Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 6. Nr. September 1998

Kulturwissenschaften als Entwicklungswissenschaften?
Kritische Anmerkungen zur Instrumentalisierung des Wissens über die Kulturen

D. Simo (Yaounde)
[BIO]

 

1551 fand in der iberischen Stadt Valladolid ein öffentliches Streitgespräch statt, in dem es darum ging zu bestimmen, ob die Indios Menschen oder halb Tiere seien. Dieses Gespräch war nur an der Oberfläche eine philosophische und theologische Auseinandersetzung. Dahinter standen handfeste ökonomische Interessen. In der Tat ging es im Grunde darum zu bestimmen, ob die Indios weiterhin in den Minen und auf den Plantagen rücksichtslos geschunden und ausgebeutet werden dürften oder mit der damals von der Kirche der Menschen anerkannten Würde behandelt werden sollten. Auf der einen Seite standen die Siedler, die uneingeschränkt über die Arbeitskraft der Indios verfügen wollten. Diese hatten zur Verteidigung ihrer Interessen einen Humanisten verpflichtet, nämlich Sepulveda. Auf der anderen Seite standen einige Theologen mit dem dominikanischen Mönchen Las Casas an ihrer Spitze.

Am Ende siegte die Partei um Las Casas. Aber dann mußte sie erklären, wieso diese Indios für die Europäer so merkwürdige und fremde Sitten hatten. Darauf antwortete Las Casas:

"Die Menschheit ist eines, und alle Menschen sind gleich, was ihre Erschaffung und all ihre natürlichen Anlagen betrifft. Niemand kommt erleuchtet zur Welt. Daraus folgt, daß wir zunächst von denen geführt und erleuchtet werden müssen, die vor uns geboren wurden. Die wilden Völker dieser Erde sind dem unbebauten Erdboden vergleichbar, der Unkraut oder unnütze Dornen hervorbringt, der aber alle natürlichen Kräfte enthält, damit er durch Arbeit und Pflege gesunde und wohltuende Früchte hervorbringen kann."

Diese Aussage wird heute noch als Prototyp antirassistischer Plädoyers betrachtet. In der Tat wird hier die Einheit und Gleichheit der Menschheit bekräftigt. Dieser Text ist aber sehr wichtig, weil in ihm die wichtigsten Ideologeme enthalten sind, die bis heute die Beziehungen zwischen Europa und den außereuropäischen Völkern bestimmen. Die Opposition Wilde – Zivilisierte und die Gleichsetzung des wilden Seins mit dem Kindsein sowie die ganze Landwirtschaftsmetaphorik sind Topoi des europäischen Diskurses geblieben. Die Lage der außereuropäischen Völker wird so beschrieben, daß daraus eine Aufgabe für die Europäer erwächst. Man bedenke, daß Las Casas Mönch und Missionar war. Seine Ausführungen waren daher eine Begründung seines eigenen Wirkens. Wenn die Indios zu Nichtmenschen deklariert worden wären, dann hätte die ganze Missionstätigkeit keinen Sinn mehr gehabt. Deswegen mußte die Einheit und Gleichheit der Menschen proklamiert werden. Aber wie verhält sich die Gleichheit und Einheit der Menschheit zu dem gewaltsamen Eindringen der Europäer in die Welt anderer Völker und dem Versuch, Gesellschaften und Menschen dort zu verändern?

Mit der Opposition Wilde – Zivilisierte war ein Argument gefunden, um Gleichheit und Missionierung sowie Kolonisation zu vereinbaren. Missionierung und Kolonisation wurden zu einer erzieherischen Aufgabe stilisiert. Die ganze Landwirtschaftsmetaphorik (unbebauter Boden, unnütze Dornen, wohltuende Früchte) aber auch die Lichtmetaphorik zeigen deutlich, daß es dabei weder um Transformation, das heißt um eine Verwandlung gegebener Verhältnisse in andere ging, sondern um Verdrängen, um Ersetzen, um Verpflanzen. Wenn ein Boden unbebaut ist, kann es nur darum gehen, auf ihm etwas anzubauen, und dabei lohnt es sich nicht, dem Unkraut und den Dornen, die darauf stehen, Aufmerksamkeit zu schenken. Sie müssen vielmehr getilgt werden. Man ging also davon aus, daß die Völker, auf die man stieß, keine Kultur hatten. Missionieren und kolonisieren bedeuteten also Erleuchten, Kultivieren. Die gesellschaftliche Organisation der Menschen in den Kolonien und ihre Rituale, die Gestaltung der zwischenmenschlichen Beziehungen sowie ihre Beziehungen zu Gott waren keine Sitten, sondern Unsitten, keine Kultur, sondern Unkultur. In dieser Hinsicht stand eine wissenschaftliche Beschäftigung mit den einheimischen Kulturen nicht auf dem Programm. Das Erziehungsmodell war das Modell der Erziehung der Kinder, und Kinder wissen nichts, sie ahnen nichts, aber sie sind empfänglich für alles, was man ihnen bringt. Die Universalisierung der europäischen Kultur wurde somit als eine notwendige und gar normale Erziehungsaufgabe aufgefaßt.

Kulturwissenschaften und Identitätskonstruktionen

Die Schwierigkeiten, auf die viele Missionare und viele Kolonisatoren bei der Durchsetzung dieses Erziehungsmodells stießen, führten zu einem Paradigmawechsel. Der Widerstand, den die sogenannten Kinder zeigten, ein Widerstand, der sich darin ausdrückte, daß sie lieber an ihren Sitten festhielten, anstatt sich mit Begeisterung ins Reich der Kultur führen zu lassen, dieser Widerstand führte also zu der Einsicht, daß eine andere Erziehungsstrategie notwendig war. Im 18. Jahrhundert, aber vor allem im 19. Jahrhundert begann man sich ernsthaft mit der Kultur der einheimischen Völker zu beschäftigen. Gewiß, diese Beschäftigung wurde zunächst als Reise in die eigene Vergangenheit betrachtet, zumal die Primitiven im aufklärerischen, evolutionistischen Denken eine Kindheitsstufe des Weges der Menschheit zur Vollkommenheit darstellten, und die Europäer wurden als die fortgeschrittensten Repräsentanten dieser Menschheit betrachtet. So verkündet Friedrich Schiller in der Antrittsvorlesung, die er am 26. Mai 1789 in der Universität Jena zu dem Thema hielt:

"Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?": "Die Entdeckungen, welche unsere europäischen Seefahrer in fernen Meeren und auf entlegensten Küsten gemacht haben, geben uns ein ebenso lehrreiches als unterhaltendes Schauspiel. Sie zeigen uns Völkerschaften, die auf den mannigfaltigsten Stufen der Bildung um uns herum gelagert sind, wie Kinder verschiedenen Alters um einen Erwachsenen herum stehen und durch ihr Beispiel in Erinnerung bringen, was er selbst vormals gewesen und wovon er ausgegangen ist. Eine weise Hand scheint uns diese rohen Völkerstämme bis auf den Zeitpunkt aufgespart zu haben, wo wir in unserer eigenen Kultur weit genug würden fortgeschritten sein, um von dieser Entdeckung eine nützliche Anwendung auf uns selber zu machen und den verlorenen Anfang unseres Geschlechts aus dem Spiegel wiederherzustellen. Wie beschämend und traurig aber ist das Bild, das uns diese Völker von unserer Kindheit geben."

Die Kultur außereuropäischer Völker dient ihm also als Kontrastfolie, um die politischen, wissenschaftlichen und moralischen Errungenschaften, aber auch die Defizite Europas noch klarer erscheinen zu lassen. Die Gegenwart wird dadurch als Ergebnis einer langen Kette von Veränderungen gesehen, die den Europäer von dem Zustand, in dem die fremden Völker heute beobachtet werden können, zu ihrem heutigen glücklichen Zustand geführt haben. Er gewinnt dadurch auch die Möglichkeit, in der Gegenwart zu zeigen, was noch aus solchen alten Zeiten herstammt, also noch entwicklungsbedürftig ist. Hier sieht man deutlich, daß die europäische Identität durch Abgrenzung von dem als barbarisch titulierten anderen geschieht. Das Phänomen, worauf Edward Said und Toni Morrison heute hinweisen, zeigt sich hier.

"European culture gained in strength and identity by setting itself off against the orient as a sort of surrogate or even underground self" schreibt Said. Ich glaube, daß "orient" hier einfach durch "non-european culture" ersetzt werden kann. Der Orient war nur eine der Kontrastfiguren. Auch wenn viele es nicht wahrhaben wollen, ist die Idee von Europa, die Vorstellung, die Europäer von Europa hatten und haben, und die am Ende die Wirklichkeit formt, nicht vorstellbar ohne die Begegnung mit den anderen und die Beschäftigung mit ihrer Kultur.

In bezug zu Amerika kommt Toni Morrison zu einer ähnlichen Feststellung, auch wenn hier weniger die Kultur als vielmehr die Rassenzugehörigkeit einen entscheidenden Faktor darstellt. So schreibt sie nämlich in einem glanzvollen Essay:

"Explizit oder implizit prägt die afrikanische Präsenz auf zwingende und unausweichliche Art die Textur der amerikanischen Literatur. Diese Präsenz, die dunkel und dauerhaft ist, dient der literarischen Phantasie als sichtbare und zugleich unsichtbare vermittelnde Kraft. Sogar und gerade dann, wenn amerikanische Texte nicht von afrikanischer Präsenz handeln, wenn Gestalten, Erzählung oder Idiom nicht afrikanisch sind, schwebt der Schatten als Implikation als Zeichen, als Grenzlinie darüber. Es ist weder Zufall noch Irrtum, daß die Einwandererpopulation (und ein Großteil der Immigrantenliteratur) ihr Amerikanischsein als Gegensatz zu der bereits ansässigen schwarzen Bevölkerung verstand. Rasse fungiert nun tatsächlich als Metapher, die für die Entwicklung des Amerikanischseins so notwendig ist, daß sie mit den alten pseudowissenschaftlichen und klassenbestimmten Rassismen rivalisiert, deren Dynamik wir eher zu entziffern gewohnt sind" (Toni Morrison, S. 52f.).

Dieser Ansatz Saids und Morrisons eröffnet der Kulturwissenschaft fruchtbare Perspektiven. Die Kulturwissenschaft ist nicht mehr Volkstumswissenschaft, das heißt die Wissenschaft einer unwandelbar naturwüchsigen Kultur, sondern die Wissenschaft einer Konstruktion, die nur in Relation zum Nicht-Ich in einem dialektischen Prozeß der Selbstzuschreibung und Fremdzuschreibung zustande kommt. Im Ich ist also immer das Nicht-Ich enthalten. In diesem Sinne und in bezug zu den Ausführungen Schillers ist die Kulturwissenschaft im doppelten Sinne eine Entwicklungswissenschaft. Einerseits nimmt sie am Prozeß der Konstruktion der Identität teil, wie wir sie gesehen haben, indem sie die Distanz zwischen europäischen und nicht-europäischen Kulturen und dabei eine Achse, die eine Entwicklung darstellen soll, zeichnet. Sie kann auch die Wissenschaft der Aufdeckung solcher Konstruktionen sein, das heißt eine Art Archäologie dessen, was eine Kultur durch dialogische oder interkulturelle Beziehungen zu anderen geworden ist.

Kulturwissenschaft und Imperialismus

Ich werde jetzt aber auf eine andere Aufgabe hinweisen, die die Kulturwissenschaft im Zuge der Begegnung zwischen Europa und anderen Kontinenten und im Zuge der imperialistischen Bestrebungen wahrgenommen hat und immer noch wahrnimmt. Ich habe oben erklärt, daß die für viele Europäer unerwartete Schwierigkeit bei der Verpflanzung europäischer Religion und Gebräuche in als jungfräulich betrachtete Länder zu der Einsicht führte, daß die Menschen, auf die man gestoßen war, vielleicht doch keine reinen Kinder waren, sondern schon über eine anders geartete Kultur verfügten, die genau untersucht werden müssen, damit eine effizientere Erziehungsstrategie gefunden werden konnte. Natürlich geschah es auch, daß diese fremden Völker als Argument in einer innereuropäischen Auseinandersetzung verwendet wurden und unter dem Begriff der "guten Wilden" zur Konstruktion eines Freiheitsbegriffes, der der fürstlichen Willkür entgegengesetzt wurde. Aber im allgemeinen wurden die fremden Kulturen als etwas betrachtet, das durch Erziehung auf das europäische Niveau gebracht werden sollte.

Ethnologen und Kolonialbeamte oder Missionare arbeiteten daher Hand in Hand, auch wenn die ersteren es oft nur zähneknirschend taten oder eine heuchlerische Distanz zu behaupten versuchten. Erworbene Kenntnisse über die Kultur der Einheimischen wurden als Grundlage betrachtet, um erzieherische Strategien zu entwickeln, die das Verhalten der Wilden verändern sollten. Die Kolonialaufgabe wurde als eine Modernisierungsarbeit aufgefaßt. Diese Modernisierung bedeutete Einführung von modernen, rationalen Verwaltungsmethoden, Einführung von modernen Produktionsweisen und –verhältnissen. Die allgemeine Forderung war, diese Menschen für die Welt zu gewinnen, und das bedeutete, sie in die Weltwirtschaft zu integrieren. Man dachte natürlich dabei vor allem an die Bodenschätze, aber es war auch klar, daß man dazu die Mitarbeit der Einheimischen brauchte, und daher wurde immer wieder festgestellt, daß diese Einheimischen nicht gewillt waren, aus eigenem Antrieb die für sie vorgesehene Rolle mitzuspielen, und daher mußte man sie dazu erziehen. Eine Reihe von Schriften erschienen Ende des 19. Jahrhunderts mit dem Titel "Wie erzieht man am besten den Neger zur Arbeit?". Eine dieser Schriften trug den Untertitel "Und welche Ziele müssen wir verfolgen, um unsere Kolonien für Deutschlands Handel und Industrie allgemein nutzbar und segensreich zu gestalten?". Auch wenn sie noch in der Rede Bismarcks auf der sogenannten Kongo-Konferenz wie eine allgemeine zivilisatorische Aufgabe klang, war die Modernisierung ein Mittel der wirtschaftlichen Erschließung und Ausbeutung der Kolonien. Aber, wie schon gesagt, war ein solches Ziel nicht ohne die Mitarbeit der Einheimischen denkbar. In Europa hatte die wirtschaftliche Modernisierung fast zwangsläufig eine totale Verwandlung sozialer, politischer und kultureller Verhältnisse mit sich gebracht. In den Kolonien wollte man diesen Prozeß beschleunigen. Daher war ein durchdachtes Erziehungsprogramm notwendig. Auch wenn die Sozialdarwinisten solche Programme für total sinnlos betrachteten, zumal die Menschen für sie in vielen voneinander grundsätzlich verschiedenen Spezies bestanden, die voneinander nicht lernen konnten, zielte die Kolonialpolitik in den meisten Kolonialmetropolen auf eine Akkulturation, die alleine eine effiziente Eingliederung der Einheimischen in die modernen kapitalistischen Produktionsverhältnisse versprach. Gewiß, bis auf die sozialdemokratischen Kolonialtheoretiker, die die Kolonialpolitik begrüßten, wenn diese die Einheimischen zu einer programmierten Emanzipation führte, dachte keiner ernsthaft daran, eine Erziehung zu gewährleisten, die eine totale Angleichung an Europäer hätte bewirken können. Im Gegensatz wurde immer davor gewarnt, aus den Einheimischen Konkurrenten der Europäer zu machen. Die Akkulturations- und Modernisierungsbestrebungen zielten also darauf ab, Einheimische zu erziehen, aber ohne die Herrschaftsverhältnisse grundsätzlich zu verändern. Der Unterschied zum Erziehungsprogramm eines Las Casas besteht jetzt darin, daß die Existenz einer einheimischen Kultur nicht schlechthin negiert wird, sie wird im Gegenteil als Ausgangspunkt betrachtet, der durch Transformation, Einimpfen von neuen Werten, Anpassung an neue Erfordernisse Menschen befähigen soll, die neue Rolle, die ihnen zugedacht war, effektiver zu spielen. Die Kulturwissenschaft begründet also eine Erziehungswissenschaft.

Grundsätzlich hat sich an diesem Programm auch nach der Unabhängigkeit der Staaten nichts geändert. Modernisierung und Anpassung der Menschen wurde auch von den jungen Staaten und ihren Helfern als Ziel betrachtet. Zu diesem Zweck sollte eine Elite ausgebildet werden, die als Veränderungsagent das Verhalten der Massen durch Erziehung beeinflussen soll. In Afrika mußte sich in den sechziger und siebziger Jahren jede Wissenschaft und jede Kunst dadurch legitimieren, daß sie ihre Entwicklungsrelevanz unter Beweis stellt, und die Entwicklungsrelevanz wurde deutlich als Fähigkeit betrachtet, zu der Verwirklichung der verschiedenen Entwicklungsprojekte beizutragen. Kulturwissenschaften erhielten vom Staat eine doppelte Aufgabe: einerseits die afrikanische Kultur zu archivieren, zu dokumentieren und vor der totalen Vergessenheit zu retten, andererseits Mittel und Wege zu ihrer Veränderung zu untersuchen, um entwicklungsresistente Momente auszumachen und Strategien ihrer Überwindung zu entwickeln – eine oft widersprüchliche Aufgabe. Auch von Europa aus, wo sich die Kolonialrolle in eine Helferrolle umgewandelt hatte, wurde dasselbe Ziel verfolgt. In einer vom BMZ in Auftrag gegebenen Studie, die 1980 erstellt wurde, werden zwei Orientierungen in der Rollenauffassung der Entwicklungshelfer festgestellt: eine paternalistische und eine partnerschaftliche. Ich zitiere hier einige kennzeichnende Aussagen jeweils der paternalistischen und der partnerschaftlichen Rollenauffassungen. Zunächst die paternalistische: Die Menschen der Entwicklungsländer sind noch wenig kultiviert. Mit einiger gewissen Härte muß man ihnen zunächst Ordnung und Arbeitsdisziplin beibringen – als Entwicklungshelfer weiß man genau, was für die Menschen im Gastland am besten ist. Und jetzt die partnerschaftliche Orientierung: Entwicklungshelfer sollten mithelfen, die bestehenden politischen und gesellschaftlichen Strukturen zu verändern – Entwicklungshelfer sollten die Einheimischen nicht nur fachlich ausbilden, sondern müssen auch versuchen, ihr politisches und gesellschaftliches Bewußtsein zu beeinflussen. Interessanterweise dokumentieren beide Orientierungen Programme, die aus der Kolonialzeit herstammen und die von einem grundsätzlichen Defizit in den einheimischen Kulturen ausgehen, die durch Erziehung angepaßt werden sollen.

Die Anpassung der Entwicklung an die Kultur der Einheimischen

Seit ungefähr zwanzig Jahren erleben wir einen Paradigmawechsel, wenn nicht in der Praxis, so doch im Diskurs. Das Scheitern der drei Entwicklungsdekaden der UNO, deren Ziel es war, den infrastrukturellen und ökonomischen Rückstand der armen Länder gegenüber den reichen Ländern zu reduzieren, zwang die Spezialisten der Entwicklung zum Umdenken. Die meisten Entwicklungsprojekte hatten ihr Ziel nicht nur nicht erreicht, sondern erwiesen sich in manchen Fällen als unsinnig. Eine Analyse führte zu der Einsicht, daß das Scheitern der verschiedenen Entwicklungsansätze darauf zurückzuführen war, daß die betroffene Bevölkerung, für die die Entwicklung vorgesehen war, ihr entweder passiv gegenüberstand oder gar eine Resistenz ihr gegenüber entwickelte. Der Versuch, sie zu transformieren, um eine von außen induzierte Entwicklung mitzutragen, hatte also keinen Erfolg gezeitigt. Es wurde immer offensichtlicher, daß Wege gefunden werden mußten, um die Menschen zum Träger der Entwicklung zu machen und nicht nur zum Objekt. In diesem Zusammenhang wurde die Kultur wieder ins Spiel gebracht. Sogar bei der Weltbank, die sich bis dahin nur mit Zahlen, Tabellen und sonstigen Finanzgleichungen beschäftigte, wird der Begriff Kultur immer mehr großgeschrieben. Die sogenannten Neoinstitutionalisten gehen davon aus, daß die materielle Seite der Entwicklung durch eine institutionelle getragen werden muß. Das bedeutet, daß Menschen aufgrund von verinnerlichten Verhaltens- und Handlungsnormen Entscheidungen betreffend ihrer Gegenwart und ihrer Zukunft treffen, und nur solche Entscheidungen, die sie selber getroffen haben, vermögen auch mit Enthusiasmus und Zielstrebigkeit getragen zu werden. Aufgrund dieser Erkenntnis wird verlangt, daß nicht mehr versucht werden sollte, den Menschen an die Entwicklung anzupassen, sondern umgekehrt soll die Entwicklung den Menschen angepaßt werden. Nur so erhofft man sich eine größere Effizienz in der Durchführung von Entwicklungsprojekten.

Die Frage ist nur, wie können Entwicklungsstrategien und –projekte den soziohistorischen und kulturellen Begebenheiten der jeweiligen Bevölkerungen angepaßt werden? Wer definiert diese Begebenheiten? Als hermeneutische Wissenschaft ist die Kulturwissenschaft, die bei dieser Definition bemüht wird, abhängig von der Perspektive der Wissenschaftler. Ob man zum Beispiel von der Vorstellung der Kultur als etwas Naturwüchsigem und Unwandelbarem ausgeht oder von einer Vorstellung der Kultur als etwas, das sich ständig verändert, neu organisiert, wird man verschiedenes als Charakteristika der Kultur identifizieren. Auch lassen sich einige Aspekte der Kultur hypostasieren. Der Rekurs auf die Kulturwissenschaft, um ein Instrumentarium des sozialen Engineerings zu erarbeiten, ist nicht unproblematisch. Dies erklärt das Mißtrauen vieler Theoretiker und Praktiker der Entwicklung gegenüber diesen Versuchen. Das Mißtrauen gründet auf einer negativen Erfahrung mit ähnlichen Versuchen in der Vergangenheit.

Mit Bezug auf die einheimischen kulturellen und institutionellen Begebenheiten haben Kolonialbeamte in der Vergangenheit Ethnien geschaffen, die nie als solche existiert hatten, Häuptlinge bei Völkern eingesetzt, die eine solche Institution nicht kannten. Auch afrikanische Diktatoren haben die afrikanische Kultur, wie sie sie verstanden, als Vorwand genommen, um Freiheiten einzuschränken, Kreativität zu zügeln und Widersacher, die eine andere Vorstellung von der afrikanischen Zukunft hatten, zu drangsalieren.

Linguisten, Historiker und Anthropologen haben also oft Material geliefert, das in den Händen der Planer und Politiker zu einer gefährlichen Waffe wurde. Man bedenke, daß die ganze Apartheidpolitik sich auch als eine Anpassung der Entwicklung an die Kultur der Menschen verstand.

Kulturwissenschaft, so wie sie in diesem Zusammenhang praktiziert wird, ist eine hermeneutische Wissenschaft, mehr noch, sie ist eine exegetische Wissenschaft. Sie zielt darauf ab, Prozesse, Zeichen, Sprachen, Konstellationen zu deuten, ihnen einen Sinn zu geben und dadurch ein Verständnis von ihr zu gewinnen, das ermöglichen kann, eine Gesetzmäßigkeit zu postulieren, von der aus die Zukunft gedacht werden kann. In diesem Verstehensprozeß wird aber im Grunde die Vergangenheit und die Gegenwart von einer erwünschten Zukunft her gedeutet. Das heißt, sie wird so rekonstruiert, daß sie dem entspricht, was gewünscht wird. Die als Gesetzmäßigkeit entdeckte ist im Grunde nichts anderes als die Projektion von Zielen und Vorstellungen der Gegenwart. Die Kulturwissenschaft wird somit zur Rechtfertigung von politischen und gesellschaftlichen oder ökonomischen Zielen instrumentalisiert.

Ich bin der Meinung, daß die Kulturwissenschaften eine andere Funktion zu erfüllen haben, nämlich eine kritische. Dafür muß sie sich weniger als eine hermeneutische, als vielmehr eine diskursanalytische verstehen, und eine diskursanalytische Vorgehensweise zielt darauf ab zu zeigen, wie Standardisierungen im Verhalten und Denken durch Diskurse errreicht werden. Dabei hat sie die Möglichkeit, die Generierungsregel, die Mechanismen der Institutionalisierung der Diskurse aufzudecken und die Grundlage ihrer Macht aufzuzeigen. Eine solche Analyse kann genau zeigen, wie mit Kultur Politik gemacht wird. Nur eine solche Analyse vermag die Verschiedenheit der Möglichkeiten, dem Leben einen Sinn zu geben, sichtbar machen und dadurch dem Einheitsdenken entgegenwirken. Eine solche Analyse kann die Grundlage schaffen für ein Denken über Entwicklung, das nicht nur Entwicklung als Verwirklichung eines gegebenen Modells betrachtet, sondern als Vermehrung des Wohlseins und des Glückes.

© D. Simo (Yaounde)

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Bibliographie

Friedrich Schiller, Sämtliche Werke. 4. Bd. Historische Schriften, München 1962. Zit. S. 754.

Toni Morrison, Vom Schatten schwärmen. Essays, Reinbek bei Hamburg 1995. Zit. S. 52f.

Edward Said, Orientalism, London 1978. Zit. S. 89.

La Casas, zit. in: Leon Poliakov/ Christian Delacampagne/ Patrick Girard, Über den Rassismus. Sechzehn Kapitel zur Anatomie, Geschichte und Deutung des Rassenwahns, Stuttgart 1979, S. 69.

Hermann Bibo, Wie erzieht man am besten den Neger zur Plantagenarbeit? Und welche Ziele müssen wir verfolgen, um unsere Kolonien für Deutschlands Handel und Industrie allgemein nutzbar und segensreich zu gestalten?, Berlin 1989.

H. Kl. Schoenmeier/ G. Seidel/ H. Werth, Beiträge ehemaliger Entwicklungshelfer zur entwicklungspolitischen Bewußtseinsbildung der deutschen Öffentlichkeit, erstellt im Auftrag des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit, Saarbrücken 1984.


Webmeisterin: Angelika Czipin
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