Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 6. Nr. September 1998

Bazare und Kathedralen -
Paradigmen und Paradigmenwechsel der Softwareentwicklung

Willibald Kraml (Wien)

Ich möchte Ihnen zum Beginn ein paar Schlagzeilen nennen, die in den letzten Monaten durch die Presse und das Internet gingen:

Manche(r) mag sich nun fragen - was haben diese Meldungen mit einer Tagung zum Thema "Kulturwissenschaften" zu tun? Gut, "Kulturwissenschaften und Datenbanken", also ein bißchen spielen Computer und Software schon eine Rolle, aber es geht doch wohl darum, welche Inhalte wir in unsere kulturwissenschaftlichen Datenbanken hineintun! Um die technischen Details oder um die Softwareauswahl sollen sich doch die Informatiker und Computerfreaks kümmern ...

Nun, ich sehe das ein bißchen anders und werde versuchen, Ihnen ein paar meiner Überlegungen näherzubringen.

Zuerst ein paar Thesen:

Ich möchte mich hier nicht auf das Glatteis einer Kulturdiskussion begeben und definieren, was denn Kultur nun sei oder nicht sei; aber überlegen wir doch, welche Rolle Software heute spielt! Kein Berufszweig kommt ohne sie aus, keine Maschine, kein Haus, kein Industrieprodukt wird ohne sie erzeugt und verkauft. Selbst die Verteilung der lebensnotwendigsten Güter (Lebensmittel, Elektrizität, Wasser) ist ohne Softwareunterstützung undenkbar geworden. Naturwissenschaft ohne Software ist undenkbar, und selbst die Geisteswissenschaften sind ohne die Nutzung von Software (Textverarbeitung, Datenbanken, E-Mail, Internet, World Wide Web) kaum mehr vorstellbar. Kunst ist vielleicht noch ohne Software denkbar - aber stimmt das denn? Welches Theater, welche Musikprduktion kommt heute ohne Computer aus? Ist Kunst ohne den Transport durch softwareabhängige Medien wie Radio, TV, Satelliten-TV, möglich? Alle Elemente unserer Globalisierung, das sind primär Transport und Kommunikation, sind abhängig von Software. Sogar der Poet in seinem Stübchen, der seine Gedichte noch mit der Füllfeder zu Papier bringt, ist wahrscheinlich von der Software der Papierfabriken und Schreibwarenhersteller abhängig ... ganz zu schweigen davon, daß er ohne Verlag, Setzerei und Druckerei, und schließlich Auslieferungslager und Buchhandlung (alle wieder abhängig von Software) kaum eine breitere Leserschicht erreichen könnte.

Kann man bei solcher Durchdringung wirklich glauben, daß unsere Kultur ohne Software die gleiche wäre, die sie jetzt ist?

So wie die Dinge aber stehen, oder besser gesagt, von Software abhängig sind (und dies wird uns in weniger als 500 Tagen wohl drastisch vor Augen geführt, wenn am 1. Jänner 2000 auch nur ein relativ kleiner Teil jener Software in einer Art konzertierter Aktion "in den Streik tritt", das heißt, einfach nicht mehr funktionieren wird), wird man wohl schwerlich leugnen können, daß sich Gesellschaft und Wissenschaft um diese Dinge kümmern müssen. Wir können es uns nicht leicht machen und die Schuld ausschließlich der Computerindustrie, den Programmierern und den Informatikern zuweisen. Software ist kein Randproblem - Software ist ein zentrales Problem unserer Gesellschaft geworden, mindestens so aktuell wie Gentechnik und die Drohung des nuklearen Holocaust.

Wir alle verwenden Software. Wir alle wissen, wie schlecht und fehlerhaft diese Software manchmal ist. Wir alle kaufen Software, oder haben zumindest bei der Auswahl ein Wörtchen mitzureden. Nach welchen Kriterien entscheiden wir?

Vielleicht lohnt es sich, einmal zu überlegen, von wem Software gemacht wird, wie Innovation ensteht oder auch verhindert wird, welche Mechanismen in diesem Bereich wirksam sind, Mechanismen der Kreativität, der Macht und des Marktes.
Software ist natürlich zuvorderst eine "Ingenieurskunst". Aber trotz aller Versuche, die man in den letzten Jahrzehnten unternahm, dieselben Standards von "Engineering" auch für Software zu verwirklichen, blieb Softwareerzeugung doch etwas besonderes, etwas, das oftmals außerhalb der Regeln der Ingenieurskunst blieb. Softwarefehler sind Zeugen davon. Wir sind an die hohe Zuverlässigkeit von Brücken, Hochhäusern, Autos und Flugzeugen gewöhnt, so wie wir an die notorische Unzuverlässigkeit von Software gewöhnt sind. Man kann beinahe schon sagen, daß immer dort, wo z.B. Flugzeuge unzuverlässig werden, die Chance hoch ist, daß Software dabei die Hauptursache ist.

Auf ein damit nahe verwandtes Thema, nämlich die Sicherheitsproblematik, die auch meist durch Software, und oft durch fehlerhafte Software, verursacht ist, möchte ich hier gar nicht näher eingehen - ein andere Referent wird uns hier ohnedies viel zu sagen haben.

Ich möchte nun etwas beleuchten, welche Veränderungen wir derzeit in den Paradigmen der Softwareentwicklung beobachten können. Ich habe im Titel meines Referates von Kathedralen und Bazaren gesprochen - sehr mysteriös, vielleicht auch sehr originell, leider stammt diese Metapher nicht von mir. Sie ist der Titel eines Essays von Eric Raymond (http://www.tuxedo.org/~esr/writings/cathedral-bazaar/), das im letzten Jahr unter "Softwarefreaks" am Internet viel diskutiert wurde. Raymond versucht darin zu analysieren, wie es möglich ist, daß in den letzten Jahren Software, die von hunderten, ja beinahe tausenden Entwicklern kollektiv mit den Mitteln des Internet entwickelt wurde, erfolgreich werden konnte, und nicht nur erfolgreich, sondern vergleichsweise auch "besser", d.h. stabiler und weniger fehleranfällig.

Bis vor wenigen Jahren war das "Brooksche Gesetz" unwidersprochen, daß eine Verdoppelung der Zahl der Entwickler die Entwicklungszeit nicht verkürzt und das Produkt nicht besser macht, sondern im Gegenteil die Entwicklung verlangsamt und die Zahl der Fehler erhöht. Brooks war Entwicklungsleiter bei IBM, und er konnte zahlreiche Beispiele dafür erbringen, und die Erfahrungen bei anderen Softwareschmieden schienen dem recht zu geben (je größer Microsoft wurde, je mehr Entwickler sie also für ein Produkt hatten, umso größere Verspätungen gab es bei der Auslieferung neuer Produkte, und umso mehr Fehler enthielten diese Produkte).

Eric Raymond zitiert nun als ein Beispiel für dieses neue Paradigma die Entwicklung von Linux, einem UNIX-ähnlichen Betriebssystem, das frei, mit jeglichem Sourcecode, verfügbar ist, und an dem viele hunderte Programmierer in der einen oder anderen Form beteiligt waren. Normalerweise kostet die Entwicklung eines solchen komplexen Betriebssystems sehr viel Geld - IBM hat die Entwicklungskosten von OS/2 einmal mit 5 Milliarden Dollar beziffert - das sind Größenordnungen, wie bei der Entwicklung eines Großraumflugzeuges. Wie kann man eine Riesenschar von Leuten, die noch dazu kein Geld dafür bekommen, dazu veranlassen, ein Projekt ähnlicher Größenordnung erfolgreich durchzuführen?

Raymonds Schlußfolgerungen sind, etwas verkürzt:

Der Autor vergleicht die herkömmliche Methode der Softwareentwicklung mit dem Bau von Kathedralen: hinter verschlossenen Absperrungen werken eine Handvoll Künstler, bis der Bau vollendet ist und alle Fehler und Probleme (hoffentlich) ausgemerzt sind; erst dann wird das "Volk" eingelassen und darf das Werk bestaunen und benutzen. Das neue Paradigma nennt er die "Bazar-Methode" - das Volk schaut bei der Enstehung zu und kann von Anfang an seinen "Senf dazugeben", kritisieren und Ideen einbringen.

Dieser Aufsatz Eric Raymonds hat das neue Paradigma nicht begründet - es war schon da, und zwar seit etlichen Jahren (das GNU Project der Free Software Foundation ist doch schon etliche Jahre alt und war gewissermaßen auch eine Vorbedingung für den Erfolg von Linux). Aber wie es nun bei Paradigmenwechseln so ist, irgend jemand formuliert und analysiert das neue Paradigma zum ersten mal, und damit tritt, was bisher nur unterschwellig bekannt war, plötzlich in das öffentliche Bewußtsein. So war es auch hier: der genannte Artikel hat die Firma Netscape bewogen, den Sourcecode ihrer nächsten Browsergeneration freizugeben und auf dieses neue Paradigma zu setzen.

Eric Raymond hat dem neuen Paradigma auch einen Namen gegeben, der sich auch durchzusetzen scheint: nicht "freie Software" (wie es im Namen der Free Software Foundation anklingt), sondern "Open Source" (siehe http://www.opensource.org/). Um hier die offizielle Definition zu zitieren:

"Open source promotes software reliability and quality by supporting independent peer review and rapid evolution of source code. "

Eine Reihe von kleinen und großen Softwareprojekten haben die Leistungsfähigkeit dieser Methode bewiesen, und ich nenne hier nur einige der größeren Projekte: neben dem schon erwähnten Linux ist der auch schon genannten Apache Webserver zu nennen, sowie (die schon älteren Produkte) Sendmail und Bind - sendmail ist der am Internet am häufigsten verwendete Mailserver, und Bind das am Internet am meisten verwendete Programm für das Domain Name Service. Die letzten drei Programme sind damit "Category Killers" - sie haben in ihrem Anwendungsbereich alle anderen Konkurrenten, also auch kommerzielle Software, hinter sich gelassen.

Die Frage ist nun: kann dies in anderen Bereichen auch passieren? Ist es denkbar, daß ein Betriebssystem wie Linux das am meisten verwendete Betriebssystem wird? Es gibt Schätzungen, wonach es schon auf Rang 2 sein soll (wenn man alle MS Betriebssysteme auf Rang eins zusammenfaßt) - sicher ist aber, daß die MS Betriebssysteme SEHR weit vorne liegen! Oder ist es denkbar, daß ein "Open Source"-Produkt Microsoft Word verdrängt? Die scheint im Moment noch sehr unrealistisch zu sein. Aber es ist gibt Zeichen, die in diese Richtung deuten.

Da ist zum einen einmal ein Standardisierungstrend, wie er durch das Internet geschaffen und beschleunigt wurde: alle Internet-Protokolle sind schließlich Standards, die herstellerunabhängig sind. Wir konnten beobachten, wie sich diese Standards zuerst auf der Ebene sehr rudimentärer Netzprotokolle etablierten, und sich schließlich auf eine Applikationsebene zubewegten: HTML und das WWW, sowie der MIME-Standard im E-Mail-Bereich zeigen das. Die neuesten Entwicklungen gehen eine Schritt weiter: XML, die Extended Markup Language, ist als Weiterentwicklung von HTML grundsätzlich leistungsfähig genug, um proprietäre Datenspeicherformate wie die von Word oder Powerpoint zu ersetzen. Gerade diese proprietären Formate, die noch dazu zumindet bei jedem zweiten Versionsschritt geändert wurden, haben aber die Dominanz dieser Produkte und damit das Microsoft-Monopol z.B. im Bereich Textverarbeitung zementiert.
Microsoft hat schon angekündigt, daß eine der nächsten Versionen von Word XML als Standardspeicherformat verwenden wird. Wir werden sehen, daß eine ganze Reihe von Programmen anderer Hersteller XML unterstützen werden, darunter auch "Open Source" Software und Software für andere Plattformen als Windows. Damit wird der Zwang wegfallen, aus Kompatibilitätsgründen Word zu verwenden, und damit wiederum fällt der Zwang, Windows zu verwenden, weil Word ja nur darauf läuft... Die Sache ist also nicht ganz chancenlos.

Welche Rolle aber spielt der Wissenschaftsbetrieb, oder anders gefragt, welche sollte er spielen?

Hier muß man leider feststellen, daß in weiten Bereichen das Diktat des Monopols ohne Murren angenommen wird. Vielleicht ist dies bequem, auch wenn man sich immer wieder über Abstürze und sonstige Ungereimtheiten ärgert.

Dies muß allerdings nicht immer so sein. Ist es wirklich Zufall, daß das World Wide Web von Time Berners-Lee, einem Kernphysiker, erfunden wurde und nicht von einer großen Softwarefirma wie IBM oder Microsoft oder einem Medien- und Unterhaltungskonzern wie Warner oder Disney? Ist es nicht öfter denkbar, daß gerade im Wissenschaftsbereich zukünftige Bedürfnisse klarer erkannt werden als von der Industrie? Sehr oft werden die Bedürfnisse zwar gesehen, seltener schon werden sie formuliert, und nur ganz selten führen sie zu konsequenter Umsetzung. Man könnte einwenden, daß ein armer Wissenschafter doch kein Programmierer sei und er oder sie daher gar nicht in der Lage, sich selber zu helfen oder wenigstens einen Prototypen zu entwickeln (und viel mehr war Berners-Lee's Programm ja auch nicht). Aber warum ist das so? Ist in einer Zeit, in der, wie wir gesehen haben, alles im täglichen Leben von Software abhängt, es tatsächlich vermessen zu verlangen, daß ein Wissenschafter auch programmieren kann und zumindest die Grundbegriffe dieser Disziplin beherrscht? Autofahren, zumindest das Sprechen einer Fremdsprache und einiges andere wird fraglos akzeptiert - warum dann die Hemmschwelle angesichts der Informatik?

Ich glaube, daß eine etwas breitere Basis von Informatikkenntnissen im Bereich gerade auch der Kulturwissenschaften, zusammen mit dem neuen Paradigma einer Softwareentwicklung in offener Diskussion zwischen vielen AnwenderInnen und EntwicklerInnen, eine ungeheure Dynamik entwickeln könnte. Vor 15 Jahren waren wir froh, wenn wir GeisteswissenschafterInnen dazu animieren konnten, BenutzerInnen zu werden - dies reicht nun, so meine ich, längst nicht mehr. Warum gibt es interdisziplinäre Studiengänge im Wirtschaftsbereich (Betriebs- und Wirtschaftsinformatik), nicht aber in den Kulturwissenschaften, wenn man von Ansätzen in Randbereichen wie etwa der Computerlinguistik einmal absieht? Ist es für die hehre Wissenschaft unwürdig, sich in die Niederungen der Technik zu begeben?

In diesem Zusammenhang nenne ich gerne den Namen eines großen Humanisten, des Begründers der klassischen Philologie, den Namen des Venezianers Aldo Manuzio oder Aldus Manutius, wie er sich latinisiert nannte. Voller Begeisterung übernahm er die damals neue und revolutionäre Technik des Buchdrucks, die Gutenberg erfunden hatte, wurde damit zum Begründer des Verlagswesens, und benutzte die neue Technologie dafür, um kritische Werkausgaben der antiken lateinischen Dichter zu produzieren und einem für damalige Verhältnisse massenhaften Publikum nahezubringen. Ihm war die "schwarze Kunst" nicht zu schmutzig, er sah das Potential eines neuen Mediums, und er benutzte es, um der Wissenschaft völlig neue Bereiche zu erschließen.

Genau darum geht es auch heute: neue Paradigmen auch in den Kulturwissenschaften zu schaffen. So wie etwa ein nationaler Literaturwissenschaftsbegriff heute überholt ist, so scheinen mir auch enggefaßte Wissenschaftsdisziplinen überholt. Wir brauchen ein Curriculum, das Informatik, Informationswissenschaften und geisteswissenschaftliche Disziplinen vereint. Es muß nicht eigens betont werden, daß man damit auch wieder leichteren Anschluß an die "reale" Welt der Wirtschaft und Technik gewinnen könnte. Alle, ausnahmslos alle, großen multinationalen Konzerne haben Projekte zum Thema "Knowledge Management" laufen. Und viele dieser Projekte laufen schief, weil sie allzuoft nur vom technischen Aspekt geprägt sind. Glaubt wirklich jemand, daß multidisziplinär ausgebildete KulturwissenschafterInnen dort nicht höchst begehrt wären? Dies  möchte ich Ihnen zu bedenken geben; im Rahmen dieser wahrlich mutidisziplinären Tagung können und sollen wir darüber nachdenken und diskutieren und, wenn möglich, weitere Impulse geben, sowohl innerhalb unserer Disziplinen, aber auch außerhalb, und gerade auch in Richtung jener Kulturpolitiker, deren Horizont über den Termin der nächsten Wahlen hinausgeht.

Zum Abschluß meines Referates möchte ich Ihnen noch ein kleines Gedicht nahebringen, welches ich am Internet auf einer sogenannten "Hacker-Site" (Cult of the Dead Cow http://www.cultdeadcow.com/) gefunden habe (einem Ort, wo man eher nicht mit Lyrik rechnet); der im Gedicht beschriebene "Schmerz" ist wohl eine der Hauptursachen für das ständige Wachstum der "Open Source" – Gemeinschaft. Kommt er Ihnen nicht auch bekannt vor?

Essence

Throughout these ages
our operating systems
infested by bugs

The ignorant world
turns to Windows for safety
Safety from themselves

It is now the time
for the world to realize
that we all feel pain

© Willibald Kraml (Wien)

home.gif (2030 Byte)buinst.gif (1751 Byte)        Inhalt: Nr. 6


Nachwort

Nur kurze Zeit nach der Tagung in Debrecen, anläßlich derer dieses Referat gehalten wurde, machten aufsehenerregende Dokumente im Internet die Runde (sie wurden aufgrund des Veröffentlichungsdatums "Halloween Dcouments" genannt, obwohl sie eigentlich schon aus dem August 1998 stammen): interne Dokumente der Firma Microsoft, welche anscheinend durch eine Indiskretion an die Öffentlichkeit gelangten, und in welchen auf die Gefahren eingegangen wird, die Microsoft seitens der "Open Source"-Software drohen. Der Hauptteil dieser Dokumente ist Linux gewidmet. Die Authentizität dieser Dokumente wurde von Microsoft bestätigt. Die Dokumente sowie diverse Kommentare (auch Übersetzungen in verschiedene Sprachen) findet man unter http://www.opensource.org/halloween.html.


Webmeisterin: Angelika Czipin
last change 25.11.1999