und des Nicht-Vergessen-Wollens.(14)

Nähme man alle diese Beschreibungen als Canettis eigene Meinung, könnte man ihn sowohl in das Denken des 19. Jahrhunderts verpflanzen, vom "Zynismus"(15), von einer "mehr oder weniger ambivalente(n) Beziehung zu seinem Judentum"(16) oder auch von Distanzierung von seinem Judentum sprechen. Selbst Friederike Eigler, die den mimetischen Charakter der Quellenpräsentation bei Canetti dargestellt hat, sieht in diesem Verfahren die Gefahr von einem "Eindruck von Nationalcharakteren", "eine Vorstellung also, die aus einem ideologischen Umfeld stammt, gegen das Masse und Macht gerade angeschrieben ist."(17) Dass dem nicht so ist, sollen die nachfolgenden Betrachtungen zeigen.

4. Die Forschung hat bis jetzt diese Nationalsymbole entweder nicht berücksichtigt, oder ist allzu oft mit den falschen Erwartungen daran herangegangen: mit den Erwartungen von einem Begriff von Nationen oder von einem Begriff von Nationalcharakteren. Dabei hat Canetti sich vor Begrifflichkeit womöglich geschützt, indem ihm die ethymologische Nähe zwischen Greifen und Begreifen im Aneignungsakt des Begrifflichen bewußt war. Und die Vorstellung von Charakteren wäre nur in einem bestimmten, von Canetti aktivierten Sinne hier anzuwenden: als Massencharaktere, wie er seinen Der Ohrenzeuge. Fünfzig Charaktere dargestellt hat - Charaktere, die gewisse Masseneigenschaften darstellen und unter den Menschen nie in reinster Form zu finden sind. Doch während ein Teil der Charaktere im Ohrenzeugen und in den Aufzeichnungen auf soziale und kulturelle Gruppen-Eigenschaften rekurieren, beziehen sich die Symbole der Nationen auf nationale Gruppen-Eigenschaften.

5. In diesem Umfeld wäre nach der Auswahl der Nationalimages und nach deren Darstellungsart zu fragen Es würde von einer naiv-kausalistisch-historische Herangehensweise zeugen, wenn man von Canetti die Erklärung der Kausalität der historischen Erscheinungen abzulesen erwarte, wie das des öfteren in der Forschung vorkommt. Canetti zitiert Kausalitäten, die durch verschiedene Machtdiskurse sich als solche etabliert haben, ohne sich mit ihnen zu identifizieren. Gerade bei der Darstellung der Nationenimages können wir feststellen, daß die "mimetische Quellenpräsentation" eine zutreffende aber unzureichende Erklärung dafür gibt.

Man muss sich die Mühe nehmen - ohne ihre Gier zu teilen -, das Eigentümliche im Falle jeder Nation zu bestimmen. Man muss daneben stehen, keiner von ihnen hörig, aber redlich und zutiefst an ihnen allen interessiert. Man muss jede von ihnen geistig so in sich aufgehen lassen, als wäre man dazu verurteilt, ihr für einen guten Teil seines Lebens wirklich anzugehören. Aber man darf keiner von ihnen so angehören, dass man ihr auf Kosten aller übrigen ausgeliefert ist. (I,185f)

Eine Einladung zum Weltbürgertum par excellence! Und eine Einladung zur Verwandlung: jedoch nicht um in ihr zu verweilen, sondern über sie hinaus zur Erkenntnis zu gelangen. Verwandlung als Erkenntnismodus wird hier für die Erfassung historisch-politischer Entwicklungen gefordert. Doch muss deutlich hervorgehoben werden, dass nur ein Teil der Erkenntnis in der Maske der Verwandlung vor sich geht. Der andere und wichtigere Teil der Erkenntnis vollzieht sich draußen, daneben, "keiner von ihnen hörig, aber redlich", in der vergleichenden Betrachtung aller.

6. Canettis Einstellung zu den Nationen ist am deutlichsten an seinem Verhältnis zu den Deutschen und zu den Juden abzulesen. Diese Einstellung wäre mit jenem ahnungsvollen novalisschen Gleichnis zu umschreiben, das den erkenntnisermöglichenden Schwebezustand der romantischen Transzendentalpoesie als einen Zustand ständiger Distanz darstellt: "In der Welt zu leben, als sei es nicht die Welt". In der Geschichte leben, als wäre es nicht die Geschichte. Ganz Jude sein als wäre man kein Jude. So könnte man diese Erfahrung weiter variieren

Die größte geistige Versuchung in meinem Leben, die einzige, gegen die ich sehr schwer anzukämpfen habe, ist die: ganz Jude zu sein. Das Alte Testament, wo immer ich es aufschlage, überwältigt mich. Denn warum fand ich meinen Traum von den künftigen hohen Lebensaltern der Menschen in der Bibel wieder, als Liste der ältesten Patriarchen, als Vergangenheit? Warum haßt der Psalmist den Tod wie nur ich selbst? Ich habe meine Freunde verachtet, wenn sie sich aus den Lockungen der vielen Völker losrissen und blind wieder zu Juden, einfach Juden wurden. Wie schwer wird’s mir jetzt, es ihnen nicht nachzutun. Die neuen Toten, die lange vor ihrer Zeit Toten, bitten einen sehr, und wer hat das Herz, ihnen nein zu sagen. Aber sind die neuen Toten nicht überall, auf allen Seiten, von jedem Volk? Soll ich mich den Russen verschließen, weil es Juden gibt, den Chinesen, weil es ferne, den Deutschen, weil sie vom Teufel besessen sind? Kann ich nicht weiterhin allen gehören, wie bisher, und doch Jude sein? (W4,74)(18)

Diese Aufzeichnung, die das Jahr 1944 eröffnet, noch bevor der Krieg zu Ende war, ist schon aus der Sicht ihrer zeitlichen Entstehung überraschend und verblüffend wegen ihrer menschheitlichen Gesinnung. Wenn es tatsächlich einen Dichter gäbe, der eine menschheitliche Gesinnung, frei von jeglichen nationalen, klassenmäßigen, oder ethnischen Vorurteilen vertritt, dann ist es zweifelsohne Elias Canetti. Die Viererkonstellation von zwei Innenansichten und zwei Außenansichten ermöglicht ihm die nötige Distanz und die nötige Einfühlung zugleich, und gleichzeitig einen Standpunkt von Außen, der mit Liebe und Distanz vergleicht und gegeneinander absetzt, um den allgemeinmenschlichen, den transnationalen Standpunkt anzunehmen, sich in den Dienst des Menschlichen und Menschheitlichen zu stellen.

Die Einstellung, die Canetti hier einnimmt, ist nicht zwischen (inter) den Perspektiven, sondern aus der Sicht von zwei "Innenperspektiven", als Jude und als "deutscher Schriftsteller"(19), und zwei Außenperspektiven jene Verantwortung zu übernehmen, die dem Geist und dem Denker gebührt und keine nationalen, ethnischen oder politischen Rangunterschiede macht. Jude bleiben und doch allen gehören, die Menschheitsperspektive einnehmen. Diese Verantwortung für die Menschheit, die er in seinem Essay über den Beruf des Dichters dem Dichter zuschreibt, nimmt er für sich in einen viel weiter gefassten Umfang dieses Begriffes - als Denker, als Intellektueller und bietet damit ein kulturwissenschaftliches Paradigma für die Betrachtung von nationalen und regionalen Problemen, aber auch für die Kommunikation zwischen den Wissenschaften.

7. Und so erweist sich die Verwandlung bei Canetti als eine interdiskursive Form der Kommunikation, in der das Einsteigen in den Diskurs Erkenntnis des Gegenüber/des Anderen/der anderen Kultur impliziert und ein vorübergehendes Identifikationsvermögen, welches nicht mit den Paradigmen der Einfühlung (Hermeneutik) und der ‘Empathie’ (Psychoanalyse) zu verwechseln ist.

Diese Betrachtungsweise mit der dazu gehörenden Reduzierung (auf einzelne und wichtigste nationale Massensymbole) und der entsprechenden Übertreibung ist am ehesten mit einem Begriff von Lichtenberg zu beschreiben, den Canetti zu den wenigen unumstrittenen Vorbildern seines Schaffens zählt und mit dem er nicht nur die aphoristische Darstellungsweise gemein hatte, sondern auch die diskursübergreifenden Sprünge zwischen Literatur und Naturwissenschaften. In seinen Aphorismen "zwischen Physik und Dichtung" beschreibt Lichtenberg die Parallaxe folgenderweise:

Parallaxe, davon ein Exempel an unserem eigenen Leib, man halte des Abends bei sternenhellem Himmel sein Gesicht so sehr in die Höhe, dass es beinah horizontal zu liegen kommt, schließe das eine Auge zu und sehe was für Sterne die Spitze der Nase berührt, alsdann schließe man das andere und betrachte nun, was für Sterne die Nase, durch das zuerst geschlossene Auge gesehen, bedeckt, der Boden des größten Zirkels zwischen den beiden Sternen ist die Parallaxe der Nasen-Spitze, trägt bei kurzen Nasen nicht leicht über 90° und bei großen niemals unter 40°.(20)

Eine ähnliche, nicht humorlose Reduktion auf das eine offene Auge liegt auch bei der Betrachtung der Nationalimages vor, die wir in Anlehnung an Lichtenberg auch als "parallaxische Darstellungsweise"(21) bezeichnen können.

Ein Begriff aus der Physik und der Astronomie wird für die von den Philosophen beliebte Konstellation der Betrachtung des Himmels über das eigene Ich gesetzt: nur steht für das eigene Ich die Nasenspitze. Man könnte darin fast eine parodistische Paraphrase von Kants berühmtem Erleuchtungserlebnis entdecken, welches auch für Canetti ein Bezugsbild gewesen ist, wie wir an dem bekannten Erleuchtungserlebnis auf der Alser Straße in seiner Autobiographie Die Fackel im Ohr feststellen können, in dem die Trinität von bestirntem Himmel, Masse der Stadt und die Masse im eigenen Ich im Augenblick des Stolperns erlebt wird. Bei der Darstellung der Nationalimages in der Form von Massensymbolen hat Canetti seine "mimetische Quellenpräsentation" bis in ein Extrem getrieben, dessen Betrachtung den beschriebenen Gegenstand nicht über die Nasenspitze der jeweiligen Nation hinausführt, welches aber durch die Anordnung des Textes den Diktus des Autors spüren lässt.

Diese reduktionistische Betrachtungsweise hat ihren Vorboten noch in Canettis Roman, in jener "Gucklochperspektive", die er seinen Sinologen als "wissenschaftlichen Apparat" für die "Beherrschung der Wirklichkeit" und die Betrachtung von Hosen unter Ausgrenzung jeglicher Röcke sich aneignen lässt. Es sei daran erinnert, dass Canetti in einem ganzen Kapitel im Roman diese pseudowissenschaftliche Strategie entwickelt, in der der Theorie von Kien die Empirie von Pfaffs aus der Gucklochperspektive resultierende Machtstrategie entgegengestellt wird. Kien stellt seine pseudo-empirischen Forschungen aus der begrenzten Perspektive des Gucklochs, "eine Handbreit über dem Fußboden", um die Macht der Theorie über die Praxis durchzusetzen und nicht nur jegliche Röcke aus der Betrachtung auszuschließen, sondern auch die ihn neurotisierende Farbe Blau: "Blau ist eine Erfindung der Physik" (Bl.431) Pfaff seinerseits "benutzt den Spion, um die Bettler zu identifizieren und sofort aus dem Haus zu werfen; eine Aufgabe, die im übrigen die von Kien beabsichtigte ‘Systematik der Hosen’ praktisch vorwegnimmt."(22) Kien, der in der ersten Fassung den Namen Kant trug, führt nach Heike Knoll eine Verkehrung von Kants Erkenntnistheorie und Ethik vor, indem durch die Übertragung von Kants transzendentalem Subjekt auf die empirischen Subjekte der Romanwelt, die in ihrer Getrenntheit ihre eigenen Welten rücksichtslos gegeneinander setzen eine wahn-sinnige Welt dargestellt wird, in der der Wahn System hat. Der "kleine" Sprung zwischen Kiens wissenschaftlicher Ausgrenzugsmethode und Pfaffs gewalttätiger Ausgrenzung zeigt dann die gefährliche Nähe zwischen Wissenschaft und Barbarei: eine Wissenschaft, die mit der Bezeichnung ‘subjektivistisch’ nicht einfach abzutun ist; denn die angeblichen objektivistischen Wissenschaften, die von der Objektivität des Objektes, des Tatsachenberichts und anderen pragmatischen Prämissen ausgegangen sind, haben sehr oft die Begrenztheit ihrer Guckloch-Perspektive übersehen. Dass es auf den Gefilden der Geschichtsschreibug und -bewältigung dabei nicht nur zu einem Historikerstreit, sondern auch zu Historikerkriegen gekommen ist, bei denen es über sogenannte "nationale Fragen" niemals zu Einverständnis kommen konnte, ist auch eine historische Tatsache. Meistens werden nationale Geschichten im Dienste nationaler Interessen geschrieben und aus der Einsinnigkeit der nationalen Perspektive gesehen.

Es ist eine falsche Erwartung, wenn man in den zwei nach der Aufzählung der Massensymbole folgenden Kapiteln über "Das Deutschland von Versailles" und "Inflation und Masse" die Erwartungsstrategie von historischer Lektüre anwenden würde, die Aufschlüsse über historische Kontinuitäten anbieten soll. Noch im Jahre 1943 vermerkt Canetti in einer Aufzeichnung: „Die aus der Geschichte nicht mehr herausfinden, sind verloren, und alle ihre Völker dazu." (W4,52.)

Es ist eine Darstellungsweise, die eine jede Nation über den Engpaß ihrer eigenen Vorstellungen betrachtet, das Objekt jedoch von mehreren Seiten im Wechsel und der Hinundherbewegung zwischen den verschiedenen Objekten beleuchtet, sich immer wieder para, daneben stellt und sich in verwandelter Form allassein, vertauschen lässt und dem Leser doch genug Rezeptionsraum für Vergleiche und Nebenansichten frei lässt.

Diese pseudowissenschaftliche Betrachtung, die nur den genehmen Gesichtspunkt unter Ausschließung jeglicher fremdartigen zulässt und zur Beherrschung von Wirklichkeit auf unterschiedliche Art und Weise dient, als Erzählmodus angewandt, zeigt den Machtkampf der Perspektiven unter Ausgrenzung jeglicher fremdartigen. Gleichzeitig bekommt die Verwandlung als Erkenntniskategorie nur einen begrenzten Status und erst in der Entwandlung, im Danebenstehen, zwischen und unter den anderen Perspektiven (nicht über ihnen und in jenem erkenntnistheoretischen Dreierverhältnis des Diskurses, das Canetti in seinem "Erleuchtungserlebnis" beschreibt, wäre die erkenntnisermöglichende Kommunikation zu suchen.

8. Nicht zu übersehen sind bei allen Nationalszmbolen das Bedürfnis nach einer Identiofikationsfigur bzw. Identifikationssymbol, welche auch massenhaften Charakter tragen und die Naturmasse in sich präsentieren. Wenn wir auf den Ausgangspunkt unserer Betrachtungen zurückgreifen, werden wir bemerken, dass bei allen Anwärtern auf den Eintritt in die EU die Notwendigkeit einer Zugehörigkeit zu einem größeren Ganzen gesehen wird, "die letzte verbleibende und ergiebige Quelle gemeinschaftlicher Identifikation" die über die kleinen Nationalismen hinausgeht.

Vor dem Hintergrund des dramatischen Zerfalls der großen abstrakten Ideale eines sozialistischen Utopia und dem unhaltbaren Versprechen eines immer größeren und immer reicheren kontinentalen Zusammenschlusses hat man wohl unterschätzt, welche Anziehungskraft eine soziale Einheit besitzt, die geographisch überschaubar ist und sich auf eine gemeinsame Vergangenheit gründet und nicht auf ferne Zukunft.(23)

Daraus schlussfolgert Tony Judt, dass sich respektable Politiker "ein wenig mehr um die Tugenden der Nation und ihres Staates" kümmern sollten, da "auf den Staat in der einen oder anderen Form [...] man in Zukunft wohl nicht verzichten" könne. Man sollte jedoch nicht den Staat mit der Nation gleichsetzen, wenigsten solange nicht, bis der Begriff der Nation jeglicher Auslegung unterliegt und mit ethnischen, sprachlichen, religiösen Vorurteilen verbunden ist. Gerade diese Vorurteile trennen aber auch auf der westlichen Seite den Westen Europas von ihrem Osten, wie das die Geschichte vom in den Vorstellungen vieler Westeuropäer neu aufgeputzten Karolingischen Reich bezeugt. Auf der östlichen Seite können sie aber zu Kriegen und neuen Nationsbildungen führen, wie es der Fall im zerfallenden Iugoslavien oder mit Tschetschenien war. Im Herzen Europas führen sie jedoch zu einem neuentflammten Nationalismus, welcher sich von der ganzen Welt abkapseln zu wollen scheint und in die Offensive tritt. Bei dem Vorhandensein einer Großmachtpolitik, die die Erfindung unseres Jahrhunderts ist und die mit der Aufteilung der Erde zusammenhängt, ist es unmöglich, "außerhalb" zu bleiben und "die Tugenden der eigenen Nation zu pflegen". Diese Tugenden gehören zu jeder modernen Staatsbildung, und die Gesetzgebung sowie sonstige staatliche Regelungen können diese Rolle verantwortungsvoller übernehmen als die Berufung auf die nationale Symbolik und die nationale Rolle.

Viel wichtiger ist meines Erachtens jene geographisch-politische soziale Gemeinschaft, die das Europa der Geographie und nicht der Illusionen abgibt.

Jeaques Attali hatte schon 1992 die Herausforderungen einer neuen Weltordnung durchdacht und überzeugend dargestellt. Der Zusammenbruch des Kommunismus hatte Europa, Amerika und eigentlich die ganze Welt vor ein neues Dilemma gestellt: die Neue Ordnung der Welt. Unmöglich scheint es, dass die Welt homogen werde oder US-Amerika als die einzige Macht bleibe. Als eine Möglichkeiten für die neue Weltmacht hatte Attali den gesamten europäischen Raum einschließlich Russland vorgestellt. Wenn Europa eine Großmacht, und das heißt selbständig, werden will muss es in Kauf nehmen, sich auch als jene Einheit in diesem größeren Rahmen zu betrachten.

In diesem Kontext bietet uns das neue kulturwissenschaftliche Paradigma von Canetti eine brauchbare Möglichkeit. Dadurch kommt es bei Canetti zu einer Dekonstruktion des Nationenbegriffes, deren Ausgangspunkt sowohl in der Auswahl als auch in der Darstellungsart der Nationenimages besteht, sowie in der historischen Einordnung dieser Erscheinung und zu konstruktiven Überlegungen über andere Modelle von kollektiven Gemeinschaften führt. Hier böte auch das Modell der multiplen Identitäten, das eine Vielfalt von Angeboten in einer mehrfachen Verschachtelung von kollektiven Identitätsangeboten enthält, einen produktiven Denkansatz.(24)

© Penka Angelova (Rousse)

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Anmerkungen:

(1) Zitiert nach Tony Judt: Große Illusion Europa. Herausforderungen und Gefahren einer Idee. Hanser 1996, S. 147f.

(2) Gemeint sind dabei der national motivierte Separatismus der Katalanen oder die Beförderung der eigenen Interessen in der Lombardei.

(3) Tony Judt: Große Illusion Europa. Herausforderungen und Gefahren einer Idee. Hanser 1996, S. 139.

(4) Swift, Johnathan: A Tale of a Tub and other Satires. London: L.M.Dent &Sons Ltd, 1948. Den Verweis auf dieses Märchen habe ich meinem Kollegen aus der Schumener Universität, Vesko Budakov, zu verdanken.

(5)Die Nation als kollektives Gedächtnis. Als "Code des kollektiven Gedächtnisses, als Quelle moralischer Verpflichtungen und als Hintergrund-Kultur (Niklas Luhmann)" erscheint nach Rèmi Braque für Europa z.B. "das römische Modell" zu dienen, wonach die "kulturelle Identität Europas [...] aus der Übertragung dieses ursprünglich religiösen Musters auf den Bereich der weltlichen Kultur hervorgegangen" sei. (Rèmi Braque, Orient und Okzident. Modelle "römischer" Christenheit. In: Otto Kallscheuer, Das Europa der Religionen, Frankfurt am Main 1996, S. 45-65.)
So habe sich seit Jahrhunderten die Tendenz durchgesetzt, "dass bestimmte Formen des Christentums mit bestimmten Regionen Europas in Verbindung gebracht wurden" und wo das Reich der Römer, beziehungsweise der Karolinger, Lothringer, Hohenzollern und Habsburger zu Ende war, da war auch Europa zu Ende [...] so schien es für die Westeuropäer nahezuliegen, diese östlichen Gebiete als terra incognita anzusehen, die von zivilisations- und disziplinierungsbedürftigen Rauhbeinen bevölkert waren. (Tony Judt, a.a.O. S 66.)

(6) Auf diese Besonderheit historischer Begründungen, die versuchen "ein vorgegebenes Ereignis oder einen vorgegebenen Ereigniszusammenhang als Ergebnis" vorzustellen, weist auch Koselleck in seiner Studie "Terror und Traum. Methodologische Anmerkungen zu Zeiterfahrungen im Dritten Reich" hin. In: R.K.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. 1989. S. 278-299.

(7) Karl Markus Gauß: Der Mythos vom Amselfeld. In: Einladung zur Verwandlung. Hg.v.Michael Krüger. Carl Hanser Verlag 1995, S. 512-523. Hier: S.  517f.

(8) Zitiert wird hier nach: Elias Canetti, Masse und Macht, Hanser 1976. Bd. 1 und II.

(9) An beiden Stellen ist die kursive Hervorhebung von Canetti selbst.

(10) Petra Kuhnau: Masse und Macht: Zur Konzeption anthropologischer Konstanten in Elias Canettis Werk Masse und Macht. Diss. Ruhr-Universität Bochum 1995. Petra Kuhnau überträgt Gerhard Links Definition des Kollektivsymbols auf Canettis Massensymbol, ohne auf den obigen Unterschied in der Perspektive zu achten und meint, daß "diese Faktoren als kennzeichnend auch für seine Massensymboldefinition, die weitgehende Parallelen zur Kollektivsymbolik aufweist, angenommen werden."(P.K.112.)

(11) Petra Kuhnau, S.113 bezieht sich dabei auf Jürgen Link, Elementare Literatur und generative Diskursanalyse. 1983 S. 60.

(12) Jürgen Link, Ute Gerhard: Zum Anteil der Kollektivsymbolik an den Nationalstereotypen. In: Jürgen Link, Wulf Wülfing (Hg.) Nationale Mythen und Symbole in der zweiten Hälfte des 19 Jahrhunderts. Strukturen und Funktionen von Konzepten nationaler Identität. Stuttgart 1991. S.16-52. Hier S. 18.

(13) Das Symbol der Deutschen sollte nicht von den anderen als Doppelsymbol abgehoben werden, wie das Kuhnau macht, denn "man vergesse nicht, dass zum Schiff des Engländers das bewegte Meer gehört und zum Heer des Deutschen der wogende Wald"(I,191) und so drückt sich auch "das Massengefühl der Revolution" in einer konkreten Bewegung aus: "im Sturm auf die Bastille."(I,192) Insofern haben viele Symbole auch ihr Pendant in der nationalen Symbolik.

(14) "Sie haben Bewunderung erregt, weil es sie überhaupt noch gibt. Sie sind nicht die einzigen Menschen, die man überall findet, gewiss sind die Armenier ebenso weit verbreitet. Sie sind auch nicht das älteste Volk, die Geschichte der Chinesen reicht in eine tiefere Vorzeit zurück. Aber sie sind von den alten Völkern das einzige, das so lange schon wandert. [...] Oberflächlich betrachtet, vom ordinären Standpunkt der Selbsterhaltung aus, sollten sie alles daran setzen, vergessen zu machen, dass sie Juden sind, und es selber vergessen. Aber es ist so, dass sie es nicht vergessen können, meist wollen sie es auch nicht. Man muss sich fragen, worin denn diese Menschen Juden bleiben, was sie zu Juden macht." (I,196.)

(15) Kuhnau, a.a.O. S. 142.

(16) Kurt Loewenstein: Juden in der modernen Massenwelt. Zit. nach Kuhnau, a.a.O. S. 142.

(17) Friederike Eigler: Das autobiographische Werk, Verwandlung Identität Machtausübung. Stauffenburg Verlag Tübingen 1988. S. 96.

(18) Elias Canetti: Werke, Bd.4. Aufzeichnungen 1942-1985. Die Provinz des Menschen, Das Geheimherz der Uhr. Carl Hanser Verlag.o.J. (W,4.)

(19) Ich wollte mir von niemand - und schon gar nicht von Hitler - vorschreiben lassen, in welcher Sprache ich schreibe. Meine Vorfahren haben 1492 Spanien verlassen müssen und ihr Spanisch in die Türkei mitgenommen, wo sie sich niederließen. Dieses Spanisch haben sie über 400 Jahre in ihrer neuen Heimat rein gehalten, und es war auch meine Muttersprache. Ich lernte Deutsch mit acht [...] Mit dreiunddreißig musste ich Wien verlassen und nahm Deutsch so mit, wie sie damals ihr Spanisch. Vielleicht bin ich die einzige literarische Person, in der die Sprachen der beiden großen Vertreibungen so eng beiananderliegen. Eine so kuriose Konstellation soll man nicht stören. Es ist klüger und vielleicht ergiebiger, sie sich auswirken zu lassen." (Gespr. mit Horst Bienek, In: Elias Canetti: Die gespaltene Zukunft. Hanser Verlag, München 1972, S. 103) Eine mögliche "Auswirkung" dieser Konstellation ist auch die besondere Perspektivierung von Masse und Macht, die die zwei "Innenperspektiven" einer Betroffenheit von der Geschichte mit einer dritten, des ganzen Menschheitsgeschlechts verflechtet, um nach den Wurzeln des Übels zu fragen.

(20) Georg Christoph Lichtenberg: Aphoristisches zwischen Physik und Dichtung. Vieweg Verlag Braunschweig Wiesbaden. 1983. S. 19.

(21) Parallaxe: Winkel zwischen zwei Sehstrahlen, der entsteht, wenn ein Punkt von zwei verschiedenen Punkten auf einer Geraden betrachtet wird; aus griech. parallaxis "Wechsel, Hinundherbewegung", zu paralassieren "nebeneinander abwechseln lassen, abweichen, verschieden sein", aus para "neben, daneben" und allassein "wechseln, verwandeln, vertauschen", dieses zu allos "anders", also eigentlich "anders machen". (Herkunftswörterbuch. Orbis Verlag München 1993.)

(22) Heike Knoll: Das System Canetti. Zur Rekonstruktion eines Wirklichkeitsentwurfs. Verlag für Wissenschaft und Forschung Stuttgart 1993. S. 71.

(23) Tony Judt, a.a.O. S. 140.

(24) Darauf gehe ich in meinem Beitrag: Vom "Balkan" zu "Europa" - Multiple Identitäten und mögliche Erwartungshorizonte angesichts einer gespaltenen Zukunft. Vortrag bei dem 4. Wiener Kulturkongress. Wien, November 1998 ein.


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