Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 5. Nr. Juli 1998

Die Kultur der Übergänge: Konfliktfelder interkultureller Prozesse

Alexandr W. Belobratow (St. Petersburg)
[BIO]

Noch vor 10-15 Jahren wäre das oben bezeichnete Vortragsthema für einen Literaturwissenschaftler aus Rußland kaum zumutbar gewesen, aus ganz verschiedenen und für den im Titel angedeuteten Problemkreis nicht uninteressanten Gründen:

  1. aus einem politisch-hierarchischen: es durften nur wenige "Kulturgeneräle" den Sowjetstaat im Auslande vertreten;
  2. aus einem ideologischen: es wurde offiziell keine Kultur der Übergänge akzeptiert, keine "Dialogzone" zwischen zwei Kulturen, zwei divergierenden Welten, und man brauchte keine "augenzwinkernden" Begriffe wie Interkulturalität zu erfinden, wenn es das mächtige Wort Internationalismus gab;
  3. aus einem institutionellen, berufsethischen Grund, denn es ziemte sich für einen Leningrader (Petersburger) Literatuwissenschaftler nicht, essayistisches "Geschwätz" über die allgemeinen Probleme der Weltordnung publik zu machen;
  4. aus einem kultur- und wissenschaftsgeschichtlichen Grund: diese Fragestellungen erfreuten sich auch im Westen noch keiner besonderen Aufmerksamkeit;
  5. und - nicht unwichtig - aus einem internen wissenschaftsgeschichtlichen Grund: die Versuche, über die Situation und Entwicklungstendenzen von Auslandsphilologien und die Rolle und Situation der Philologen als Kulturvermittlerinnen nachzudenken, waren in der Sowjetunion noch im Ansatz und hauptsächlich dem Kampf mit monoideologischen Strukturen, Denk- und Schreibstrategien gewidmet.

Die (wenn auch nicht vollständig) erwähnten Gründe wären wohl kein schlechtes Beispiel dafür, was ich als historische Wandelbarkeit der Fragestellungen bezeichnen möchte. Im Laufe der Ent- und Demokratisierungsprozesse in der Sowjetuinion und seit 1991 in Rußland, der Prozesse der Globalisierung und Desintegration (UdSSR, GUS, Nachfolgestaaten, Tschetschenien, Krimrepublik, Tatarstan, Fernostautonomiebestrebungen, Eingliederung in den Europarat, Nichteingliederung in die NATO, Allianz Rußland-Weißrußland usw.), in den Zeiten des totalen Abbruchs der früheren Wertvorstellungen und der Expansion der "uncreative Diversity" der Ideologien von West und Ost (Wilder Kapitalismus, Hollywood, Katholizismus, Moon- und andere Sekten, Pepsi-Generation, neuer Paneuropäismus, neuer Panslawismus, neue Reichgründungstendenzen, neuer Monarchismus usw. usf.), also in der Situation, die ich wohl "Situation des permanenten Übergangs" nennen darf, verschärft sich das Gefühl für die Dynamik und vielschichtige Verflechtungen der kulturellen Prozesse, werden die Gefahrenzonen und Konfliktfelder deutlicher, die früher vertuscht bzw. unreflektiert blieben. Es kommt dabei zum Heraustreten aus Denkgewohnheiten, was - wie wir wissen - ein konfliktbeladener Vorgang ist, denn da werden zahlreiche Vorstellungen, Denk- und Forschungsklischees kritisch überprüft, und diese Umwälzung wird auch von einer gewissen theoretischen Verunsicherung begleitet.

Die neue Undurchschaubarkeit und Unübersichtlichkeit der Literaturwissenschaft als einer kulturwissenschaftlichen Disziplin spornt zum Zweifel an. Und - mit Graham Greene (ich zitiere aus seinem Roman "Monsignore Kichot", 1982): "Wie seltsam ist es, daß der Zweifel die Menschen wohl sogar mehr verbinden kann, als der Glaube. Der Gläubige wird gegen die anderen Gläubigen wegen einer Nuance im Verstehen kämpfen - der Zweifelnde kämpft doch nur mit sich selbst." Dieser Kampf mit sich selbst kann wie bekannt zu den schärfsten inneren Identifikationskonflikten führen. Und doch möchte ich hier die Situation eines Fragenden, eines Zweifelnden hervorheben, ohne dessen "Einbeziehung des Anderen" (Jürgen Habermas) in den interkulturellen Dialog generell keine echte gegenseitige Verständigung entstehen kann. Die methodologische bzw. kulturelle Selbstgenügsamkeit läuft Gefahr, an einem erneuten Mauerbau aktiv beteiligt zu sein.

Es scheint eine sehr verbreitete Meinung zu sein, daß der Glaube an vereinheitlichende Theorien und gemeinsame Nenner kein Ziel mehr ist, weder in der tatsächlichen, konkret-materiellen Welt, noch im Bereich der Kulturwissenschaften. Nach Kim Levin, einer Kunstwissenschaftlerin aus den Vereinigten Staaten, "(ist) der Zusammenbruch der Paradigmen, der vor 25 Jahren schon als theoretischer Begriff in Literatur, Architektur und Kunst Geltung erlangte, mittlerweile auch für das allgemeine Weltgeschehen gültig."(1) Levin setzt ihre Überlegungen mit dem Motto "Überleben statt Fortschritt" fort, und das Überleben heißt für mich das Sich-Hineinversetzen in die Situation eines interkulturellen Dialogs, damit die zwischenmenschlichen Beziehungen aus der Epoche der Gewalt heraustreten.

Bevor man Konflikte austrägt, muß man diese wahrnehmen, beschreiben und analysieren. Und da möchte ich mich zuerst mit dem Begriff der Grenze befassen, der Trennlinie zwischen Außen und Innen, zwischen dem Eigenen und Fremden, des Ortes also, wo der Übergang ermöglicht bzw. verhindert wird.

Die polnische Lyrikerin Wiszlawa Szimborska schreibt in ihrem "Gespräch mit dem Stein": "Mit ganzer Oberfläche wende ich mich dir zu,/und mit dem ganzen Inneren liege ich abgewendet." In diesen Verszeilen wird die Grundproblematik von Außen/Innen angedeutet, das merkwürdige Verschwinden einer Zwischenzone, eines Dialogfeldes, einer überschreitbaren Grenze, die Veräußerlichung des Inneren bei jedem Versuch, in das Innere einzudringen.

Das erste Konfliktfeld, daß ich hier wenigstens grob abstecken möchte, ist direkt mit diesem Problem verbunden. Wie weit kann und muß man sich in das Innere einer fremdnationalen kulturellen Situation hineinversetzen? Was geschieht dabei? Kommt es zur permanenten Veräußerlichung des fremden Inneren (Kolonisierung der Kultur), oder wird infolge der Gegenbewegung (Entkolonisierung der Kultur) eine konträre Situation möglich, wo man immer nur im Kreise der Eigenen bleibt und das extreme "Bewußtsein der Gruppenidentität" entwickelt? Mit Kim Levin: "Seit die Grundlagen des modernen Glaubenssystems bröckeln, ist Identität eine zentrale Frage in der Kunst und im Leben geworden: nicht die Identität des einzelnen Menschen, sondern die Identität der Gruppe." Es geht also darum, sich selbst als Teil einer kulturellen Gruppe zu identifizieren. Und wenn man außerhalb der Gruppe angesiedelt ist, was tut man da? Bleibt man an der Grenze? Wenn man das Fremde nur anerkennt, ohne es zu versuchen, das Eigene im Fremden zu entdecken und die Grenze zu überschreiten, kann man da überhaupt irgendwie interkulturell aktiv sein? Eigentümlicherweise kann dieser Abgrezungstrend, diese fundamentalistische Ausrichtung der Kulturen auch in gewissem Sinne als transkulturell empfunden werden, d.h. über Grenzen hinweg verschiedenen Kulturen gemeinsam.

Allgemein bekannt ist es, daß interkulturelle Prozesse besonders intensiv an der Grenze, in der Übergangszone zwischen verschiedenen Kulturen verlaufen. Umberto Eco spricht über die konstituierende soziale und kulturelle Bedeutung, die dem Begriff der Grenze seit der Antike anhaftete. In seinem Buch "Die Grenzen der Interpretation"(1990) hebt er hervor: "Die lateinische Obsession der räumlichen Grenze hat ihren Ursprung im Mythos der Staatsgründung: Romulus zieht eine Grenzlinie und ermordet den Bruder, weil dieser sie nicht respektiert. Man kann nicht civitas sein, solange man keine Grenzen anerkennt /.../. Wenn man keine klare Vorstellung von den Grenzen mehr hat und die Barbaren /.../ ihr nomadisches Weltbild durchgesetzt haben, dann ist das Ende Roms gekommen, und die Hauptstadt der Welt kann überall sein."

Eigentlich ist die Herausbildung der Grenze ein allgemeiner Prozeß, der sowohl in der Natur (genau begrenzte Bereiche, die der oder jener Tiergruppe "gehören" und von ihr streng bewacht werden), als auch in der menschlichen Gesellschaft (Staatsgrenze, Stadtgrenze, Grenzen des persönlichen Raums) abläuft. Nach Jurij Lotman "entsteht jede Kultur durch die Gliederung der Welt in den inneren (das Eigene) und äußeren (das Fremde) Raum. Die Grenze trennt die Lebenden von den Toten, die Einsässigen von den Nomaden, die Stadt von der Steppe, sie kann einen staatlichen, sozialen, nationalen, konfessionellen u.a. Charakter besitzen. Wenn die innere Welt den Kosmos darstellt, so wird hinter der Grenze das Chaos angesiedelt, die Antiwelt, der außerstrukturelle ikonische Raum, bewohnt von Ungeheuern, infernalen Kräften und Menschen, die damit verbunden sind."(2)

Dabei ist der Begriff der Grenze doppeldeutig. Einerseits besitzt die Grenze eine trennende, andererseits eine verbindende Funktion. Sie ist immer eine Grenze zwischen dem einen und dem anderen, d.h. sie gehört zu beiden aneinandergrenzenden Kulturen. Die Grenze ist bi- und polilinguistisch. Die Grenze ist eine Art Mechanismus der Übersetzung der fremden Kulturzeichen in die Sprache unserer Kultur, der Ort der Umwandlung des "Äußeren" in das "Innere", sie ist ein "filtrierendes Membran", das fremde Zeichen auf solch eine Art transformiert, daß sie in das innere unseres Zeichensystems eingegliedert werden können, ohne dabei ihre Fremdheit zu verlieren. Es ist eine bewegliche Grenze, und diese Grenze ist unentbehrlich, denn kein "ich" kann ohne "er (sie, es)" existieren. Darum schafft jede Kultur nicht nur ihre eigene innere Organisation, sondern auch ihre eigene äußere Desorganisation.

Mit Jurij Lotman "ist der "Barbar" von der Zivilisation geschaffen, er braucht sie, wie auch sie ihn braucht." Wie bekannt, definierte der klassische Rationalismus die Barbaren als diejenigen, die nicht einmal fähig waren, das Wort zu artikulieren (barbaros, der Stammelnde). Dabei kam es andererseits sehr früh dazu, daß die stammelnde Sprache der Fremden auch als eine geheime, kryptographische Sprache, als eine Sprache der heilversprechenden Offenbarungen empfunden wurde. Diese Anlockung, die vom Fremden kommt (oftmals wird dieses Fremde auch in Form von kulturellen Klischees empfunden: "die geheimnisvolle russische Seele", "die deutsche Pünktlichkeit", "die georgische Gastfreundlichkeit", "die orientalische Weisheit"), ist auch ein Teil des interkulturellen Prozesses.

Gerade an der Grenze kommt es bekannterweise zum "clash of the civilizations" (Samuel P. Huntington), und es "entsteht an der Grenze der Semiosphäre der permanente Austausch, die Ausarbeitung einer neuen, gemeinsamen Sprache, es kommt zur Bildung der kreolisierten semiotischen Systeme: der Zusammenprall der Kulturen führt notwendigerweise zum kulturellen Ausgleich und der Herausbildung einer neuen Semiosphäre auf einer höheren Ebene, die beide Seiten als die gleichberechtigten in sich hineinnimmt." (Lotman, 1990)

Dieses m.E. präzise Modell der semiotischen Grenze besitzt aber auch seine Grenzen und ist in erster Linie wegen des Beharrens auf der aufklärerischen Grundvorstellung und der Nichteinbeziehung der plurizentrischen Auffassung der Kultur durchaus kritisierbar (nach Paul De Man gibt es keine KULTUR, es existieren mehrere Kulturen). Der Universalismus Lotmanscher Konzeption übersieht ein wichtiges Problem, das als "Entkolonisierung des Geistes" zum Topos der amerikanischen Debatte über den Multikulturalismus geworden ist. Entsprechend diesen Vorstellungen muß der Rahmen eines geschichtsphilosophischen und religiösen Universalismus zerbrochen werden, weil er die Vielfalt und die Verschiedenheit der Kulturen autoritär begrenzt und der Zerstörung ausliefert. Die Kulturwissenschaftler reagieren hier auf ein Denken, das den Rahmen und die Grenzen der Universalität, der Menschheit und der Menschlichkeit durch Exklusivität von einem bestimmten Zentrum aus festlegt und den Anderen marginalisiert und an die Peripherie verweist.

Es ist auch leicht zu bemerken, daß es dabei oftmals zu einer "Politik und Rhetorik der Schuldzuweisung" kommt, die die Debatte über Multikulturalismus leicht in eine Sackgasse kultureller Ghettoisierung lenkt. Die historische Welt wird zugunsten "einer Metaphysik von 'Wesenheiten' wie Négritude, Irentum, Islam oder Katholizismus aufgegeben, das heißt die Geschichte fahrenzulassen für Parolen, die hinreichend effizient sind, um Menschen gegeneinander aufzuhetzen."(3) Meine Frage ist hier, ob es zwischen einer globalisierenden Kultur, die die anderen Kulturen als "barbarisch" beurteilt und diese der kulturellen Gleichschaltung unterwirft, und einer in sich geschlossenen, jeden Einfluß negierenden Vielzahl der Originalkulturen einen Übergang geben kann, eine Brücke, eine Trennlinie, die auch verbindet?

Das zweite, sehr wichtige Konfliktfeld bilden die sog. "Zonen des Schweigens", des Ausbleibens bzw. der beträchtlichen Abschwächung der potentiell möglichen bzw. früher intensiv gepflegten kulturellen Kontakte. Nach Gerardo Mosquera "können wir uns die Globalisierung nicht einfach als eine überterritoriale Sphäre von Kontakten in alle Richtungen vorstellen. Sie besteht nicht in einer effektiven Verknüpfung des gesamten Planeten vermittels eines Netzes von Kommunikation und Austausch. Es handelt sich vielmehr um ein radiales System, das sich von den verschiedensten und unterschiedlich großen Machtzentren hin zu ihren zahlreichen und höchst mannigfaltigen Wirtschaftszonen erstreckt. /.../ In der Peripherie ist die Globalisierung wenig vorangekommen, weil sie sich ausgehend von den Zentren und für die Zentren vollzieht. Eine solche Struktur impliziert die Existenz großer Zonen des Schweigens, die miteinander gar nicht oder nur über die Neumetropolen verbunden sind."(4)

Die konkurrierenden interkulturellen Bestrebungen der (wirtschaftlich) peripheren Kulturen bewirken die Zerstörung der interkulturellen Kontakte zwischen ihnen. Es entsteht eine neue Zentralisierung, und sogar die Kulturen, die gemeinsame Wurzeln besitzen (ein Paradebeispiel aus letzter Zeit: Rußland und Ukraine), empfinden gegeneinander das Gefühl der Entfremdung, des Fehlens jeglicher kultureller Gemeinsamkeiten und Interferenzen.

Es ist ein Übergang, der zwei divergierende Tendenzen in sich birgt: einerseits Globalisierung - z.B. die Eingliederungsbestrebungen in der Ukraine (die EU, die NATO, der geistige Raum von Mitteleuropa - auch der habsburgische Mythos wird hier manchmal reanimiert, besonders in Lemberg, in der Westukraine), Eingliederung in den inter- und multikulturellen Prozeß, andererseits Desintegration, Abbruch der früheren Kontakte mit der russischen Kultur, die als imperialistisch bezeichnet wird und "überwunden" werden muß.

Es ist hier ein politischer und kultureller Prozeß im Gange, der rationalistisch-aufklärerische Modelle und Vorstellungen sprengt. Eine alte/neue Nation, ein neuer Nationalstaat ist bestrebt, durch die Entgrenzung von Rußland seine Eigenständigkeit, seine kulturelle und politische Besonderheit hervorzuheben und aufzubewahren. Jegliche kulturelle Initiativen und Vermittlungen zwischen Rußland und Ukraine bergen in sich eine Gefahr: die Anhänger des früheren Staatsgebildes würden diese Bestrebungen mißbrauchen, indem sie das kulturelle Vergleichsmaterial (gemeinsame Wurzeln, sprachliche Nähe, gemeinsame Folklore, Mythologie, Geschichte) als einen politischen Beweis verwenden könnten, Beweis für die Unnatürlichkeit der Trennung von Rußland. Die radialen Verknüpfungen sind hier wichtiger und werden (fälschlicherweise) als sehr bedroht durch die Querverbindungen eingeschätzt. Es sind mehrere Faktoren dabei wirksam. Man darf die wirtschaftliche Lage von beiden Ländern nicht vergessen: die früheren kulturellen Kontakte wurden massiv vom Staate unterstützt, jetzt gibt es dafür einfach kein Geld mehr. Auch die Neuorientierung der Kultur und Kulturwissenschaften (wir sind mehr Europäer als unsere Nachbarn im Osten und müssen andere Kontakte intensiver pflegen, damit wir echte Europäer werden) ist hier zu berücksichtigen. "Die Zonen des (kulturellen) Schweigens" bezeugen die fortschreitenden Desintegrationsprozesse und bilden ein Konfliktfeld, das - und es ist sehr wichtig, darauf hinzuweisen - nicht als etwas Statisches, Abgeschlossenes, sondern als eine Übergangssituation betrachtet und interpretiert werden muß.

Als drittes Konfliktfeld möchte ich das Problem der sprachlichen Grenze bezeichnen, des Übergangs zu einer ein- (und nicht aus-) schließender Kommunikationsform zwischen verschiedenen Kulturen. Welche Sprache muß die Sprache der Zwischenzone, der interkulturellen Grenze, des Überganges sein?

  1. Eine synthetische, künstliche Sprache? Esperanto z.B.? Ev. ja. Es wäre eine Sprache, die jeder Erdbewohner zusätzlich zu seiner Muttersprache sprechen könnte. Im Vortrag von Michaela Bürger "Esperanto - positive oder negative Utopie im babylonischen Europa?" (Innsbruck, September 1997) und mehreren Publikationen zum Thema (Claude Piron, 1992) wird dafür leidenschaftlich plädiert. Diese Sprache existiert aber seit der Zeit ihrer Entstehung eher in einer marginalen Zone. Diese Marginalisierung von Esperanto steht in Verbindung mit einem kardinalen Problem, einem Grundkonflikt in dieser sprachlichen Vermittlungszone: was wird vermittelt? Es ist doch augenscheinlich, daß die Übersetzung der literarischen Texte in diese Sprache wenig sinnvoll ist. Die Übersetzung ist keine simple Sprachzeichenumkodierung. Ich lese einen Garcia Marques bzw. eine Ebner-Eschenbach entweder im Original oder in der russischen Übersetzung. Klar, daß die "kastalische" Übersetzung, das Glasperlenspiel einer künstlichen Sprache, ohne die Ambiguitäten einer natürlichen Sprache, ohne ihre Irrationalitäten, keine kulturvermittelnde Rolle spielen kann. Die begrenzten Bereiche einer künstlichen Sprache erlauben, sie bloß als System einer pragmatischen Verständigung zu gebrauchen. Dabei wäre es sehr wichtig, bei der ev. Durchsetzung einer Plansprache als einer Informationssprache, als einer Sprache der internationalen Kommunikation folgendes zu berücksichtigen. Die Argumentierung der Anhänger einer Plansprache soll nicht unter "Zuhilfenahme recht drastischer Vergleiche" ("bürokratisch", "faschistisch", "undemokratisch") (so Bürger über Claude Pirron) entwickelt werden. Es müssen die Grenzen der Anwendung dieser Informationssprache wenigstens vorläufig skizziert werden. Es soll zu einer breiteren Diskussion zu diesem Thema kommen, an der nicht nur die Zentren, sondern auch die "Peripherien" teilnehmen könnten.
  2. Eine aufgrund der allgemeinen Entscheidung als lingua franca gewählte natürliche Sprache? Man hat schon oftmals bemerken können, daß das Problem einer Sprache für die internationale Verständigung sich darstellt "als der Konflikt zwischen einer Plansprache, Esperanto, die bekanntlich zur Zufriedenheit ihrer Benutzer funktioniert, und einer hegemonialen Nationalsprache, die, wie wir alle wissen, heute das Englische ist." (Bürger) Hegemonie einer Nationalsprache vs Hegemonie einer Plansprache also? Englisch scheint seit mehreren Jahrzehnten in dieser Rolle zu fungieren. Englisch als politische Vermittlungssprache, als Sprache der Wissenschaft, als touristische und Handelssprache, als Sprache der Showindustrie, der Filmkunst (unter Berücksichtigung der kaum aufhaltbaren Expansion der Hollywood-Produktion): ein überzeugendes Beispiel. Englisch auch als eine Sprache, in der viele literarische Texte erschienen sind, sei es im Original bzw. in Übersetzung, die oftmals in den meisten anderen Sprachen unzugänglich sein können.
    Ein wesentliches Konfliktfeld scheint hier die Anglisierung der deutschen, russischen usw. Sprachen zu sein. Es kommt sogar zu den Behauptungen, daß Englisch "andere Sprachen umbringe"(Fettes). Michaela Bürger meint dazu: "in der Tat ist es kaum anzunehmen, daß der allgemeine Gebrauch von Englisch einen EU-Bürger dazu anregen könnte, sich noch anderen EU-Sprachen intensiv zu widmen". Aus einer breiteren historischen Perspektive ist es aber durchaus möglich zu behaupten, daß die Filiation einer (mehrerer) Fremdsprache(n) in die Muttersprache ein normaler Prozeß ist und an der allgemeinen Entwicklung der Sprache(n) verschiedener Völker einen beträchtlichen Anteil hat. Das Entweder-Oder-Modell ist m.E. hier kaum durchzusetzen.
  3. Mehrere Sprachen? Dieses Modell entspricht der plurizentrischen Entwicklung der Welt, der Kulturgeschichte. Es gibt mehrere geographische und kulturelle Regionen, wo Deutsch z.B. eine Vermittlungsfunktion spielt, das Gleiche kann für die russische, französische, spanische und einige andere Sprachen gelten. Es geht dabei weniger um den Europarat bzw. die UNO mit ihren aufwendigen Praktiken der Übersetzung von allem, was dort gesprochen und geschrieben wird, in nahe zu ein Dutzend Sprachen. Es geht um die interkulturellen Kontakte, die das vorhandene Kulturgut nicht per negationem, sondern kreativ bewerten und verwenden könnten.
    Englisch war für Millionen Menschen eine kolonialistische Sprache, die englische Kultur - eine kolonialistische Kultur. Man kann die nationalen Bestrebungen der entkolonisierten Staaten verstehen, die ihre Sprachen und ihre Kulturen besonders intensiv pflegen. Ob es aber dabei sinnvoll wäre, die englische Kultur und Sprache als tabuisierte Gegenstände zu behandeln? Das gleiche betrifft auch die russische Sprache in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion. Dabei kann man kaum bestreiten, daß die kulturelle Vermittlung nicht nur an der Grenze zwischen zwei Kulturen (z.B. ukrainisch-georgische kulturelle Interferenzen) geschieht, sondern auch über das System diverser kultureller Vermittler (über Rußland u.a.), was ein stärker verflochtenes interkulturelles Netz schafft.
  4. Alle Sprachen als Vermittlungssprachen? Die Schwierigkeiten bei der Durchsetzung dieses Modells sind enorm, der Gewinn wäre aber auch nicht gering. Es stünde dann jeder Sprache frei, weiter zu gedeihen, ihre Eigenheit im natürlichen Kontakt mit anderen Sprachen zu entwickeln. Dabei könnte man vermuten, daß die technische Entwicklung (elektronische Dolmetscher) in der absehbaren Zukunft dieses Problem enorm erleichtern wird. Die elektronische Datenbank eines finnischen Diplomaten, Managers, Wissenschaftlers kann mit mehreren "elektronischen Dolmetschern" ausgerüstet werden (finnisch-russisch, -deutsch, -englisch, -chinesisch usw., auch finnisch-esperanto). Es stehe jedem einzelnen Menschen dann offen, welche Sprache er tiefer lernt, welche Entdeckungen des Eigenen im Fremden er machen will, kann und wird.

Mit Berücksichtigung aller oben erwähnten Modelle kann die interkulturelle Kommunikation flexibel mit Verwendung der "historischen" und künstlichen Vermittlungssprachen, der elektronischen Dolmetscher, der Mehrsprachigkeit der Kommunizierenden realisiert werden. Diese Art der Kommunikation bleibt dann ein offenes System. Kein Monolog muß hier herrschen, eher ein Polylog, bei dem die Kultur der Übergänge nicht als etwas Marginales, sondern als die fruchtbarste Form der Offenheit erscheint.

Bei jedem Gespräch, in jedem Interpretationsanliegen, in dem wir ein bewegliches System, eine dynamische Situation, mit einem Wort, die Kultur der Übergänge betrachten, scheint jenes Konfliktfeld eine besonders wichtige Rolle zu spielen, das ich als Konfliktfeld der "kulturellen Ungleichzeitigkeit" bezeichnen möchte.(5) Dieses Problem ist in Westeuropa weniger präsent und wohl aus diesem Grunde weniger rezipiert und interpretiert worden. Im März 1998 kam es in Ägypten für den "Denker des kommunikativen Handelns" (für Jürgen Habermas) zu seiner ersten Begegnung mit dem Islam. Habermas nahm an einem Kolloquium der Philosophischen Universität Kairo teil. In einer Podiumsdiskussion meinte Hassan Hanafi, Professor für Philosophie: "Wir müssen die westliche und islamische Kultur in derselben geschichtlichen Periode miteinander vergleichen. Wir leben jedoch in verschiedenen historischen Perioden, wir bewegen uns an das Ende des Mittelalters zu, wir wechseln vom 14. ins 15. Jahrhundert über." Demgegenüber befinde sich der Westen am Ende des 20. Jahrhunderts und bewege sich auf das 21. Jahrhundert zu. Habermas sprach in seiner Erwiderung von einer "erzwungenen Gleichzeitigkeit". Ich würde diese Konstellation als "Gleichzeitigkeit des Übergangs" bezeichnen, denn es wäre dann durchaus möglich, die "andere Zeit" verschiedener Kulturen nicht nur einem linear-fortschrittlichen Modell beizuordnen, sondern die Überlebensstrategien und die des interkulturellen Umgangs freundlicher und multikultureller zu gestalten.

Noch ein Konfliktfeld, das ich hier nur kurz erwähnen möchte, obwohl dieses besonders akute Probleme und Reaktionen aufweist, betrifft die Institution der kulturellen Vermittler und die Vermittler selbst. Die "Reise nach Innen", in das Innere der fremden Kultur sieht Edward D.Saïd im "nomadisierenden Migranten", im "Traveller als einer Figur kritischer Gegenkultur" verkörpert. Mit dieser Figur des Migranten und des Travellers, der auch ein Emigrant und Exilant sein kann, bringt Saïd seine eigene Biographie zur Sprache. Er sieht sich selbst als ein Anderer dieser "politischen Figur zwischen den Sphären, zwischen den Formen, zwischen den Sprachen. Aus dieser Perspektive sind dann allerdings wirklich alle Dinge quer, ureigen, selten und wunderlich." (Saïd, 1993)

Hans-Joachim Müller sprach (Schlaining 1998) über die "neuen Heiden" und ihre Rolle in den historisch-politischen und kulturellen Prozessen in Lateinamerika. Das hat mich an ein Beispiel aus der altrussischen Geschichte erinnert. In der Zeit, wo die frischgebackene christliche Kultur des alten Rus' sich scharf von den "Paganen", den Heiden abzugrenzen versuchte, gab es an der Grenze zur Steppe, zu nomadischen, heidnischen Völkern russische Siedlungen, deren Bewohner (Krieger, Kaufleute, Dolmetscher) notwendigerweise Kontakte mit den "Tataren" herstellen und aufrecherhalten sollten (Warenaustausch, diplomatische und militärische Kontakte usw.). Diese Leute wurden im alten Rus' als "unsere Paganen", d.h. "unsere Heiden" bezeichnet (das Wort "Pagane" ist in der russischen Sprache stark negativ besetzt, sieh, z.B. Adverb "poganyj" - "unrein", "gefährlich", "giftig").

Jede Kultur besitzt ihre eigenen Heiden, die diese Kontaktzonen besiedeln, eine kulturelle "Schnittstelle" bilden, die kompatibel zu mehreren Kulturen sein kann (Übersetzer, Dolmetscher, Kulturvermittler, Autoren u.a.m.).

Soziologisch betrachtet ist es eine sehr interessante Gruppe, von den Marginalen bis zu den Topleuten der entsprechenden Kulturbranchen. Es gehören auch Kultur- und Literaturwissenschaftler dazu. Ein enormes Problem (sprachlich, kulturell-inhaltlich, psychologisch) wird hier vermutet: die Situation der mehrfachen Identität ist doch wohl potentiell eine schizophrene Situation. Die Situation eines fundamentalistischen kulturellen Bewußtseins mit seiner paranoidalen Überdominanz im Verhältnis zu eigenen Kulturwerten und der undurchlässigen Linearität der Grenze zu anderen Kulturen ist leichter zu ertragen. Die mehrfache kulturelle Identität stellt ein Problem dar, das die kulturellen Vermittler, die man auch als "kulturelle Transvestiten" bezeichnen kann, besonders stark betrifft. Es sind die Wanderer zwischen den Welten, die Grenzüberschreitenden, es sind Menschen, die an einem "Marco-Polo-Syndrom" leiden bzw. es genießen, diese hohe Krankheit erleben zu dürfen.

© Alexandr W. Belobratow (St. Petersburg)

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Anmerkungen:

(1) Kim Levin: Die Maske der Universalität. In: neue bildende kunst 4/5 1995.

(2) Jurij Lotman: Innerhalb der denkenden Welten: Aufsätze aus den 1960-1980er Jahren. Moskau 1990 /russ./.

(3) Edward W. Saïd: "Culture and Imperialism. New York 1993.

(4) Gerardo Mosquera: Die Welt der Unterschiede. In: neue bildende kunst 4/5 1995.

(5) Siehe dazu u.a.: Thomas Wägenbaur: Kulturelle Identität oder Hybridität? In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 1995, H. 97.


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