Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 6. Nr. September 1998

Hypertext im Diskurs

Kritische Ergänzungen zur Diskussion um das Genre literarischer Hypertexte
und zur Art und Weise, in der sie ihren Gegenstand formt

Philipp Löser (Göttingen)

Auch wenn im Bereich der Philologien Computer und Internet zunehmend an Bedeutung gewinnen, läßt sich wahrlich nicht von einem Siegeszug sprechen. Der traditionell euphorischen Einschätzung aller Computerbelange durch die Internetgemeinde steht auf Philologenseite nach wie vor oftmals eine instinktive Abwehrhaltung gegenüber. Zwar erkennt man die Vorteile großer Datenbanken, doch die Kommunikationsmodi, die durch globale Computervernetzung ermöglicht werden, ob es sich nun um Websites, e-mail oder Publikationsmöglichkeiten handelt, finden nur zögerlich Akzeptanz. Zumal in der älteren Philologengeneration läßt sich beobachten, daß der Umgang mit dem Computer, wenn überhaupt, dann häufig aus wissenschaftspolitischen Erwägungen und Anpassungsbestrebungen, weniger aus Interesse an der Sache heraus gefördert wird. Daß die Akzeptanzwerte für neue Technologien statistisch auch mit dem Alter korrelieren, ist nicht weiter bedenklich; ist man jedoch als Nachwuchswissenschaftler im Zusammenhang der Konferenz in Debrecen vor die Aufgabe gestellt, etwas zu Strukturen und Kommunikationsangeboten des Internet zu sagen, muß man sich fragen, welche Schlüsselkompetenzen man vor dem Hintergrund der eigenen Ausbildung überhaupt in die Diskussion einbringen kann.

Das auf dem Bildungsweg vermittelte exklusive Interesse am literarischen Text im Medium Buch, gepaart mit elaborierten Methoden, die ästhetischen, mimetischen und argumentativen Potentiale sprachlicher Strukturen freizulegen, lenkt die Aufmerksamkeit zunächst nur auf das Genre literarischer Hypertexte. Dieser zugegeben randständige Untersuchungsgegenstand fordert einerseits Kompetenz bei der Textanalyse und bietet andererseits die Chance, den Werkzeugkasten des Philologen mit Blick auf computertechnologische Neuerungen der Textproduktion zu erweitern. Sein Wert als Analogon zum Internet steht allerdings dahin, und jede Übertragung von Erkenntnissen zu Hypertexten auf die Gesamtheit computertechnischer Kommunikationsformen müßte zweifellos über weite Strecken ungedeckt bleiben. Dennoch kann es nicht schaden, den folgenden Text über literarische Hypertexte auch einmal so zu lesen, als seien die Strukturen des Internets insgeheim immer mitgemeint.

In meiner Auseinandersetzung mit dem Genre Hypertext bin ich vordringlich an einer Kritik der gängigen Diskurse über literarische Hypertexte interessiert. Der "Hype"(1) zum Hypertext, also enthusiastische Elogen und Programmatiken, soll gegen das Spektrum bereits realisierter Nutzungsmöglichkeiten abgegrenzt werden. Es geht um die Diskrepanz zwischen den Funktionen, die das Verfassen literarischer Hypertexte als kulturelle Praxis hat, und den Diskursen und Denkgewohnheiten, die für sich reklamieren, Bestimmung und Wesen von Hypertext erklären zu können. Diese Diskurse und Denkgewohnheiten manifestieren sich zuerst überaus direkt in den Hypertexten selbst, denn es ist ein Charakteristikum des Genres, daß es seine metafiktionale Thematisierung gleich mitliefert. Hypertexte sind fast immer auch selbstreferentiell angelegt, d.h. sie thematisieren streckenweise die eigene Genese, problematisieren ihre Relevanz, prognostizieren den rezeptionsseitigen Leseprozeß usw. Damit schließen sie einerseits poetologisch an Paradigmen der literarischen Postmoderne an. Von Italo Calvino bis Thomas Pynchon, von Thomas Bernhard bis Donald Barthelme reicht die Liste selbstreflexiver Autoren im Medium Buch, deren Einfluß auf Hypertexte hier und da nur zu deutlich auszumachen ist. Andererseits gründet die Selbstreferentialität auch in der Sache, denn die Möglichkeit, literarisches Schreiben und Computertechnologie synthesehaft zusammenzubringen, ist so neu, daß sie als kulturelle Praxis, markttechnisch und institutionell erst einmal verankert werden muß. Bei diesem Prozeß ergeben sich fast zwangsläufig zirkuläre Strukturen, die den Autor auf Probleme des Mediums zurückwerfen, den Text zur Rechtfertigung seiner selbst werden lassen, institutionell die Instanzen von Rezipient und Produzent zusammenschließen oder rezeptionsseitig den Leser zur Metareflexion über Strukturen statt über Inhalte des Textes drängen. Der letzte Fall läßt sich durch ein Selbstexperiment leicht veranschaulichen. Wenn man noch kein geübter Hypertextleser ist - und wer könnte das von sich behaupten? -, erlebt man als dominierende Lektüreerfahrung stets ein Gefühl der Desorientierung im Text. Im Bemühen, bei der Lektüre Halt zu finden, und das heißt insbesondere: im Bemühen, die eigenen Erwartungshaltungen an den Text anzupassen, horcht man als Leser bald unwillkürlich gerade an denjenigen Stellen auf, die sich poetologischer Reflexion widmen. Umgekehrt ist auch den Texten und den Autoren meist deutlich anzumerken, daß sie im Bewußtsein, auf unbekanntem Territorium zu agieren, weitgehend im Gefühl des "exploring hypertext" aufgehen und entsprechend disponiert sind, gedanklich um ihr Medium zu kreisen. Zumindest im amerikanischen Rahmen fällt zudem auf, daß die Entwickler von Hypertextsoftware und die Theoretiker und Praktiker der Hypertextschreibweisen oft personell ineins fallen. Nicht von ungefähr gehen dann die Aspekte der Programmierung, der kultur- und medientheoretischen Reflexion und der literarischen Produktion fließend ineinander über. So zeichnet der Autor Michael Joyce auch als Mitentwickler der Hypertext-Entwicklungssoftware Storyspace verantwortlich, Mark Amerika kommentiert sein Grammatron-Projekt selbst, Stuart Moulthrop, allgemein angesehener Autor des Hypertextes Victory Garden(2), ist Professor an der School of Communications Design, University of Baltimore, usw. Insbesondere ist auch auf die Firma Eastgate Systems zu verweisen, deren äußerst produktiver Insider-Zirkel an anderer Stelle von Thomas Swiss genau analysiert worden ist.(3)

Fragt man nun nach der Differenz zwischen "Hype" in Form von metafiktionalen, essayistischen und ggf. auch programmiertechnischen Kommentaren zum Medium Hypertext und realisierten Nutzungen, dann fällt zunächst ins Auge, daß Hypertext wie auch andere neue Medien immer wieder zum Projektionsraum für Utopien und Antiutopien gemacht wird. Dieser Mechanismus ist nicht weiter verwunderlich, begünstigt die enge Nachbarschaft von Utopos und unbekanntem Terrain doch derlei Gedankensprünge. Im einzelnen sehe ich drei Komplexe. Die politische Utopie von der basisdemokratischen Ausrichtung des Internets, die in der Partizipation des Konsumenten am Produktionsprozeß die Einlösung der Hoffnungen auf letztgültige Egalität innerhalb der Gesellschaft sieht, findet auch im Rahmen der Hypertextdebatte ihre Entsprechung: Michael Joyces bekannte Unterscheidung zwischen erkundenden ("explorativen") und konstruktiven Hypertexten(4) macht mit dem zweiten Fall, dem des offenen, von allen Lesern erweiterbaren Textes, die Hoffnung auf eine Literatur deutlich, die Klassen-, Geschlechts-, Bildungsgegensätze usw. aufhebt. Zweitens ist die Hypertext-Gemeinde immer bestrebt gewesen, eine semiotische Utopie an das Genre anzuschließen. Die Dekonstruktion soll im vielschichtig verwobenen Text zu sich selbst kommen; es wird eine neue Qualität von Zeichenbewegungen behauptet, die vom Zeichenbenutzer nicht zum Abschluß gebracht werden kann, sondern notwendig offen bleibt: Jede Fixierung von Sinn werde gleich wieder subvertiert. Schließlich wird die neue Technologie des Hypertextes für eine geistesgeschichtliche Utopie vereinnahmt. In einem mediendeterministischen Diskurs, der seine Vordenker in Walter Ong, Marshall McLuhan und anderen hat, wird das Paradigma des westlichen, aufklärerischen Denkens (etwa mit den Grundlinien Individualisierung, Zweckrationalität, Kapitalismus, Nationalismus und Industrialisierung) ursächlich auf das Medium Buch zurückgeführt; die Ablösung des Buchdrucks als Leitmedium soll dann von einem Terror des gedruckten Wortes, von den ganzen Unbilden einer "Gutenberg-Galaxis", befreien.

Nun ist einzuräumen, daß derlei Idealisierungen mittlerweile durchaus gesehen und kritisiert werden.(5) Man weiß: Hypertextstrukturen bis hin zum Internet bringen neue Hierarchien hervor, auch komplexe Sinnstrukturen lassen sich dogmatisch vereinnahmen. Schließlich setzt sich die Einsicht der Soziologie durch, daß die Nutzung eines Mediums durchaus nicht von seiner Beschaffenheit determiniert sein muß. Eine kritische Problematisierung dessen, welche Vorstrukturierungen historischer Wahrnehmung die empirisch existierenden Hypertexte zu leisten imstande sind, welche Varianten eines westlichen "Repräsentationsystems", um mit Stephen Greenblatt zu sprechen,(6) sich im Rahmen der Computertechnologie neu formieren und welche Inhalte dabei unbemerkt im Sinne einer unhinterfragten Basismetaphorik mittransportiert werden, bleibt dagegen noch weitgehend zu leisten. Einige Bausteine dafür möchte ich hier zusammentragen.

1. Der Autor als Techniker und die Programmierung des Lesers

Zunächst fällt auf, daß der Aspekt der technologischen Kompetenz und Ausstattung eine ganz wesentliche Rolle spielt. Während sich alle anderen Massenmedien, etwa Zeitungen oder Film, arbeitsteilig ausdifferenziert haben, weisen allein die Hypertexter dem Autor sowohl die Rolle des Technikers (Computerprogrammierers) als auch die des Künstlers (Literaten) zu. Daß es äußerst schwierig ist, beide Pole zu synthetisieren, versteht sich von selbst. Der Literat wird jedenfalls dadurch belastet, daß er Geld und Energie in den Erwerb technischer Fähigkeiten investieren muß. Der unabdingbare naturwissenschaftlich-abstrakte Sinn für die Ästhetik von Algorithmen und eleganten Graphik- oder Programmierlösungen steht zudem in Gegensatz zu den an Erfahrung und historisch gewachsener Sprache (oder plakativer formuliert: an Liebe, Tod und sozialen Problemen) orientierten Bemühungen des Prosaautors. Um sich den Unterschied deutlich vor Augen zu führen, vergleiche man nur die gestylte WebSite eines Stuart Moulthrop(7) als Selbstdarstellung des Dichters mit dem Ambiente einer herkömmlichen Poetikvorlesung. An die Stelle pragmatischer Arbeitsteilung tritt das Dogma von der Kooperation Gleichberechtigter. "Egalitarian, open-access principles" werden gepflegt und zwingen dazu, literarische Standards zugunsten der Selbstverwirklichung auch des Dilettanten fallenzulassen. Carolyn Guyer schreibt von ihren Erfahrungen mit einem im Internet zur Veränderung freigegebenen Hypertext:

This addition to my own writing was not very good. I was annoyed, first with the writing which was not very good, and then even more intensely with myself for seeming to betray my own egalitarian, open-access principles. I felt guilty, as if I had caught myself in a racist thought.(8)

Guyer akzeptiert schließlich die angesprochene Fortschreibung ihres Hypertextes von dritter Seite, obwohl diese sehr weit von ihren eigenen Standards als Autorin entfernt ist. Sie ordnet damit ein zentrales Charakteristikum literarischer Texte, nämlich den zugrunde liegenden Formwillen, einer vagen Vorstellung von demokratischen Strukturen unter. Offen bleibt dabei, ob ein literarischer Qualitätsverlust, der dank solcher Verhaltensweisen und Prioritätssetzungen zweifellos eintritt, auf Dauer durch den basisdemokratischen Gestus aufgewogen werden kann.

Doch zurück zur technologischen Komponente. Häufig wird behauptet, der Leser sei im Umgang mit dem Text im Computer besonders frei. Doch bei Licht betrachtet bewirkt die Technik-Komponente das genaue Gegenteil. Sie gibt nämlich dem Hypertextautor die Handhabe, den Leser zum Objekt zu machen. Und zwar in folgendem Sinne: Während gewöhnlichen literarischen Texten eine Vorstellung von ihrem intendierten Leser eingeschrieben ist, die der empirische Leser zumindest theoretisch haarklein rekonstruieren kann und damit sein Verhältnis zum Text recht genau zu bestimmen in der Lage ist, arbeiten Hypertexte mit Hintergrundprogrammierungen, die dem Leser unsichtbar bleiben. Kleine Programmeinheiten, Skripte und Leitsysteme bestimmen den Gang der Lektüre mit, wobei der Leser nur aufgrund unzuverlässiger Indizienschlüsse mutmaßen kann, in was für eine Rolle er vom Text manövriert wird.(9) Er wandelt sich vom Mitarbeiter am Textsinn zum Konsumenten und Objekt des Textes. Die erwähnte Hintergrundprogrammierung ist dabei vor allem den aleatorischen und auf Homologien mit mathematischer Formelsprache und mit Zahlenverhältnissen ausgerichteten Verfahren des Dada oder der Oulipo-Gruppe in Frankreich verwandt, mit eben dem Unterschied, daß sie keinen Niederschlag in der äußeren Textgestalt finden.

2. Geschichtslosigkeit am Computer

Die Arbeit am Computer ist in verschiedenen Hinsichten von einem Gefühl der Zeitlosigkeit geprägt. Daten, die der Benutzer aufruft, gelangen von irgendwoher auf den "screen as presence" und verschwinden danach in den unergründlichen Speichermedien von Internet und lokalen Netzwerken. Zeitachsenmanipulationen aller möglichen Abläufe sind in diesem Zusammenhang problemlos in einem Ausmaß möglich, das dem Benutzer eine distanzierte Analyse kaum mehr erlaubt. Vorgeschichte und nachfolgende Ereignisse etwa einer Computeranimation sind mit Erfahrungswissen über Abläufe in der Realität nicht zu prognostizieren. Angesichts einer überwältigenden Trickkiste ist damit der einzig verläßliche Eindruck, von dem der Nutzer ausgehen kann, eben gerade das, was er je gegenwärtig sieht.

Solche Gegenwartsfixierung setzt sich leider ohne Not auch auf der Ebene der Reflexion des Mediums fort. Bereits in anderen Zusammenhängen erreichte Diskussionsstände gehen verloren bzw. werden nicht zur Kenntnis genommen; bestimmte Debatten werden von der Internet-Gemeinde wieder und wieder mühselig zum immer gleichen Ergebnis geführt, und auch die häufig mangelhafte Datierung wissenschaftlicher Aufsätze im Internet trägt dazu bei, daß sich am Computer kaum in den Kategorien von Genese, Entwicklung und Traditionsbindung denken läßt. Beispielsweise wäre es den selbstreferentiellen Debatten im Internet sicher dienlich, mehr als bisher auf vergleichbare Szenarien in der Mediengeschichte zu schauen. Die ausgedehnte Pamphletkultur im angelsächsischen Raum des 18. und 19. Jahrhunderts verdient als basisdemokratische Mediennutzung sicher ebenso mehr Aufmerksamkeit wie die Rivalität von Zeitungen und Film im 20. Jahrhundert - wo ja streckenweise davon ausgegangen wurde, daß die Wochenschau die Zeitung über kurz oder lang verdrängen würde, so, wie jetzt Hypertext das Buch verdrängen soll.

Ein unbestimmtes Schweben im Zeitlosen wird bisweilen um positivistische Musealisierungen, also um bloße Sammlungen ohne Deutungsanspruch, ergänzt. Man mag die Vergangenheit zwar nicht aufgeben, doch man eignet sie sich nicht mehr an, sie erhält in der Gegenwart keinen Sinn. Uncle Buddy's Phantom Funhouse von John McDaid (Eastgate Systems) etwa ist ein Hypertext, der dem Leser den Nachlaß einer fiktiven Figur überantwortet - einen Haufen Zeug, Artikel, Plattenbesprechungen, e-mails usw., die sich doch zu keinem interessanten Gesamtbild zusammenfügen mögen - "a kind of self-indulgent college-daze nostalgia", wie Robert Coover in seiner Besprechung in der New York Times Book Review vom 29.8.1993 treffend bemerkt.

Anders und doch ähnlich liegt der Fall bei CD-ROMs, die einen literarischen Text mittels Hypertextstrukturen um seine Entstehungsgeschichte zu bereichern vorgeben. Die Materialien, die auf Voyager-CDs zu Art Spiegelmans Mouse oder zu Michael Crichtons Jurassic Park zusätzlich einzusehen sind - Interviews mit Spiegelmans Vater, Skizzen und Entwürfen zum Comic, bei Crichton "sounds and images that helped inspire his writing"(10), unterscheiden sich grundlegend von dem, worauf der Philologe im Archiv an Handschriften trifft.

Wo die Handschriftenkritik die Genese eines Textes als Ringen des Autors um Ausdruck beschreibt, sind hypertextuell zugänglich gemachte Daten immer schon Selbststilisierungen der Autoren, die nicht notwendig Relevantes über den Entstehungsprozeß aussagen und ebensogut von strategischen Auslassungen geprägt sein können. Wieder tritt der Literat in ein sekundäres Verhältnis zu seinem Text (diesmal nicht als Computerspezialist, sondern als Nachlaßverwalter und Interpret des eigenen Schreibprozesses), und wieder führt dies dazu, daß die Fiktion einer umfassenderen Freiheit des Lesers erzeugt wird, während tatsächlich der kritische Zugriff des Lesers auf den Text auch eingeschränkt wird.

3. Die Suche nach Ganzheitlichkeit als Abkehr von der Erfahrungswirklichkeit

Die Poetologie der Hypertexte ist allgemein von einem großen Projekt der Verschmelzung von menschlichem Bewußtsein und Natur geprägt. Künstlerische Produktion soll mit dem Naturhaften konvergieren; das Bewußtsein und der partikulare Sinn, den es stets erzeugt, werden programmatisch zugunsten einer Einschreibung in universale Weltzusammenhänge zurückgewiesen. Schon in Lexikonromanen - das sind Vorläufer von Hypertexten, die den Leser mit Hilfe von Verweisstrukturen auf eine Reise quer durch den Buchtext schicken - findet sich die Fiktion vom Text als Teil der Welt. Am offensichtlichsten ist das im Lexikon-Roman des Österreichers Okopenko, in dessen einleitender »Gebrauchsanweisung« über die Textanlage zu lesen ist: "Das ist Welt. In vorgeschriebener Reihenfolge vorgeschriebene Blicke zu werfen, ist hingegen klassische Lektüre [...] Ich will Sie – versuchen wir es einmal – aus der Lektüre in die Welt befreien."(11) Borges Erzählung "Der Garten der Pfade, die sich verzweigen" hat zumindest ein vergleichbares Projekt zum Gegenstand. Das gleichnamige Buch des Ts’ui Pên will in seinem Chaos "ein zwar unvollständiges, aber kein falsches Bild des Weltganzen" geben.(12) George Perec, ein Mitglied der französischen Oulipo-Gruppe, erhebt schon im Titel seines Romans Das Leben: Eine Gebrauchsanweisung Anspruch auf eben eine solche Totalität. Nur leicht verfremdet trifft dies auch auf Cortázars Rayuela: Himmel und Hölle und Gerold Späths Commedia (der Topos des "Lebens als Komödie" wird aufgerufen) zu. Auch der genuine Hypertext Afternoon von Michael Joyce verzichtet nicht auf Gesten der Welthaltigkeit. Das icon der Geschichte, also das Bildchen, von dem das Programm auf dem Bildschirm repräsentiert wird und das man zum Programmstart anklicken muß, zeigt kaum verhüllt mit schwarzem Dreieck, Hüftschwung und Beinandeutung den Genitalbereich einer Frau. Zusammengenommen mit den für Hypertexte üblichen Raum- und Reisemetaphern wird somit der Gang des Lesers durch den "Afternoon", der am icon beginnt und endet, wahlweise zum Zeugungsakt oder zur Geburt.(13)

Der Unwille, sich mit politisch relevanten Aspekten auseinanderzusetzen, gepaart mit der kosmologisch-apolitischen Attitüde, auf die Unschuld des Fluiden, Ganzheitlichen zu setzen, findet sich allenthalben in Äußerungen über Hypertext. Michael Joyce hat beispielsweise folgendermaßen umschrieben, wie unangenehm ihm die Reflexion über kulturell relevante Kräfte und Sachverhalte ist:

For twenty years or more my definition of culture has been "the experience of living in a place over time." Culture is. Experience. Living. Place. Time. "Which aspect of the hypertext revolution promises to have the *least* cultural significance in the long term?" Probably the ones we love best, since we love the ephemeral. [...] Which aspect promises to have the most cultural significance in the long term? The one I like least, because like most people (or at least you and me) I like things the way they are (not going to stay).(14)

Solche Elogen auf das Vorübergehende und Ungreifbare wissen sich in Einklang mit gegenwärtiger Kognitionsforschung, die von fluiden Konzepten, fuzzy logic und unscharfen Übergängen bei Gehirnprozessen berichtet.(15) Sie zeigen aber auch, daß das Medium Hypertext gegenwärtig in großem Stil für eine unpolitische Literatur vereinnahmt wird, der soziale Problematiken entgehen und die keinen Sinn für interkulturelle Prozesse entwickelt. Anders als die biologische Maschine Gehirn und anders vielleicht auch als religiöse Asketen kann aber der Computerliterat und -nutzer nicht für sich reklamieren, tatsächlich den Rückzug aus politischen und kulturellen Prozessen anzutreten und in der Hypostasierung der Rede vom Tod des Autors in einer organischen Zeichenwelt aufzugehen. Die Mediennutzung befindet sich nur vorgeblich in Übereinstimmung mit den Grundprinzipien des Mediums. Der Computertext mag den Autor als Textinstanz in den Hintergrund treten lassen, er mag den Körper, dazu Rassen-, Geschlechts- und Sprachzugehörigkeiten ausblenden und insofern für verschwindend wenige sozial und kulturell relevante Distinktionsmöglichkeiten durchlässig sein. Doch damit ist nur ins Unverbindliche nivelliert, was in der Erfahrungswirklichkeit von größter Bedeutung bleibt. Konflikte mögen im Internet und in Hypertexten und im nächsten Schritt in den Köpfen einzelner vor ihren Bildschirmen stillgestellt sein. Daß sie produktiv verhandelt oder gar im Sinne einer Verschmelzung mit der Welt und dem Sein aufgehoben würden, vermag ich an den mir bekannten Computerkommunikationen nicht zu erkennen.

Als Illustration für den Fiktionsbruch, dem jede Vorstellung von Gleichheit im Internet über kurz oder lang zum Opfer fällt, kann eine Episode aus der Geschichte der Computerkriminalität dienen. Ein bekanntes Buch zur amerikanischen Hacker-Szene berichtet davon, daß sich eben diese verschworene Gemeinschaft Anfang der 1990er Jahre urplötzlich in rivalisierende Lager spaltete, als ruchbar wurde, daß die einen New Yorker "nigger", die anderen texanische Rassisten waren.(16) Die Gleichheit in den Netzen hatte schon damals selbst unter Computerfreaks keine Chance gegenüber den rauhen Konfliktszenarien der Realität. Derartige Beispiele sollten als Warnung vor der Tendenz dienen, eine unverbindlich-ganzheitliche Anlage des Mediums noch aktiv durch entsprechende Schreibweisen zu verstärken. Die Welt- und Sinnenferne des Mediums kann in keinem Fall Schutz vor politischen und kulturellen Konfliktlagen bieten; ein produktiver Einsatz von Hypertext in solchen Kontexten aber wäre erst noch zu erproben.

4. Die stillgestellte Imaginationskraft des Lesers

Wie bereits ausgeführt, wird der Leser von Hypertexten in höherem Maße zum Objekt von Manipulationen, als dies bei gedruckten Texten möglich ist. Außerdem wird er viel nachhaltiger als von irgendeinem anderen Medium aus seinen sozialen, kulturellen und selbst physischen Bindungen zur Erfahrungswirklichkeit herausgelöst. Dennoch verweisen Hypertextanalytiker immer wieder mit großem Fleiß darauf, daß Hypertexte im Sinne Roland Barthes "writerly" Texte seien, also dem Leser große Freiräume lassen würden. Insbesondere wird das Kriterium der "Nichtlinearität" ins Feld geführt als Ausweis dafür, daß der Terror bestimmter Ordnungsprinzipien des Buches mit dem Computerzeitalter endlich sein Ende finde. Meiner Meinung nach liegt hier ein Denkfehler, genauer: ein Kategorienfehler, vor, insofern nämlich die Qualität der Linearität eines Textes den Rezeptionsakt in keiner Hinsicht entscheidend beeinflussen muß. Die Einsicht, daß die Lektüre eines Textes zu jedem Zeitpunkt Antizipationen und Retrospektionen einschließt, daß zudem im Abgleich mit dem Vorwissen des Lesers bei der Lektüre stets ganze Paradigmen von Sinnangeboten aufgerufen werden, gehört spätestens seit Wolfgang Iser zum Grundbestand der Rezeptionstheorie und ist auch im Zusammenhang mit Computerliteratur schon bedacht worden. Der kanadische Literaturwissenschaftler David S. Miall etwa weist genau darauf hin, daß "the view that reading a literary text in book form imposes linearization [...] is an oversimplification of a highly complex process."(17)

Daß die beklagte Vereinfachung auch ihre historischen Wurzeln hat, steht auf einem anderen Blatt. Die entscheidenden Qualitäten von Literatur sind mal im Medium Schrift (etwa: bei Lessing im Laokoon), mal in der kognitiven Aktivität des Rezipienten (etwa in der Rezeptionstheorie, aber auch schon in Herders Replik auf den Laokoon) und mal in den intertextuellen Beziehungen des literarischen Textes (Dekonstruktion) gesucht worden. Entsprechend bildeten sich auch mindestens drei Verständnisse von Linearität aus, die sich nicht ohne weiteres gegeneinander abgleichen lassen. In jedem Fall ist der Kurzschluß von der Linearität der Schrift zur Linearität des Denkens trotz Marshall McLuhans, Walter Ongs oder Jack Goodys Bemühungen, hier einen Nexus herzustellen, äußerst fraglich.

Die Fixierung auf eine mechanische Auseinanderfaltung von Sinneinheiten in komplexen Netzstrukturen birgt zudem das Risiko, daß dem Leser gar nicht mehr die Denkarbeit zufällt, die notwendig ist, um die Bedeutung von Vernetzungen einzusehen. In seinem ersten Kritischen Wäldchen verwirft Johann Gottfried Herder in Bausch und Bogen die Vorstellung, Poesie könnte je auf Sukzession der sinntragenden Zeichen oder auf Zerlegung in Einzelbestandteile und anschließendes Zusammensetzen im Rezeptionsakt angelegt sein. Das Wesen der Poesie liege vielmehr in der "Kraft, die dem Innern der Worte anklebt" und die als "Zauberkraft [...] auf meine Seele durch die Phantasie und Erinnerung wirkt".(18) Ziel des "energischen Künstlers" müsse es sein, jederzeit diese Kraft spürbar werden zu lassen.

Mit der Analyse Herders vor Augen leuchtet ein, daß die Empfänglichkeit des Lesers, seine Fähigkeit, sinnhafte Verbindungen herzustellen und diesen eine persönliche Relevanz zuzuordnen, gerade nicht bedient oder trainiert wird, wenn sich der Künstler auf eine bloß technische Aufbereitung von Einzelteilen beschränkt. Diese Einsicht ist auch vereinzelt in der Hypertextgemeinde durchgedrungen. In Uncle Buddy's Funhouse etwa liest man:

The average child in America can't find Nebraska on a map, and you expect us to get hot and bothered about some computer system that allows them to link one idea to another without ever having gone through the thought process that makes this linking meaningful? (19)

Schluß

Für Hypertexte wie auch für das Internet gilt, daß Übertreibungen, Idealisierungen und utopische Überzeichnungen kritisch hinterfragt werden müssen. Es ist abzusehen, daß sich auch hinter der Computertechnologie nicht die elegante Lösung alter Probleme verbirgt, sondern daß bekannte Konfliktszenarien in womöglich transformierter Form erneut auftreten. Obwohl der Computer in einzigartiger Weise in der Lage ist, die Sinne des Rezipienten zu täuschen und zu überwältigen, indem er fiktive Welten der Simulation erzeugt, bleiben nämlich auch das Internet und Hypertexte eingebunden in reale Kontexte wie Wirtschaftsabläufe, die Konstruktion sozialer Networks oder die Händel um symbolische Kapitalien wie das Prestige der Gewinner von Hypertextwettbewerben. Wenn der Eindruck entsteht, Internet oder Hypertexte wären als Medien prädestiniert, die Verhandlungen kultureller und gesellschaftlicher Konflikte endgültig aus dem Bereich des Literarischen zu verbannen oder gar zur Gänze obsolet werden zu lassen, dann ist das ein bloßer Trugschluß.

Lebensweltliche Problemlagen werden, so läßt sich argumentieren, in den neuen Medien gerade nicht bewältigt, sondern ausgeblendet und auf ungewisse Zeit vertagt - sie können jederzeit wiederkehren und treffen dann möglicherweise auf einen unvorbereiteten Computerbenutzer. Dieser Nutzer hat schließlich nur wenig Gelegenheit, von seinen Kommunikationen am Computer "fürs Leben" zu lernen. Es bietet sich ihm nur wenig Anlaß, die Daten auf der Bildschirmoberfläche mit der eigenen Erfahrungswirklichkeit in Verbindung zu bringen. Allzuoft entstehen lediglich "possible worlds" im Kopf, deren Vorhandensein im Belanglosen verbleibt und auf keine produktive Auseinandersetzung mit der Realität hinausläuft. Diese Tendenz muß aber nicht noch durch Liebäugeln mit dekonstruktivistischen Thesen verstärkt werden, sondern es wäre eine viel reizvollere Aufgabe, die Potentiale von Hypertext und Computertechnologie als Instrumente im kritischen Umgang mit Alltagsproblemen aufzufinden und zu nutzen, statt die neuen Medien immer nur als Qualitätssprung, als Überwindung des Alltags, anzupreisen.

Wo genau könnten solche Potentiale liegen? Das Medium Hypertext sollte, wie gesagt, nicht als Konkretisierung oder Versinnbildlichung einer Utopie mißverstanden werden. Es ist nicht mehr und nicht weniger als ein neues Kommunikationswerkzeug mit neuen Möglichkeiten, Varianten von literarischen oder Gebrauchstexten zu etablieren. Vor dem Hintergrund dieses Werkzeugcharakters erscheinen die eingangs erwähnten utopischen Aufladungen von Hypertext und Internet als das, was sie sind: lautstarke Äußerungen partikularer Interessen der Dekonstruktion oder der Mediendeterministen, die jeweils ihrer Sache neue Munition zuzuführen bestrebt sind. Daneben gibt es weniger medienwirksame, dafür aber umso pragmatischere, ergebnisorientiertere Herangehensweisen an das Medium. Hier ist etwa an Lernprogramme zu denken, die die synästhetische Komponente des Mediums nutzen, um ein besseres Lernen dank anschaulicherer Lehrmittel zu fördern. Die geringen Kosten des Internets als Vertriebsweg lassen es auch angeraten erscheinen, global auftretende Informations- und Bildungsgefälle mit Hilfe des neuen Mediums Hypertext (unter Einschluß relationaler Datenbanken) effektiver anzugehen. Schließlich geben Hypertexte und das Internet breiten Bevölkerungskreisen die Möglichkeit an die Hand, sich als Interessengruppen zu vernetzen - es sind neue Anreize gesetzt, sich an den bekannten Organisationsformen politischer Meinungsbildung und Partizipation zu beteiligen. Hier liegen einige der konkreten Möglichkeiten für Hypertext; ob das neue Medium die Welt und den Menschen grundlegend verändern wird, kann demgegenüber heute nur von untergeordnetem Interesse sein.

© Philipp Löser (Göttingen)

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Anmerkungen:

(1) Dem Collins English Dictionary von 1981 zufolge bezeichnet das Wort "hype" "a deception, racket, or publicity stunt". Im besonderen werden heutzutage die allermeisten Produkte der Unterhaltungsindustrie mit aggressiven, öffentlichkeitswirksamen Werbemaßnahmen eingeführt, die eben ein solches "hype" in die Welt setzen, das sich wenig um Wahrheitstreue und solide Information schert.

(2) Dieser Text wird von Eastgate Systems, Cambridge, Mass., gewerblich vertrieben. Vgl. http://www.eastgate.com.

(3) Vgl. dazu auch Thomas Swiss, "Music and Noise: Marketing Hypertexts", in Postmodern Culture 7 (1), 1996. (http://jefferson.village.virginia.edu/pmc/text-only/issue.996/review-4.996)

(4) Vgl. Rainer Kuhlen, Hypertext. Ein nicht-lineares Medium zwischen Buch und Wissensbank, Berlin: Springer 1991, S. 46f.

(5) Vgl. dazu beispielsweise die "Zusammenfassende[n] Thesen" im Band Datenreisende. Die Kultur der Computernetze, hrsg. von Thomas A. Wetzstein u.a., Opladen: Westdeutscher Verlag, 1995, S. 295-303.

(6) Stephen Greenblatt, Wunderbare Besitztümer. Die Erfindung des Fremden: Reisende und Entdecker, üs. von Robin Cackett, Berlin: Wagenbach 1998, S. 39.

(7) http://raven.ubalt.edu/staff/moulthrop

(8) Carolyn Guyer, "Fretwork: ReForming Me", http://mothermillennia.org/Carolyn/Fretwork1.html

(9) Vgl. dazu den Abschnitt zu "Hypertext" in meiner Dissertation Mediensimulation als Schreibstrategie. Film, Mündlichkeit und Hypertext in postmoderner Literatur, die 1999 in Göttingen bei Vandenhoek und Ruprecht erscheinen soll.

(10) Robert Kendall, "Writing for the New Millennium. The Birth of Electronic Literature". Poets and Writers Magazine, Nov./Dez. 1995, auch: http://www.wenet.net/~rkendall/pw1.htm

(11) Andreas Okopenko, Lexion einer sentimentalen Reise zum Expertentreffen in Druden: Roman. Frankfurt/Main 1983, S. 6.

(12) Jorge Luis Borges, "Der Garten der Pfade, die sich verzweigen", üs. von Karl August Horst in: Ders., Gesammelte Werke Bd. 3,1, München 1981, S.155-167, hier: S. 164.

(13) Michael Joyce: Afternoon. A Story. Cambridge, Mass.: Eastgate Systems, 1995. Das Wortspiel mit "After", das sich im Deutschen noch aufdrängt, scheidet für das Englische aus.

(14) Zitiert nach einer Online-Diskussion veranstaltet vom Magazin Feedmag, 1995. http://www.feedmag.com/95.05dialog2.html

(15) Vgl. dazu generell Douglas Hofstadter, Fluid Concepts and Creative Analogies. Computer Models of the Fundamental Mechanisms of Thought, New York 1995.

(16) Joshua Quittner, Michelle Slatalla, Masters of Deception. The Gang That Ruled Cyberspace, London: Vintage 1995, S. 140ff.

(17) David S. Miall, Representing and Interpreting Literature by Computer. Yearbook of English Studies 25, 1995, S.199-212, auch: http://www.ualberta.ca/~dmiall/complit.htm.

(18) Johann Gottfried Herder, Herders Sämmtliche Werke Bd. 3, hrsg. von Bernhard Suphan, Berlin 1878, S. 139.

(19) John McDaid: Uncle Buddy’s Phantom Funhouse. Cambridge, Mass.: Eastgate Systems, 1992. [CD-ROM für Macintosh mit Hyper Card]


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