Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 6. Nr. September 1998

Schöne neue Theaterwelt

Ulf Birbaumer (Wien)
[BIO]

I.

Die letzten Jahre haben die Wissenschaft vom Theater, auch wenn sie von so manchem Vertreter der Disziplin seit längerem schon als eine "Wissenschaft der kulturellen Kommunikation"(1) definiert wird, gehörig durchgerüttelt. Ein Wachrütteln im Positiven ist damit natürlich gemeint, das ein Aufbrechen zu neuen Ufern provoziert sowie ein Anpassen theaterwissenschaftlicher Methoden an sich ständig ändernde Theaterformen sowie an ein mehrfach zu ortendes neues Theaterverständnis.

Mit der nationalen, vielfach faktographisch geübten linearen Theatergeschichtsschreibung ist es wohl schon längere Zeit vorbei, aber auch die daraus resultierenden Änderungen im Selbstverständnis der Disziplin scheinen heute nicht immer ausreichend. Zu grundlegend haben sich Teilbereiche des Kommunikationsfeldes Theater geändert: Struktur, Inhalt und Ästhetik sind einem raschen Wandel unterworfen.

Ich weiß schon: das Burgtheater, die Royal Shakespeare Company, das Deutsche Theater, die Comédie Francaise etc. gibt es noch, aber selbst diese Kulttempel der bürgerlichen Theatertradition werden zunehmend heilsamen Schocktherapien unterzogen. Sie werden "ausgegliedert"(2), privatisiert, mediatisiert, einem neuen Publikum geöffnet oder überhaupt dem gesellschaftlichen Zeitgeist thematisch wie ästhetisch angepaßt.

Nicht nur das Fernsehen schielt nach Quoten, auch das Theater muß den allseits beliebten, aufregenden "Kick" vermitteln. Dazu holen nicht wenige Direktoren den nicht minder beliebten "Event" (samt "Fun") ins Haus, bevor er auf der Straße oder sonstwo ausbricht und die jungen Menschen davon abhält, jenes alte Gemäuer zu frequentieren, wo Großeltern und Eltern immer wieder ihr Abonnement erneuerten. Trotz alledem: für die Scala, das Teatro Colon oder die Met und ihre Aufführungen mag die herkömmliche theaterhistorische oder "analystische" Methodik immer noch ausreichend sein. Für die buntscheckigen Spielarten des "théâtre hors des murs" reichte sie schon lange nicht mehr aus.

Schon Karl Marx, der Belesene, spricht im "Kommunistischen Manifest" von 1848 - in offensichtlicher Anlehnung an den alten Goethe - davon, daß die Nationalliteraturen zunehmend an Bedeutung verlören und daß man künftig rechtens nur noch von Weltliteratur sprechen würde.(3) Was also bereits im 19.Jahrhundert für die Literatur gilt, das muß im 20.Jahrhundert erst recht für das Theater gelten. Theater beweist sich zunehmend als Welttheater: international, interkulturell, intermedial, intersozial. Regionale Ausformungen oder gar Nationaltheater im josephinischen Sinn treten in den Hintergrund. In Europa, das sich endlich nicht nur ökonomistisch sondern auch kulturell definieren will, wird der Nationaltheaterbegriff überhaupt obsolet. Das neue, das andere Theater bedeutet die schwimmenden Inseln des Theaterarchipels (Barba), das "dritte Theater" von ehedem ebenso wie die erneuerte "arte giullaresca", ethnoszenische Exotik wie kritisches Volkstheater mit europäischen Wurzeln.(4) Zusätzlich operiert dieses Theater auch verstärkt trennungsaufhebend (zwischen den Genres ebenso wie zwischen Interpret und Zuschauer). Also bedarf es einer veränderten wissenschaftlichen Betrachtungsweise: einer kulturwissenschaftlichen Methodik einerseits und einer adaptierten "analyse des spectacles", einer angepaßten Aufführungsanalyse anderseits. Der von Pavis eingeführte "Reportertyp" des Analysten ist immer mehr gefragt.(5)

Neue kulturwissenschaftliche Methoden müssen somit der trennungsaufhebenden Tendenz des szenischen Kunstwerks entsprechen, um dem innovativen "spectacle vivant" ein adäquates Forschungsinstrument zur Seite zu stellen. Auch wenn vorerst einmal bei der Kontemporaneität begonnen wird, sollte nicht vergessen werden, daß viele der neuen methodischen Ansätze auch in der historischen Theaterforschung wirksam werden und zu aufregenden neuen Erkenntnissen führen können. Theateranthropologie, Theatersemiotik, Ethnoszenologie, in Teilbereichen auch die Kommunikationswissenschaft sorgen für die nötige Interdisziplinarität und unterstreichen neue Schwerpunkte und Forschungsziele. Die Entstehung und Entwicklung so manchen Details des Kulturphänomens Theater gewinnt neue Dimensionen und die gesamte Disziplin eine engagierte Dynamik.

II.

Dem traditionellen Theater, das von der Macht und den Mächtigen affirmativ eingesetzt war, beispielsweise von der Feudalherrschaft, von der Kirche, vom bürgerlichen Hegemoniebestreben, stand wohl schon immer ein "anderes Theater"(6), ein Theater von "unten" gegenüber, das gegen die jeweilige Hegemonie quasi von "außen" auftrat. Daß es darüber seit jeher wenig Information gibt und daß die Quellen darüber spärlich sind, überrascht nicht weiter. Hand in Hand damit geht die mangelnde wissenschaftliche Aufarbeitung. Es nimmt daher nicht Wunder, daß das erste ausführliche Dokument über die Aufführung einer Commedia dell’arte relativ spät datiert ist und eine Vorstellung am Münchner Hof anläßlich einer Hochzeitsfeier beschreibt.(7)

So lange die Commedia-Truppen, das volkstümliche teatro dell’arte ganz allgemein, aber noch nicht "hoffähig" waren - und das trifft wohl auf die meisten zu - wurden sie von Ruzante über das Jahrmarktstheater bis zu Dario Fos "teatro fuori dai teatri" von den jeweiligen Inhabern der Macht offenbar als überaus gefährlich eingestuft wie die permanenten Repressalien verschiedenster Art bis heute beweisen. Es sind verschiedenste dramaturgische Mittel, die die kritischen Inhalte offenbar verschärfend zuspitzten und durch ihren raffinierten Einsatz den Zugriff der Macht verhinderten oder zumindest erschwerten. Allen voran die Mittel der Improvisation (Lazzi - Grammelot z.B. - sind nicht faßbar), aber auch der intelligenten Parodie, der deftigen, oft erotischen oder auch nur sexuell freizügigen Körpersprache, der couragierten Aufmüpfigkeit der Schauspieler ganz allgemein. Politische Unterdrückung und konsequente Verfolgung bis zu totalem Verbot, ja Ausmerzung oder Vertreibung waren die Konsequenz, besonders stringent ablesbar am Schicksal der französischen "forains" zur Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert.

Im 19.Jahrhundert landete der improvisierende "Parode" Nestroy für seine spontanen Anspielungen immer wieder im Gemeindekotter, das Wiener Volkstheater zur Zeit der Reaktion nach 1848 flüchtete in die Verkleidung der Allegorie, um aktuelle Kritik an Politik und Gesellschaft an die nach Freiheit lechzenden Zuschauer zu bringen.(8) In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert mußte die antifaschistische Linke in die Katakomben der Theater der 49 ausweichen: so schrieb etwa Jura Soyfer sein Theater als Mittelstücke von Kabarettprogrammen im Regenbogen oder im ABC (nach 1934). Und Dario Fo riskierte vor allem in den siebziger Jahren neben zahlreichen Prozessen immer wieder kurzfristige Zellenaufenthalte, weil er in seinen Politfarcen Anarchisten aus dem Fenster werfen, Agnelli entführen und Supermercatos plündern ließ. Da nützte ihm manchmal weder die Verwendung von Grammelot noch der karnevalistische Trick der "verkehrten Welt" etwas. Erst als immer wieder die Wahrheit ans Licht kam und die "alternativen Informationen" seiner giullarata bestätigt wurden, sah er sich wenigstens teilweise rehabilitiert.

III.

1997 schließlich hat Dario Fo den Nobelpreis für Literatur erhalten, "weil er - in der Nachfolge der Tradition der mittelalterlichen Giullari - die Mächtigen geißelt und so den Unterdrückten ihre Würde wiedergibt."(9) Wird es da nicht Zeit für die Theaterwissenschaft zu handeln, wo sie doch offensichtlich riskiert, von den großteils in Würde ergrauten Mitgliedern der Schwedischen Akademie links überholt zu werden? Aber nicht nur um aktuelle Inhalte geht es, sondern auch um einen wesentlichen Blickwinkel neuerer Theaterhistorie, der lange Zeit ein toter Winkel gewesen war. Rudolf Münz hat unlängst darauf aufmerksam gemacht, daß die "bemerkenswerte Begründung des Nobelpreis-Komitees auf eine ganz spezifische Seite des Theaters von Dario Fo" verweise, "daß nämliche mittelalterliche Arte giullaresca und renaissanceverbundene Commedia dell’Arte zwei Seiten derselben Medaille darstellen."(10)

Es ist wohl nicht anzunehmen, das man sich in Schweden der ganzen Tragweite dieser Entscheidung für die Theaterwissenschaft bewußt war: da geht es eben um die entsprechende Breite des Theaterbegriffs - vielleicht im Sinne von "spectacle vivant" / das Französische hat einfach mehr Vokabel zur Verfügung - in den verschiedenen commedia-ähnlichen Formen: giullarata, teatro dell’arte, commedia italiana, Hanswurstiade (in die Haupt- und Staatsaktion eingesprengt), Bernardoniade, Théâtre de la Foire, Balagan. Der regionale (hier meist italienische) Aspekt verliert an Bedeutung zugunsten eines europäischen Zusammenhangs, die Länder des Ostens inkludierend. Besonders schlüssig hat Gerda Baumbach den Zusammenhang von westlichen giullari und östlichen Skomorochen hergestellt.(11)

Interessant ist hier nicht nur die von Bachtin herausgestrichene "verkehrte Welt" auf dem Jahrmarkt, somit auch im karnevalistischen Kontext, sondern darüber hinaus die Verkörperung komplementärer Masken in einer Person im Sinne der shakespearschen Narrenweisheit von foul is fair und fair is foul. Die Dämonisierung der Gegensätze hat erst später im "Klassentheater" eingesetzt (ob feudalistisch, bourgeois oder proletarisch), der von Münz zitierte italienische Forscher D’Arco Silvio Avalle hat in Guglielmino nach einem Dokument von 1290 bereits einen Proto-Zanni entdeckt, der die Gegensätze im "sdoppiamento", also in Doppelgängerweise vereinte.(12) In Fos klassenkämpferischer Politfarce kann da ein Padrone durchaus das Gesicht seines Zanni verpaßt bekommen, kann eine modern abgewandelte Arlecchino- oder Truffaldino-Maske mit zwei Gesichtern, dem des Fiat-Arbeiters und dem des Fiat-Bosses Agnelli herumlaufen - in einer Person also, die sich durch Lazzi (z.B. den Einsatz von grammelot) in den einzelnen Szenen differenziert. So geschehen in "Lo sghignazzo della paura" ("Hohn der Angst"). Aber auch sonst lohnt sich eine Wiederbeschäftigung mit Fos kritischem Volkstheater der Blütezeit in den siebziger Jahren, genauer: zwischen 1969 ("Mistero buffo") und 1981 ("Hohn der Angst"). Besonders einer der Spielmanntexte aus "Mistero buffo" (eine der "Obszönen Fabeln", "Das Flattermäuschen" verweist übrigens darauf, daß es auch Texte für Spielfrauen gegeben haben muß (12a)), "Die Geburt des Spielmanns", liest sich wie eine Vorwegnahme des "anderen Theaters", von dem eingangs die Rede war. Der Schauspieler-Autor Fo beschämt hier so manchen Wissenschafter, der - die arte giullaresca ignorierend - sein ganzes akademisches Wissen bemüht, um komplizierte Entstehungsgeschichten der commedia (italiana) zu konstruieren. Auch wenn die tragikomische Volkspassion, die Fo allein und im schwarzen Rollkragenpulli spielt, eine weitgehende Bearbeitung und Adaptation erfahren hat, sie basiert auf mittelalterlichen Texten, die zu den elementaren Vorstufen zählen, die der eigentlichen Geburt des modernen Arlecchino/Harlekin durch italienische Comici dell’arte vorausgegangen sein müssen.(13)

"Harlekin" ist der Genius des Jahrmarkts, des Lebens überhaupt, das dynamische Element. Und so beginnt auch Fos Geschichte vom giullare. "Kommt herbei, ihr Leute, der Spielmann ist da! Ein Spielmann bin ich, der tanzt und springt, der euch zum Lachen bringt und sich lustig macht über eure Herren!" Er macht seine Purzelbäume, seine saltimbanchi, zwischen mythologischem und aktuellem Bewußtsein aus dem karnevalistischen Geist heraus (verkehrte Welt, Demaskierung durch die Maske, alternative Information(14)). Er springt um sein Leben und provoziert so befreiendes Lachen, aber nicht im kathartischen, sondern im kognitiven Sinn.(15)

Fos giullare ist ein Vertreter des "Harlekin-Prinzips", der Harlekin- Sprung (Eccomi, da bin ich!) ist, so Münz, "Ausdruck der Subordination", aber auch "Ausdruck /.../ des Verbindungsmannes zur ‘anderen’ Welt und damit zur Utopie, zur Vision vom ‘Goldenen Zeitalter’".(16) So wird er nicht nur von Fo im Theater zu Ende des Jahrtausends eingesetzt. Man denke auch an Ariane Mnouchkines Produktion von "L’Age d’Or", die mit dem Arlequin-Sprung beginnt, und beachte dann den utopistischen Stückschluß. Abdallah, der maghrebinische Gastarbeiter, der die Züge des Arlequin trägt (wie der Bauunternehmer die des Pantalone) stürzt vom Baugerüst in den Tod.

"Une mort qui, dans l’utopie, provoque la révolte des ouvriers. De toutes parts ils arrivent, et poursuivent les capitalistes, leurs complices et leurs larbins, qui grimpent au mur dans une fuite grotesque... Les voilà accrochés au mur, s’y agrippant comme des cafards. Et le mur devient cible si l’on allait faire un carton sur eux... Vision de rêve."(17)

Es dringt plötzlich Licht durch die Fenster der Cartoucherie, das Licht der konkreten Utopie. Salouha, die Conteuse, kommentiert: Der Tag bricht an...vielleicht beginnt alles neu. Harlekin redivivus - im Einklang mit den Zuschauern.(18)

Das Théâtre du Soleil bedient sich hier der spezifischen Eigenheiten des Harlekin-Theaters, wie Münz sie beschreibt: der besonderen Raum- und Zeitstrukturen, seiner von Verwandlungen (hier in die aktuellen Parallelfiguren) und Verzauberungen geprägten Objekt-Subjekt-Beziehungen, seiner arationalistischen Gestaltungsweise, seiner Sinnlichkeit und Körpernähe (Einheit von "Geist und Bauch"), seiner Einheit auch von Schematismus und Spontaneität - "immer vom Boden der schöpferischen, lebensspendenden Lachkultur aus, selbst dort, wo es ‘ernsthaft’ oder auch ‘melancholisch’ wurde".(19)

Fos "Geburt des Giullare" verweist auf die Ur-Sprünge. "Mistero buffo" insgesamt stellt den Zusammenhang zur Entstehung der Commedia, des "anderen" Theaters, her und verpackt auch gleich die neue Ursprungstheorie in seine aufmüpfige Volkspassion. "Alles fängt dort an, wo man geboren wird", erklärt er im berühmten Interview mit Ermina Artese. Er spielt auf seinen kleinen Geburtsort am Lago Maggiore an, wo man vom Fischfang und vom Schmuggel lebte. "Zwei Methoden, sein Leben zu fristen, die mehr als nur Mut erfordern: man braucht dazu ein gewaltiges Maß an Phantasie. Nur wer genug Phantasie hat, das Gesetz zu brechen, der hat auch genug Phantasie für den Hausgebrauch, wenn es darum geht, sich und seinen Freunden die Zeit zu vertreiben."(20) Die Giullarata, das neue Harlekin-Theater, erwächst aus dem geformten Alltag. Die Gestik aus Rhythmus und Bewegungstempo bei der Arbeit fürs Überleben.

Fo spricht vom Körperlichen: von als Attitüden zusammenzufassenden Bewegungen und Haltungen, die dann auch Tanz, Gesang und Spiel bestimmen. Aus dem Rhythmus des Ruderschlags (Ruderstangen) der "barche de’stciopo" (Jagdboote mit niederer Bordwand) entwickelt sich eines der zahlreichen Arbeitslieder(21) und gleichzeitig die Metrik des Textes.(22) So mag sich die Gestik der Völker in ihrer Vielfalt ausdifferenziert haben: Barba sucht sie unter anderem gemäß seinem Tauschhandel-Prinzip in den intrakulturellen Vorführungen seines "Buches der Tänze"(23), Brook entdeckt sie in "Mahabharata" im Steinbruch von Avignon und, mit einem negativen Vorzeichen, auf seiner Afrika-Safari, wo die Inkongruenz der "Gestik der Völker" schon so manchen Steinwurf auf die am Marktplatz agierenden "multikulturellen" Schauspieler provozierte. Er findet schließlich zur glücklichen Synthese im kleinsten gemeinsamen Nenner des auf neutralen Vokalen gesungenen gemeinsamen Liedes.(24)

IV.

Es sollte nicht schwer sein, im zeitgenössischen Theater im Sinne von "spectacle vivant" nach weiteren Beispielen "anderen Theaters" zu fahnden, die den oben skizzierten "anderen" Zugang erfordern: den anthropologischen, den ethnoszenologischen, den kommunikationswissenschaftlichen (letzteren etwa dann, wenn von "cultural performance" die Rede ist), den soziologischen, den semiologischen. Man könnte auch umgekehrt von anthropologischem, liminoiden (auf der Schwelle zwischen Ritual und Theater), von interkulturellem oder ethnischem, von sozialem oder semiotischem Theater sprechen. Für alles gibt es mehr oder weniger aktuelles Anschauungsmaterial. Das gibt es auch immer wieder in der Theatergeschichte, nur ist es dort mangels neuen wissenschaftlichen Blickwinkels oft einfach übersehen worden. Pradier hat unlängst eine Studie vorgelegt, die im Untertitel die historische Anwendung der Ethnoszenologie auf das "spectacle vivant" in Westeuropa fixiert.(25)

Das Aufregende liegt aber im Haupttitel: La Scène et la fabrique des corps. Was ist gemeint? Die Bühne, der Theaterraum, der Spielraum als Fabrikationsort, als Produktionsstätte der Körper. Und hier ist zweifellos der Zuschauerraum inkludiert: bei allen ethnoszenologischen wie theateranthropologischen Ansätzen geht es nicht nur um das komplexe Beziehungsgeflecht zwischen Ritual - "spectacle" - Theater, sondern auch um den soliden Unterbau dieses Theatralitätsgefüges (das - wie Münz und Pradier mit ihren letzten Arbeiten beweisen - ohne die historiographische Dimension nicht ausreichend fundiert darzustellen wäre) und das auf zwei Säulen ruht: dem Schauspieler und dem Zuschauer: gemeint ist ihr corpus, ihre organicité, ihre Körperlichkeit.(26) Pradier zitiert in diesem Zusammenhang bestätigend Merleau-Ponty, demzufolge "nichts Menschliches ganz und gar unkörperlich sein könne".(27)

Es erscheint vielleicht sinnvoll, Forschungsobjekt und Bearbeitungsmodelle einmal der Reihe nach so komprimiert wie möglich Revue passieren zu lassen. Der geläufigste, da bereits vielfach erprobte methodische Zugang geht davon aus, daß Theater (auch im erweiterten Sinne von "spectacle vivant") als kommunikativer Vorgang zu sehen sei. Schon Anne Ubersfeld hält fest, daß die theatrale "représentation" ein System von verschiedenen Zeichen darstellt, das - zumindest zu großen Teilen - einem Kommunikationsprozeß gleichkommt, weil sie eine komplexe Reihe von Sendern umfaßt, die in enger Verbindung untereinander stehen, weil sie eine Reihe von Botschaften vermittelt, ebenfalls in enger, komplexer Verbindung entsprechend ihrer äußerst präzisen Codes, und einem multiplen Empfänger mitgeteilt wird, der sich allerdings an einem und demselben Ort befindet.(28) Dazu paßt der Ansatz, die Wissenschaft vom Theater (sowie der technisch vermittelten Medien wie Film, Fernsehen und anderer "neuer Medien") als eine Wissenschaft der kulturellen Kommunikation zu sehen. Daher wurde auch mehrfach ein interaktives und dynamisches Kommunikationsschema als mögliches Modell zu seiner Darstellung vorgeschlagen.(29) Damit in Verbindung steht auch die von Ubersfelds Schüler Patrice Pavis vorgenommene Systematisierung der Aufführungsanalyse, die grosso modo zwei Typen der "analyse des spectacles" umfaßt: den "Reporter-Typus" (hinweisend auf Roland Barthes’ punctum) für contemporane und den "Rekonstitutions-Typus" (studium) für historiographische Fixierungen von Aufführungen.(30)

Für eine detaillierte formale wie inhaltliche Analyse sowie eine (kritische) Interpretation als notwendige Schritte zu einer Rekonstitution der Aufführung bedarf es als erste Arbeitsphase einer systematischen Deskription des Forschungsobjekts, des Produkts. Das gilt für die technisch vermittelten Produkte genauso wie für das spectacle vivant. Was für Film und Fernsehen schon längst zum Alltag des Analysten zu zählen ist, nämlich die Herstellung eines genauen Sendungsprotokolls bzw. die Protokollierung einzelner Filmsequenzen(31), ist für die wissenschaftliche Theaterrezeption noch nicht in einem wünschenswerten Ausmaß geübte Praxis. Pavis bietet in seiner "Semiotik der Theaterrezeption" 1988 immerhin schon Überlegungen zu einem Fragebogen für Aufführungsanalysen an.(32) Die Nützlichkeit solcher Ansätze erscheint erwiesen, bieten sie doch zumindest Makrostrukturen, die - entsprechend konnotiert - die zumindest partielle Fixierung der Aufführung ermöglichen. Wichtig dabei ist die konkrete Erfahrung des Zuschauers im jeweiligen Moment der Aufführung, die punktuelle, emotionale wie kognitive Einbeziehung in die Dynamik des Kommunikationsfeldes "Theater".(33)

Die aktuelle Verfügbarkeit des Produkts (der szenischen Repräsentation) macht eine solche "Reportage" erst möglich, unterstützt durch ein Aufführungsprotokoll (bzw. Probenprotokolle). Im Unterschied dazu sei nochmals auf die "analyse-reconstitution" verwiesen, die sich der Rekonstitution post festum annimmt und mit Hilfe des Studiums von historischen Dokumenten der unterschiedlichsten Art eine "Restaurierung" anstrebt (34), die nicht mit der"Rekonstruktions-Methode" Max Herrmanns zu verwechseln ist, aber vielleicht doch dort illusionslos anschließend weiterführen soll.(35) Beispiele von "Aufführungsreportagen" im Sinne von Pavis, oft intrakulturell oder ethnoszenologisch differenziert (Pradier, 1997) finden sich in den letzten zwei Jahrzehnten vielfach in Fachzeitschriften, unter tatkräftiger Unterstützung durch "seriöse" Theaterkritik (etwa Michael Billingtons Auseinandersetzung mit Peter Brooks "Mahabharata" (36)). Dazu zählen auch die kritischen Analysen durch Denis Bablet (u.a.zu Armand Gatti) und Bernard Dort (beispielsweise zu Ariane Mnouchkines "L’Age d’Or" (1975) in "Travail Théâtral" oder durch Michael Kirby in der von ihm edierten NDR (= New Drama Review, die ehemalige Tulane Drama Review, New York).

Die Kontemporaneität von Theater, oder breiter: von spectacle vivant, scheint gekennzeichnet durch eine verstärkte Betonung des Körperlichen und durch eine Unterstreichung des visuellen Elements im Sinne der griechischen Wurzel théa (theaomaj, theatron)(37), ergänzt durch die bei Münz besonders betonte ostentazione, das Zur-Schau-Stellen, ferner auch durch Intrakulturalität, Multimedialität und Intersoziabilität. Zumindest in den Beispielen von innovativer Prägung. Dem sollte Rechnung getragen werden, wie auch dem bereits angesprochenen Paradigmenwechsel von der Asymmetrie hin zur Symmetrie von Theaterspielen und Alltagsleben.(38)

Die Theorie-Gurus des neueren Theaters sind sich im Hinblick auf das Gesagte übrigens keineswegs einig. Spricht Schechner davon, daß Theater dann entstehe, wenn eine Trennung von Darstellern und Zuschauern erfolgt und damit dem Ruf, man müsse das Publikum spalten (den die sonst so verschiedenen Dramatiker Brecht und Gatti fast unisono erschallen lassen), ziemlich nahe kommt, so kontern Grotowski und Barba mit dem Ansatz zur Trennungsaufhebung zwischen Kunst und Leben: sie wollen Schauspielen als Sein und nicht als Darstellen sehen.(39)

Turners Bemerkung, daß Theater affirmativ wie subversiv/emanzipatorisch wirken kann, sollte noch hinzugefügt werden, etwa im Hinblick auf das teatro dell’arte im Sinne von Münzens Studium des "anderen Theaters". Schließlich müßte im Zusammenhang damit auch der Theatralität als Schwellenbegriff wieder neue Bedeutung zukommen. Gemeint ist die Schwelle vom Alltagsleben (Goffmans "Wir alle spielen Theater") zur Künstlichkeit der "tréteaux" des Jahrmarkts, der Bretter, die die Welt bedeuten. Der spektakelhafte Mikrokosmos als schöne neue alte Welt. Für deren Wiederentdeckung bedarf es vielfach veränderter kulturwissenschaftlicher Zugänge - unter Nutzung des gesamten intrakulturellen Spektrums neuer Wissenschaftstechnologie. Und den Mut zum Abenteuer.

© Ulf Birbaumer (Wien)

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Anmerkungen:

(1)  Vgl. u a. Joachim Fiebach: Keine Hoffnung. Keine Verzweiflung. Versuche um Theaterkunst und Theatralität = Berliner Theaterwissenschaft, Band 4. Berlin 1998.

(2) Vgl. Weißbuch. Zur Reform der Kulturpolitik in Österreich. Wien 1999.

(3) Karl Marx/Friedrich Engels: Manifest der Kommunistischen Partei. Leipzig 1989, S.103.

(4) Vgl. Rudolf Münz: Theatralität und Theater.Zur Historiographie von Theatralitätsgefügen. Berlin 1998, bes. S. 279 ff.

(5) Patrice Pavis: L’Analyse des spectacles. Paris 1996, S.11 f.

(6) In die theaterhistorische Begrifflichkeit eingebracht von Rudolf Münz: Das ‘andere’ Theater. Studien über ein deutschsprachiges teatro dell’arte der Lessingzeit. Berlin 1979.

(7) Commedia dell’arte. Eine Bildgeschichte der Kunst des Spektakels, hrsg. von David Esrig. Nördlingen 1985, S. 24 ff.

(8) Vgl. Margret Dietrich: Jupiter in Wien. Wien 1967.

(9) Wiener Zeitung, 5.Dezember 1997.

(10) Münz: Theatralität, S.141.

(11) Vgl. Gerda Baumbach: Seiltänzer und Betrüger? Parodie und kein Ende. Ein Beitrag zu Geschichte und Theorie von Theater. Tübingen und Basel 1995.

(12) Münz: Theatralität, S. 149.

(12a) Dario Fo: Obszöne Fabeln. Mistero Buffo. Szenische Monologe. Berlin 1984, S. 21 ff. (Das Flattermäuschen).

(13) Vgl. Münz: Theatralität, S. 61.

(14)  Vgl.Michail M. Bachtin: Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur. Frankfurt/Main 1990 und Münz: Das ‘andere’ Theater.

(15) Vgl. Franca Rames Anmerkung frei nach Molière zu den "Nägeln der Vernunft", die beim Lachen ins Gehirn eintreten sollen, eine Anmerkung, die sie gerne anbrachte, bevor die Frauenmonologe "Nur Kinder, Küche, Kirche" spielte. Siehe: Franca Rame / Dario Fo: Nur Kinder, Küche, Kirche. Berlin 1982, 4.Aufl., S.107 (aus dem Vorwort der Übersetzerin Renate Häfner zur deutschen Erstausgabe).

(16) Münz: Theatralität, S. 62.

(17) Marie Louise Bablet / Denis Bablet: Le théâtre du soleil ou la quête du bonheur. Paris 1979, S. 87.

(18) Vgl. Simone Seym: Das Théâtre du Soleil. Ariane Mnouchkines Ästhetik des Theaters. Stuttgart 1992, S. 100.

(19) Münz: Theatralität, S.63.

(20) Dario Fo über Dario Fo. Herausgegeben und kommentiert von Hannes Heer, Köln o.J. (1978), S. 21.

(21)  In Italien werden Arbeitslieder oft übergeführt in den Gestus des politischen Lieds, des Partisanenlieds, z.B. Bella Ciao, ursprünglich ein Lied der Reisarbeiterinnen der Po-Ebene.

(22) Dario Fo: Kleines Handbuch des Schauspielers. Frankfurt/Main 1989, S.46 ff.

(23) Eugenio Barba: Jenseits der schwimmenden Inseln. Reflexionen mit dem Odin-Theater. Theorie und Praxis des Freien Theaters. Reinbek bei Hamburg 1985, S 175 ff.

(24) Vgl. Peter Brook o il Teatro necessario. A cura di Franco Quadri. La Biennale di Venezia 1976, S. 62 ff.

(25) Jean-Marie Pradier: La Scène et la fabrique des corps. Ethnoscénologie du spectacle vivant en Occident (Ve siècle av.J.-C. -XVIIIe siècle). Bordeaux 1997.

(26) Vgl. Piergiorgio Giacchè: Lo spettatore partecipante. Contributi per un’ antropologia del teatro. Milano 1991. Ein Kongreß im Oktober 1999 in: Bologna behandelt das Thema "Le corps du théâtre. Organicité - intercultualité - contemporanéité", an dem Pradier, Pavis, Giacchè u.a. teilnehmen.

(27) Jean-Marie Pradier: Ethnoscénologie: La profondeur des émergences. In: La Scène et la Terre. Questions d’ethnoscénologie. Maison des cultures du monde, Paris 1997, S.13.

(28) Anne Ubersfeld: Lire le théâtre, 4e édition, Paris 1982, S.24 f.

(29) Ulf Birbaumer: Theaterwissenschaft als Wissenschaft von der kulturellen Kommunikation. In: Österreichisches Jahrbuch für Kommunikationswissenschaft, I/1979, S.221 ff. Vgl. auch Joachim Fiebach, 1998.

(30) Patrice Pavis: L’ Analyse des spectacles. Paris 1996, S.11 ff.

(31) Vgl. Spielformen im Fernsehen. Medienwissenschaftlicher Ansatz zur Untersuchung von Mikrostrukturen: Exogene Bedingungen - Produktion - Produkt - Perzeption, redigiert von Ulf Birbaumer (= Maske und Kothurn, 18.Jg.(1972)H.4).

(32) Patrice Pavis: Semiotik der Theaterrezeption. Tübingen 1988, S.100 ff.

(33)  Pavis, L’Analyse..., S.11.

(34) Pavis, L’Analyse..., S.12 f.

(35) Vgl. Gerda Baumbachs jüngste Auseinandersetzungen mit Gerngross/Vsevolodskij im Zusammenhang mit den Kontakten der russischen Theaterhistoriographie der Zwanzigerjahre mit Max Herrmanns Ansätzen. Gerda Baumbach: Immer noch Theatralität. In: Rudolf Münz: Theatralität,1998, S.9 ff.

(36) Michael Billington: Un serpent du feu sur le sable. In: Théâtre en Europe, N° 8 (octobre 1985), S.8 ff.

(37) Münz: Theatralität, S.18 (Gerngross) und S.68 f.(Münzens Leipziger Artikel von 1989).

(38) Victor Turner: Theaterspielen im Alltagsleben und Alltagsleben im Theater. In: Der sprechende Körper. Texte zur Theateranthropologie (hrsg. von Walter Pfaff, Erika Keil, Beat Schläpfer). Zürich/Berlin 1996, S.99 ff., bes. S.107.

(39) Über die gegensätzlichen Auffassungen von Schechner und Grotowski in diesem Punkt, siehe Turner: Theaterspielen..., S.105 ff.


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