Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 6. Nr. September 1998

Malinche in Japangeles

Sabine Scholl (Chicago)

Ein Symbol für die Vermischung mehrerer Sprachen, Kulturen und Glaubenselemente stellt in den USA das Grenzgebiet des Südwestens dar.

Einer der wichtigsten Texte der weiblichen "borderculture" ist das Buch "Borderlands/ la frontera" von Gloria Anzaldua. Sie fordert darin die Nordamerikaner auf, sich der Präsenz der Mexikaner als Doppelgänger ihrer eigenen Psyche, des Verdrängten ihres Zivilisations- und Okkupationsprozesses also, gewahr zu werden, und sie aus ihrem Schattendasein treten zu lassen.

Nach der Übernahme der ehemals mexikanischen Gebiete von Texas, New Mexiko, Arizona, Colorado und Kalifornien durch die angloamerikanischen Siedler lebte der Topos des verlorenen Landes in Mythen und Legenden der Mexikaner und Chicanos fort. Man nennt das Gebiet sogar "el otro Mexico", das andere Mexiko.

Gloria Anzaldua, aus einer texanisch-mexikanischen Farmpächterfamilie stammend, versucht in ihrer vielstimmigen Vermengung von autobiographischer Erinnerung, ethnographischer Erforschung ihres Umfelds und der Tradition ihrer Kulturen das Bewußtsein eines Typus von Frau, Anzaldua, nennt sie "die neue Mestiza", weil zusammengesetzt aus verschiedensten Teilstücken, zu erfinden:

To live in the Borderlands means you

are neither hispana india negra espanola
ni gabacha, eres mestiza, mulata, half-breed
caught in the cross-fire between camps
while carrying all five races on your back
not knowing which side to turn to, run from;

To live in the Borderlands means knowing
that the india in you, betrayed for 500 years,
is no longer speaking to you,
that mexicanas call you rajetas,
that dening the Anglo inside you
is as bad as having denied the Indian or Black;(1)

In den Körper der Mestiza ist die Geschichte mehrerer Rassen, mehrerer Eroberungen eingezeichnet, er ist Schauplatz von Verrat und Beschämung. Verschiedensten Einflüssen unterworfen, muß das Grenzgebiet als Ort von vielfältigen Veränderungen und als Ausgangspunkt ständiger Konfrontation angenommen werden, so Anzaldua. In ihren Ausführungen zur Grenze vollzieht sie die Mischung auch auf Textebene. Persönliche Geschichte, Erinnerungen, religiöse und mythische Elemente, Zeilen aus Liedtexten, Gedichte werden eingesetzt, um sogar die von Sprache und literarischen Klassifikationen gezogenen Grenzen zu überschreiten. Ziel dieser Arbeit ist es, den Blick auf die Borderlands als negativ definiertes Gebiet aufzugeben und sie im Gegenteil als Grundlage neu zu entwickelnder Identitäten zu begreifen.

"The new mestiza copes by developing a tolerance for contradictions, a tolerance for ambiguity. She learns to be an Indian in Mexican culture, to be Mexican from an Anglo point of view. She learns to juggle cultures. She has a plural personality, she operates in a pluralistic mode - nothing is thrust out, the good, the bad and the ugly, nothing rejected, nothing abandoned. Not only does she sustain contradictions, she turns the ambivalence into something else."(2)

Anzaldua beschreibt so in vielfältigen Variationen ein Dazwischensein der Mestiza, das bestimmt ist von Unsicherheit, Unentschiedenheit, Ruhelosigkeit und inneren Kämpfen als Folge eines kulturellen Zusammenstosses. Dennoch will sie diesem Zustand des auseinanderstrebenden Denkens eine positive Bedeutung verleihen. Symbole der Santeria, einem synkretischen Kult aus katholischen Elementen und dem Glauben an Yoruba-Götter, entwickelt vor allem von eingeschleppten Schwarzen auf Cuba, und nicht unähnlich dem brasilianischen Candomblé, sollen helfen dieses neue Bewußtsein zu erklären.

Auf der Suche nach einer Genealogie des neuen Frauentypus der Borderlands greifen Anzaldua wie auch andere Chicana-Schriftstellerinnen (chicanas sind in USA lebende, meist sogar dort geborene Mexikanerinnen) zurück auf indianische Göttinnen und herausragende Mexikanerinnen und versuchen sie im Sinne einer erst zu erfindenden weiblichen Geschichte umzuwerten.

Eine Leitfigur im Bemühen des kolonisierten weiblichen Subjekts die Leerstellen der Geschichte zu untersuchen, ist, zum Beispiel, COATLICUE, eine präkolumbianische Göttin. Sie wird sowohl mit Tod als auch mit Wiederauferstehung in Verbindung gebracht. Diese Doppeldeutigkeit, COATLICUE kann als lüsterne Verführerin auftreten und von Sünden reinigen, im Gegensatz zur katholischen Jungfrau von GUADALUPE, einer Ikone, die von der mexikanischen Gemeinschaft in allen Varianten und Abstufungen verehrt wird, macht sie für die Literatur und Philosphie der Chicanas interessant.

Aber auch der Kult um Guadalupe ist als Palimpsest einer vorgängigen Tradtion zu lesen. Die ganzheitlichen indianischen Göttinnen waren nämlich schon mit der Herrschaft der Azteken und schliesslich verstärkt nach dem Auftauchen der spanischen Conquistadores mehr und mehr in Oppositionen aufgespalten worden, um weibliche Macht zu brechen. Erst die keimfreie, asketische Jungfrau von Guadalupe entsprach dann dem Geschmack der Spanier. Bezeichnend ist auch, wie sich die Abbildungen Guadalupes, die 1531 einem Bauern indianischer Herkunft erschienen war, und in Nahuatl, der Sprache der Indios, mit ihm gesprochen hatte, über die Jahre veränderten. Von einer geläufigen Marienikone driftet ihre Hautfarbe während der Jahrhunderte immer mehr ins Braune. Die Farben ihrer Kleidung entwickeln sich zu den Farben der mexikanischen Flagge und nur ihre Pose und Attribute weisen noch Spuren der alten aztekischen und indianischen Göttinnen auf.

Malinche

Eine der wichtigsten Identifikationsfiguren mit zweifelhaften Vorzeichen für die Literatur der Chicanas ist Malinche.

In den Texten des spanischen Geschichtsschreibers Bernal Diaz del Castillo über die Eroberung Mexikos wird sie meist mit ihrem christlichen Namen Doña Marina bezeichnet. Der Name Malinche ist die spanische Version des Nahuatl-Namens Malintzin, den die Spanier nicht richtig aussprechen konnten. Im Namen der Übersetzerin ist das Verhältnis zwischen den beiden Welten also bereits konzentriert.

Aus einer vornehmen, Nahuatl sprechenden Familie mußte Malinche, als sie in den Besitz der Chontal von Tabasco überging die Maya-Sprache, und als sie den Eroberern zum Geschenk gemacht worden war, um diese milde zu stimmen, spanisch lernen. Bei den Begegnungen mit Einheimischen wurde dann oft über vier Sprachen übersetzt.

Die Aufgabe Malinches, nicht nur zwischen den Sprachen, sondern auch den Kulturen und Religionen zu vermitteln, stellte sich in besonderer Weise, sobald die Eroberer Tenochtitlan erreichten. Das Begehren von Cortés, die aztekischen Götter so schnell als möglich durch seinen christlichen Gott zu ersetzen, mußte Malinche in den Gesprächen mit Montezuma immer wieder mildern. Und während Cortés die von den Azteken in ihm vermutete Göttlichkeit, als Verkörperung der gefiederten Schlange, zurückweist, wollte Malinche sie nützen, um die gewünschten Änderungen zu erreichen. Sie mußte die Direktheit und Rauheit des spanischen Umgangs mit dem Fremden in höfliche und diplomatische Worte verwandeln und dabei die ihr zugedachte Rolle überschreiten. Bis dahin war es zum Beispiel undenkbar gewesen, daß eine Frau das Wort an den göttlichen Aztekenherrscher richete. Diese wichtige Position in der Eroberungsgeschichte umfaßte jedoch nur eine kurze Spanne in Malinches Leben. Nachdem sie Cortés einen Sohn geboren hatte, der in Spanien erzogen wurde und der sie, als er nach Mexiko zurückkehrte, nicht mehr als seine Mutter anerkannte, sie war für ihn nur die Indiohure, die mit seinem Vater geschlafen hatte, (oder gehört das schon ins Reich der Legende?) verschwand Malinche aus den Berichten.

In Mexiko steht Malinche gleichbedeutend für eine Person, die ihr oder sein Land betrügt. In vielen Folkloredarstellungen und Erzählungen wird Malinche mit der Figur von La Llorona, die der Legende nach ihre eigenen Kinder ermordet haben soll, und deren Weinen man nachts hört (La Llorona heißt übersetzt die Weinende), zum negativen Mutterbild vermengt. Im allgemeinen repräsentiert Malinche die Unterwerfung der indianischen Rasse durch die weiße europäische.

Chicanas aber versuchten und versuchen die Figur umzuwerten:

"Chicana writers do not view La Malinche as the passive victim of rape and conquest but instead believe her to be a woman who had and made choices. Because she possessed the power of language and political knowledge, for them La Malinche is a woman who deliberately chose to be a survivor... It was often because of her diplomacy and intelligence that a more total annihilation of the Indian Tribes of Mexico did not occur."(3)

Die Schriftstellerinnen identifizieren sich vor allem mit der Tätigkeit der Übersetzung, dem ständigen Wechsel von einer Sprache und Kultur zur anderen. Übersetzen ist die Voraussetzung, um sich in zwei Kulturen gleichzeitig bewegen zu können. Aus diesem Grund muß das Verhältnis der Schreibenden zu Malinche neu befragt werden.

Um die abwertenden Bilder zu beseitigen, werden Stereotypisierungen, auferlegt durch kulturelle Normen, analysiert, sowie Etiketten und Stempel zurückgewiesen, um sich sich selbst neu in Beziehung zu diesen Vorbildern zu setzen.

Andererseits ist die Auseinandersetzung mit der vom Gastland vorgegebenen Sprache immer wieder nötig. In "Borderlands/ la frontera" kritisiert Anzaldua neben dem Landraub auch die nordamerikanische Sprachpolitik. Jemanden seiner Sprache zu berauben sei genauso gewalttätig, wie ihn in einem Krieg zu bekämpfen. Sie berichtet vom Zwang, auf der Universität Sprechkurse zu belegen, um den mexikanischen Akzent zu verlernen.

Neben den zwei bekannten Sprachsystemen des Southwest, Englisch und Spanisch, werden aber auch noch Zwischen- und Mischformen gesprochen, die Anzaldua aufzählt:

"Some of the languages we speak are: 1. Standard English, 2. Working class and slang English, 3. Standard Spanish, 4. Standard Mexican Spanish, 5. North mexican Spanish dialect, 6. Chicano Spanish (...), 7. Tex-Mex, 8. Pachuco (called caló)."

Als Pachuco wird eine Art Geheimsprache, gesprochen vor allem von den Gangs, bezeichnet, die sich gegen Standard Spanisch und Englisch abgrenzen will.

Das Chicano-Spanisch unterschiedet sich vom spanischen und mexikanischen Spanisch u.a. auch durch die Auslassung von Konsonanten. Zum Beispiel: lao / lado (Seite), mojao / mojado (naß, feucht).

Da die meisten Eroberer aus der Extremadura, wie Cortés, und aus Andalusien kamen, finden sich auch Einflüsse dieser Regionalismen im mexikanischen Spanisch.

Die in den USA lebenden Mexikaner reichern ihr Spanisch zudem mit Anglizismen an. Sie sagen zum Beispiel carpeta /carpet, Teppich oder cookiar / to cook, kochen oder parkiar /to park, parken.

Die Situationen, in denen diese verschiedenen Sprachen gesprochen werden, machen auch einen Wechsel der Identitäten nötig und erschweren damit die Antwort nach einer Selbstbezeichnung auf die Frage: Was bin ich?

"When not copping out, when we know we are more than nothing, we call ourselves Mexican, referring to race and ancestry; mestizo when affirming both our Indian and Spanish (but we hardly ever own our Black ancestory); Chicano when referring to a politically aware people born and/or raised in the U.S., Raza when referring to Chicanos; tejanos when we are Chicanos from Texas."(4)

Aus diesen veränderten sprachlichen und kulturellen Vorausetzungsbedingungen entstehen kulturelle Mischformen, die ich in Anlehnung an den anthropologischen Begriff des Synkretismus, der sich auf eine Mischung verschiedenster religiöser Elemente bezieht, synkretische Produkte nennen möchte.

Auch die Figur der Jungfrau von Guadalupe ist als synkretisches Produkt zu verstehen, eine Synthese von alter und neuer Welt, Eroberern und Eroberten mit ihren verschiedenen religiösen Vorstellungen. Als Mischung aus indianischen und spanisch-römisch-katholischen Elementen ist sie zur Göttin der "Amerikas" geworden und repräsentiert damit auch das Mischungsverhältnis der fragmentierten Identität der Chicanos und Chicanas. Als Symbol kultureller Widersprüchlichkeiten werden ihre Abbilder daher von verschiedensten Ausdeutungen begleitet. Die Sterne an ihrem Mantel sollen, zum Beispiel, die Konstellation anzeigen, die am Tag ihrer Erscheinung vom Ort ihrer Erscheinung aus, sichtbar gewesen ist. In ihren halb geschlossenen Augen vermeinte man insgesamt siebzehn verschiedene Figuren zu sehen. Das sie umgebende Oval wird von den Chicanas oft als Vulva interpretiert, die Strahlen des Umrisses als Schamhaare. Erklärungsversuche zu Guadalupe reichen sogar bis zur Annahme, unter anderem in einem Film von 1992 ausgeführt, daß ihre Erscheinung von den Christen erfunden worden war, um die zur Konversion unwilligen indianischen Gläubigen näher an die katholische Kirche zu binden:

"The Bishop discovers Aztec icons hidden behind the images of Catholic saints in the church, by which he assumed that his Indian flock had not been converted after all. He interrogates the catholic icon maker, who is an Indian, about who is responsible for what he calls the idols, but the Indian claims not to know. The clergy fearing another Indian uprising, knit on a brilliant compromise: the icon maker is to paint a picture of the Madonna using an Indian model, take it to the shrine of Tonantzin, the Mexican earth goddess and then bring it back in a big public display claiming that he had painted it from a vision."(5)

Und betrachtet man die von Indios ausgeführten Wandmalereien der Missionen des Southwest, scheint diese Verbindung von europäischen Vorgaben mit indianischer Imagination gar nicht so weit hergeholt. Die bekehrten Indios wurden dazu angehalten, malerisch architektonische Details einer Bauweise wiederzugeben, die sie garnicht kennen konnten: Marmorsäulen und -bögen, Draperien, Balustraden. Diese Interpretation einer europäischen Erinnerung durch eingeborene Indios ist genauso wie Guadalupe als Ausformung synkretischer Kultur zu verstehen.

Eine anderes, aktuelleres Produkt der Grenzkultur stellen die Musikgruppen dar, amerikanisch Tex-Mex, mexikanisch Conjunto und nordmexikanisch Norteños genannt, die in einer Mischung von tschechisch-deutscher Polka und mexikanischem Rhythmus mit Saxophon, Akkordeon, Bass, Gitarren und Trommeln das Lebensgefühl der Grenzbewohner dokumentieren.

Eine der bekanntesten Gruppen "Los Tigres del Norte" stellen sich auf den Hüllen ihrer Platten und CDs als Norteño Gangster in Lederjacken und Westernstiefeln dar. "Los autenticos idolos del pueblo", die wahrhaften Vor/Ab/Bilder des Volkes, singen Lieder über den Alltag der Grenze, über Drogenhändler, korrupte Politiker, hartarbeitende Mexikaner. Sie sind die inoffizielle Zeitung der Borderlands, erzählen Geschichten von unten, verborgen vom Mainstream der Sprache und der Politik. Sie sind die Stimme der Mexikaner (ohne Arbeits- und Aufenthaltserlaubnis) und drücken deren Sorgen und Ängste aus, die Furcht vor Deportation, das Gefühl der Heimatlosigkeit und Unentschiedenheit des Lebens zwischen zwei Kulturen.

Im Lied "Mi sangre prisionera" singt ein Vater über seinen Sohn, um den er sich nie gekümmert hat und der im Gefängnis gelandet ist. Der Sohn hat das "Diplom der Straße und des Verbrechens" gemacht, anstatt studiert. Der Vater hat ihn nie gelobt und umarmt, weil er sich nur ums Geschäft gekümmert hat und deswegen ist nicht der Sohn schuld, sondern der Vater bezeichnet sich selbst als Verbrecher.

Musik

Die nordamerikanische Kriegserklärung an das Grenzgebiet, legitimiert auch durch die Notwendigkeit gegen den Drogenhandel zwischen den Amerikas vorzugehen, wurde 1990 schließlich, als die Mauern zwischen Ost und Westeuropa endgültig gefallen waren, mit der Errichtung eines Grenzzaunes militärische Wirklichkeit. Seit damals werden (Latinos und) Chicanos verstärkt als Sündenböcke der innerpolitischen Probleme der USA gesehen, Anti-Einwanderungsgesetze und English-Only-Kampagnen richten sich gezielt gegen eine mögliche Zunahme der spanischsprechenden Minderheit. Die Chicano/a und Latino/a- Schriftsteller arbeiten daher auch an der Herausbildung einer positiven Sichtweise ihres Beitrags zur nordamerikanischen Kultur und zur englischen Sprache der Literatur:

"What prescriptive linguists, editors, and authorities in education deem a deficit - the so-called interference of Spanish in English - a hybrid, Latino-centered approach values as positive, creative contributions to literature. Indeed, the most important contributions of these writers to U.S. Literature lie not only in the multiple cultural and hybrid subjectivities that they textualize, but also in the new possibilities for metaphors, imaginery, syntax, and rhythms that the Spanish subtext provides U.S. literary English."(6)

Bewußt vollzogenes Umkehren und Falschstellen der Worte kann auch als Arbeit gegen den herrschenden Imperialismus des Englischen verstanden werden. Da die Herkunft dieser neu erfundenen und gefundenen Worte und Wortverbindungen nur vom zweisprachigen, also Chicano-/Latino-Leser verstanden wird, handelt es sich gleichermassen um die Herstellung einer geheimen Verbindung von Menschen desselben sprachlichen Erfahrungshintergrunds.

"By metaphorically displacing the ideal monolingual American reader and by producing texts whose poetic and cultural signifying solicit crosscultural competency and complicity, contemporary U.S. Latino/a writers are marginalizing and perhaps even excluding the predominant ideal of the monolingual reader."(7)

Das Festhalten an der Ambiguität und Komplexität der verschiedenen durch die Geschichte entstandenen Mischverhältnisse ist auch als Weigerung, sich einbinden zu lassen und als Widerstand gegen die Praxis von vereinheitlichenden Nationalkulturen zu verstehen. Das Feld der Möglichkeiten soll offengehalten werden. Die Parabel, die Parodie, die Satire, der karnevaleske Umgang mit vorgegebenen Mustern sind Strategien, um die Autorität zumindest zeitweise zu unterlaufen.

In einer Performance 1992, zum 500. Jahrestag der Entdeckung des amerikanischen Kontinents durch Kolumbus, versuchten die kubanisch-amerikanische Künstlerin Coco Fusco und der mexikanisch-amerikanische Performer Guillermo Gomez-Peña auf den Mythos des edlen Wilden aufmerksam zu machen. Drei Tage lang wollten sie sich als Vertreter einer bisher nicht entdeckten Gruppe von Amerindianern, in einem goldenen Käfig ausstellen lassen. Beispiele dieser Praxis, daß Menschen aus der Fremde von Europäern gezwungen wurden, den Platz einzunehmen, den sie für die Wilden ihrer mittelalterlichen Mythologien schon geschaffen hatten, gibt es genug.

Diese Praxis des Vorzeigens von fremden Elementen hat sich bis heute erhalten, und wird besonders für die Tourismusindustrie, in Form von authentischen Indianertänzen, Hularhythmen, Voodooritualen etc. fortgeführt. Coco Fusco erwähnt neben den negativen Assoziationen zum Exotischen und Fremden aber auch die Rollen des Mythos vom guten Wilden in der Kunst des 20. Jahrunderts, in der Vitalismus, Rhythmus, Magie auf den schwarzen oder braunen Körper projiziert werden. Auch diese Bewegung setzt sich bis heute, man höre sich Diskussionen um Jazz, Rap, Hiphop an, fort. Es handelt sich dabei immer noch um das europäische Verlangen nach dem unzivilisierten Anderen, um das westliche Selbst möglichst kontrastreich definieren zu können.

Neben Coco Fuscos umgekehrter Ethnographie ist der Performance-Künstler Gomez-Peña einer der wichtigsten Kartographen der neuen Weltordnung, spezialisiert auf das Verhältnis von Nord- und Südamerika. Seine Definition von "Amerika" hält sich nicht an nationale Grenzen:

"I travel across a different America. My America is a continent (not a country) that is not described by the outlines on any of the standard maps. In my America, "West" and "North" are mere nostalgic abstractions - the South and the East have slipped into their mythical space. For example, Quebec seems closer to Latin America than to its Anglophone twin. My America includes different peoples, cities, borders, and nations. For instance, the Indian nations of Canada and the United States, and also the multiracial neighboorhoods in the larger cities all seem more like Third World micro-republics than like communities that are part of some "western democracy". Today, the phrase "western democracy" seems hollow and quaint.
When I am on the East Coast of the United States, I am also in Europa, Africa and the Carribean. There, I like to visit Nuyo Rico, Cuba York, and other micro-republics. When I return to the U.S. Southwest, I am suddenly back in Mexamerica, a vast conceptual nation that also includes the northern states of Mexico, and overlaps with various Indian nations. When I visit Los Angeles or San Francisco, I am at the same time in Latin America and Asia. Los Angeles, like Mexikco City, Tijuana, Miami, Chicago, and New York, is practically a hybrid nation/ city in itself."(8)

In bewußter Übertreibung statuiert Gomez-Peña ein transnationales Grenzgebiet ohne Zentrum, das nur mehr aus Rändern bestehe. Die "anderen" dieser Zone sind diejenigen, die sich der Mischung verweigern. Mischkultur erklärt Gomez-Peña zur dominanten Kultur, während Monokultur in seinem utopischen Entwurf als Minderheit weiterexistieren muß.

In einer Umkehrung der bestehenden Machtverhältnisse zwischen den Sprachen Englisch und Spanisch propagiert der Autor außerdem die zukünftige Herrschaft des Spanglish. In dieser Zukunft werden es die Anglos sein, welche wegen mangelnder Spanischkenntnisse in der Schule fertiggemacht und am Arbeitsplatz diskriminiert werden.

In unzähligen witzigen Worterfindungen nimmt Gomez-Peña diese Entwicklungen bereits vorweg: LOS ESTADOS UNIDOS wird zu ESTAMOS HUNDIDOS. LOS ANGELES zu LOST ANGELES. Grenzstädte, die ineinander übergehen, werden zu einem Namen verschmolzen: SAN DIEGO und TIJUANA wird zu SAN DIEJUANA. Die Verbindung von JAPAN und LOS ANGELES nennt Gomez-Peña JAPANGELES, Eingeborene der Grenzregion heißen BORDERÍGENA (= Grenze und Indigener). Durch Mischung entstehende neue Bevölkerungsgruppen werden AFROKROATEN, JAP-TALIENER etc. genannt. Wie aber sieht die Zukunft der wenigen verbliebenen Euro-Amerikaner aus?

"The Euro-Americans who resisted interracial love became a nomadic minority and eventually ended up migrating south to work for maquiladoras and fast-food restaurants. They get paid less than 200 pesos an hour. They are derogativly referred to as waspanos, waspitos, wasperos, or waspacks. The basic rights of these downtrodden people are constantly violated, and there is no embassy to defend them. This alarming "anglophobia" is based on an absolute fallacy - that "they" have to come to take ´our jobs`."(9)

Veränderte Gegebenheiten erfordern geänderte Namen, Fernsehstationen heißen daher: REALI-TV, EMPTY-V. Und auch die Vermarktung des kulturellen Erbes Lateinamerikas wird in immer neuen Produkten erfolgen, so Gomez-Peña, zum Beispiel in CHILI PFEFFER SPRAYS, AUFBLASBAREN FRIDAS, HOLOGRAPHISCHEN NACKTEN MARIACHIS, usf. Aus dem Zusammentreffen der nord- und südamerikanischen Religionen bilden sich neue Gottheiten heraus, die Gomez-Peña, u.a. TEZCATLIPUNK, eine Mischung von mexikanischem Schlangengott und Punk, nennt, oder FUNKAHUATL, die Gottheit des aztekischen Funks, oder KRISHNAHUATL, den aztekischen Gott des KARMA.

Kunst über Identität wird in Gomez-Peñas Universum der Zukunft nur noch als nostalgische Erinnerung sichtbar und im "Museum verlorener Identität" ausgestellt werden.

Die Rolle des Künstlers der Zukunft definiert er folgendermassen:

"S/he performs multiple roles in multiple contexts. At times s/he can operate as a cross-cultural diplomat, as an intellectual coyote (smuggler of ideas) or a media pirate. At other times, s/he assumes the role of nomadic chronicler, intercultural translator, or political trickster. S/he speaks from more than one perspective, to more than one community, about more than one reality. His/ her job is to trespass, bridge, interconnect, reinterpret, remap and redefine; to find the outer limits of his/ her culture and cross them."(10)

© Sabine Scholl (Chicago)

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Anmerkungen:

(1) Anzaldúa, Gloria: Borderlands / La Frontera, The New Mestiza, Aunt Lute Books, San Francisco 1987, S. 194/5.

(2) Ebd., S. 79.

(3)Rebolledo, Tey Diana: Woman Singing in the Snow, A Cultural Analysis of Chicana Literature, The University of Arizona Press, Tucson 1995, S. 64/5.

(4) Gloria Anzaldua: Borderlands / La Frontera, The New Mestiza, Aunt Lute Books, San Francisco 1987, S.63.

(5) Jean Fisher, S. 6. In. The Syncretic Turn, Possiblities of Cross-cultural practice in the Age of Multiculturalism, 1995. Transcript from a lecture. Letzter Zugriff 11/1/1998.

(6) F.R. Aparicio: On Sub-Versive Signifiers, in : Tropicalizations, Transcultural Representations of Latinidad, edited by Frances R. Aparicio and Susana Cháves-Silverman, Dartmouth College, Hanover, New England 1997, S. 202.

(7) Ebd., S. 206

(8) new world border. s. 5,6.

(9) Gómez-Peña, Guillermo: The New World Border, City Lights Books 1996, S. 34.

(10) Ebd., S. 12.


Webmeisterin: Angelika Czipin
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