Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 7. Nr. Mai 2001

Gedächtnis und Erinnern

Robert Schindel (R.S.) im Gespräch mit Motoi Hatsumi (M.H.), Naomi Ikeya (N.I.), Minoru Iwasaki (M.I.) und Karin Ruprechter-Prenn (K.R.)


KR: Wir stehen heute im Hinblick auf die barbarische NS-Vergangenheit an einer "Epochenschwelle in der kollektiven Erinnerung", wie der Ägyptologe und Kulturtheoretiker Jan Assmann behauptet, das heißt, an der Schwelle zwischen zwei kategorial verschiedenen Erinnerungsweisen. Er unterscheidet zwischen kommunikativem und kulturellem Gedächtnis. Das kommunikative Gedächtnis ist das lebendige Gedächtnis der Menschen, die die Nazizeit überlebt haben und darüber sprechen, das kulturelle Gedächtnis dagegen bezeichnet die institutionell abgesicherte Erinnerung der Nachgeborenen, z.B. in Form von Museen, Archiven oder Gedenkritualen. - Sie, Robert Schindel, sind 1944 geboren, waren als jüdisches Kleinkind in tödlicher Gefahr und überlebten wunderbarerweise. Sie sind also biografisch gesehen kein Nachgeborener, obwohl Sie von Ihrem Werk her zur "zweiten Generation" gezählt werden. Wie sehen Sie sich selbst? Schon als Nachgeborener oder irgendwo in einer Zwischenposition?

RS: Ich sehe mich deswegen dazwischen, weil mein 1. Lebensjahr dem Herrn Hitler gehört. Und das erste Lebensjahr ist ein sehr wichtiges Lebensjahr, wie man aus der Kinderpsychologie und Psychoanalyse weiß. Und dieses erste Lebensjahr habe ich zuerst bei meiner Mutter verbracht und dann nach ihrer Verhaftung durch die Nazis - das war eine radikale Trennung von einer Stunde auf die andere - in dunklen Räumen einer Kinderkrippe, von einer Kinderkrankheit zur anderen, in dem ständig bombardierten Wien. Ich kann mich an nichts erinnern, klarerweise, denn ich bin im April 1944 geboren und im April 1945 war der Krieg zu Ende. Aber es hat sich engrammmäßig natürlich eingeprägt, hat meine Träume, vor allem meine Kindheitsträume und mein Nervenkostüm getroffen. Insofern bin ich sicher ein Überlebender. Man hätte mich ja getötet, hätte man mich gefunden. Aber ein erinnernder Überlebender im Wortsinn kann ich nicht sein, denn das ist laut Psychoanalyse unmöglich. - Allerdings gibt es eine merkwürdige Erinnerung, von der niemand weiß. Das ist die Erinnerung von einem kollernden Ziegel, den ich möglicherweise während oder nach einem Bombenangriff aus einem Luftschutzkellerfenster gesehen habe. Und dieser Ziegel hat mich durch meine ganze Kindheit und Jugend begleitet. Er fällt und rollt und kollert. Ich kann mich an sehr sehr frühe Träume erinnern, aber sicher schon nach dem Krieg.

KR: Was Ihr eigenes Gedächtnis betrifft, so sind Sie zwar kein Zeitzeuge im strengen Sinn, jedoch in einer Gemeinschaft aufgewachsen, die ihre Erfahrungen im Widerstand und in KZs kommuniziert hat.

RS: Ja. Die Berichte von Überlebenden aus den Lagern sowie von Emigranten begleiten mich durch meine Kindheit und Jugend. Das ist Teil meiner Sozialisation. Ich habe diese Erfahrungen erzählt bekommen und nicht gelesen. Und das ist kommunikatives Gedächtnis einer Erinnerungsgemeinschaft. Mein Vater wurde im KZ Dachau ermordet, mein Stiefvater war 5 Jahre in Dachau, meine Mutter in Auschwitz und in Ravensbrück, mein Onkel in Dachau und in Buchenwald, später in England.

MI: Die Problematik der Erinnerung, der Erinnerungsräume ist zu einem allgemeinen wissenschaftlichen Thema geworden und führt gelegentlich auch in Japan zu hitzigen politischen Diskussionen, wie am Beispiel der koreanischen "Comfort women", die im Krieg von Japanern zur Zwangsprostitution gezwungen worden waren, zu beobachten ist. - Ihre Werke enthalten auch die Thematik des "Vergessens", und ein ähnliches Problem gibt es auch in Japan: Die Virulenz des Themas Erinnern und Gedächtnis gerade nach einer Periode der "Unterdrückungskultur" und der "Vergessenskultur". Meinem Eindruck nach denken wir, Europäer und Japaner, seit diesen 20 Jahren in zwar so verschienenen Kontexten und Bereichen, aber komischerweise mit gleicheren oder ähnlicheren Vokabularen als wir meinen. So können wir in Ihren Werken auch unsere eigene Problematik des Gedächtnisses erblicken. Haben Sie darüber schon mit japanischen Wissenschaftlern gesprochen?

RS: Noch nicht. Aber ich habe bei einer Lesung die Studenten gefragt, ob sie sich auch mit dem Thema Vergangenheit und Judendeportationen oder dem Gegenwärtigmachen von Vergangenheit der eigenen japanischen Geschichte beschäftigt haben. Ob sie etwas damit anfangen können. Und die Studenten haben sich durch die weltberühmte japanische Zurückhaltung ausgezeichnet und nicht geantwortet. Vermutlich - ich habe darüber mit nicht-japanischen HochschullehrerInnen gesprochen - ist es nicht üblich, dass sich japanische Studenten auch mit Politik oder Geschichte befassen. Sie fragen nicht ihre Väter oder Großväter: Wo warst du im Krieg? Was hast du im Krieg gemacht? Jedenfalls habe ich in den wenigen Tagen meiner Anwesenheit in Tokio nichts darüber erfahren.- Ich glaube aber, weil ich das auch aus den Medien weiß, dass hier schon eine Diskussion über japanische Kriegsverbrechen im Gange ist. Es gibt ja, so hörte ich, in Tokio einen Ort, wo Menschen begraben sind, die möglicherweise Kriegsverbrechen begangen haben; Grabstätten, denen Politiker Besuche abstatten. Und das wird diskutiert. Ich nehme an, dass auch in Japan sich diese Diskussion fortsetzen wird, weil Erinnerung sich nicht auf Dauer unterdrücken lässt. Als ein Zeichen dafür werte ich auch das Übersetzen und Erscheinen von Büchern wie die von Primo Levi beispielsweise.

MH: Sie haben in Ihrem Roman "Gebürtig" einen Mann dargestellt, der einen Nazi-Vater hatte, Konrad Sachs. Das weist auf einen Schwerpunkt der 68er Generation hin im Sinne von "Was haben unsere Väter gemacht?" - Bei uns in Japan wurde nicht so heftig gefragt. Wie Sie schon bemerkt haben, ist das ziemlich anders. - Sie sind aber auf einer anderen Ebene als die 68-Generation. Ich kann nur abstrakt fragen: Wo stehen Sie?

RS: Es gab bei den 68ern eine Teilung in die Kinder der Täter/Mitläufer und in die der Juden/Opfer. 1968 haben sie versucht, miteinander ein Bündnis einzugehen, v.a. in Deutschland.
"Vati, was hast du im Krieg gemacht?" Das hat uns jüdische Leute natürlich auch interessiert, wie gehen unsere Kommilitonen, die Nazi-Kinder quasi, mit ihren Nazi-Eltern um. (Ich generalisiere, denn nicht alle hatten Nazi-Eltern.) Das ist in Österreich nicht so intensiv geschehen wie in Deutschland. In Österreich wurde diese Diskussion nicht 1968 sondern 1986 geführt angesichts Waldheim. Da ist es losgegangen. 1968 ging es anders zu.

MH: Weniger Fragen?

RS: Andere Fragen. Es ging mehr ums gegenwärtige Establishment, um verkrustete Strukturen, veraltete Politik, Emanzipation, die freie Liebe. Die Beschäftigung mit der Vergangenheit war in Deutschland entscheidend. Dieser Prozess begann dort sehr viel früher, während Österreich sich ja lange Zeit nur als Opfer Hitler-Deutschlands gesehen hat. - Aber es hat sich später auch in Deutschland herausgestellt: Die Söhne sterben vor den Vätern. Denn die nicht-jüdischen 68er Söhne haben sich sehr bald, nämlich in den 80er Jahren, mit ihren Nazi-Vätern versöhnt. Man sieht es ja auch bei den Linken an ihrer Haltung gegenüber Israel. Sie haben versucht, aus linken Motiven Israel zu attackieren und zu behaupten, Israel mache jetzt mit den Palästinensern, was die Deutschen mit den Juden gemacht haben. D.h., sie haben begonnen, ihre eigenen Väter zu entlasten, deren Rede ungefähr folgenden Sinn ergab: Der Hitler hat ja irgendwie Recht gehabt mit den Juden, denn seht, was sie jetzt mit den Arabern machen. - Und rund um den Golfkrieg gab es dann die große Spaltung zwischen den jüdischen und nicht-jüdischen Mitbürgern der sogenannten zweiten Generation. Juden haben Teile der Friedensbewegung kritisiert: Ihr unterstützt Menschen, die Juden umbringen wollen, ihr seid gar nicht für einen Nahostfrieden, ihr seid nur für einen Frieden auf Kosten Israels. Ihr solidarisiert euch mit einem ganz fremden Volk, aber mit den eigenen Juden im Land könnt ihr euch nicht solidarisieren. Das war die Auseinandersetzung zu Beginn der 90er Jahre. Dieser Versuch von 1968 in Deutschland ist gescheitert. So steht jetzt die Diskussion.

KR: Die Figur des Konrad Sachs, um wieder auf Ihren Roman zurückzukommen, ist natürlich keine österreichische Figur. Er ist ein herausragender Vertreter der deutschen Schuldkultur. Er stellt sich der für ihn traumatischen Vergangenheit und setzt sich einem Prozess aus, der sehr stark dem Freudschen Modell von Erinnerungsarbeit zu folgen scheint, nämlich Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten. Auch Freuds "Wunderblock" ließe sich hier anführen.

RS: Ja, absolut. Sachs ist eine deutsche Figur, und Freuds Analysen spielen eine große Rolle. Ich habe ja selbst eine Psychoanalyse gemacht. Sachs hat, das weiß man zwar in Deutschland aber in Japan vielleicht nicht, ein reales Vorbild. Das ist Niklas Frank, mit dem ich befreundet bin. Er ist der Sohn von Hans Frank, der in der NS-Zeit Generalgouverneur von Polen war und 1946 bei den Nürnberger Prozessen hingerichtet wurde. - Niklas Frank hat das Buch "Der Vater" geschrieben, das ich absichtlich nicht gelesen habe, um frei zu sein, eine literarische Figur zu erfinden. Allerdings gibt es einige wichtige Details aus seiner Lebensgeschichte, die er mir erzählt hat und die ich beim Schreiben verwendet habe. Niklas Frank ist für mich ein Paradigma, und zwar ein untypisches. Denn das ist ja ein Mensch, der die Schuld sozusagen auf sich nimmt, obwohl er gar nicht schuld ist, und der versucht, sich davon zu befreien. Die meisten seiner Generation haben irgendwann einmal gesagt, wir sind nicht schuld und haben das Thema gelassen.

MI: Das Problem, wie man über den Holocaust schreiben kann, ist meiner Meinung nach äußerst kompliziert. Ich glaube, seit James Youngs Werk "Writing and Rewriting the Holocaust" verbietet sich sozusagen eine einfache Behandlung dieser Thematik.

KR: Ja, Youngs "Beschreiben des Holocaust" in den 80er Jahren war ein zeichentheoretischer Ansatz, der für literarische Zeugnisse des Holocaust, aber auch für Denkmäler, eine Lesart forderte, die ästhetischen Qualitätsmaßstäben genügen müsse. "Hermeneutische Normalität" nannte er das. Die Authentizität des Erlebten allein - in der Literatur über die Katastrophe der Judenvernichtung - genügte nicht mehr, der literaturkritische Zugriff war angesagt.

RS: Es ist immer so, dass in dem Augenblick, wo die Shoah Gegenstand einer künstlerischen Betrachtung ist, sei es nun bildnerisch oder literarisch, die ästhetischen Kriterien die ersten und wichtigsten sind, denn nur über die ästhetischen kann ich Inhalte in die Köpfe und Herzen der Menschen transportieren. Wenn ich ein Interesse daran habe, dass die Menschen wissen, was der Fall war und verstehen, was geschehen ist, dann muss ich es so transportieren, dass sie es auch verstehen. Also muss ich ästhetisch so verfahren, dass mein Werk angenommen wird. Die Eins-zu-Eins-Problematik, quasi so war es und so beschreibe ich es, ohne ästhetische Bearbeitung, wirkt dann wie eine Lüge, ein Klischee, obwohl es wahr ist. So wie man Sonnenuntergänge eins zu eins malen kann. Die wirken dann kitschig. Das heißt, man muss bei jeder künstlerischen Bearbeitung indirekt vorgehen, damit es einen Eindruck auf den Rezipienten hat. Das ist das Problem. Nicht nur bei der Holocaust-Literatur, sondern bei jeder Art von Literatur. Aber natürlich, wenn man über die Shoah schreibt, gibt es viele Gefahren. Man kann sie verharmlosen oder verkitschen oder lügen, deshalb ist das Gebiet schwierig. Ich selber habe nicht über die Shoah geschrieben sondern über ihre Auswirkungen. Ich maße mir nicht an, etwa den Vorgang einer Vergasung zu beschreiben. Das kann man nicht machen. Das kann nicht einmal derjenige machen, der im Sonderkommando bei den Gaskammern gearbeitet hat. Eine künstlerische Bearbeitung wäre da sofort eine Verharmlosung. Aber man kann die Folgen dieser ganzen Handlungen auf einzelne Menschen künstlerisch behandeln.

KR: Also gibt es etwas Inkommunikables.

RS: Absolut.

KR: Vielleicht können wir daran das berühmte Verdikt Adornos anschließen, dass Gedichte schreiben nach Auschwitz barbarisch sei. Er hat die Aussage später abgeschwächt, aber sie hat sich als Bezugspunkt in Diskussionen erhalten. Wie gehen Sie mit seiner Aussage um, zumal Sie auch schon immer Gedichte geschrieben haben?

RS: Die Abschwächung war genau so, wie ich es immer schon verstanden hatte, nämlich dass man in Europa, in Mitteleuropa zumindest, kein Gedicht mehr schreiben kann, ohne dass Auschwitz anwesend ist. Das ist Adornos Aussage. Wie heißt es bei Bertolt Brecht: "Was sind das für Zeiten/ wo ein Gedicht über Bäume/ fast ein Verbrechen ist/ weil es das Verschweigen/ über so viele Untaten miteinschließt." Darauf bezieht sich Adorno, wenn er schreibt, wir können nicht mehr über die Liebe in Mitteleuropa schreiben, angesichts der Krematorien von Auschwitz, angesichts des großen Zivilisationsbruchs, der ja ganz Europa, vielleicht sogar die ganze Welt, betrifft. Dass man keine Gedichte mehr verfassen kann, wo nicht indirekt Auschwitz anwesend ist, dem kann ich auch zustimmen.

KR: Auschwitz nicht nur als Gründungsmythos Deutschlands, sondern auch als "Schöpfungsmythos" in der Kunst?

RS: Warum Mythos?

KR: Weil Auschwitz der Fixpunkt unserer jüngeren Vergangenheit im kollektiven Gedächtnis ist. Und im kulturellen Gedächtnis, wie Jan Assmann sagt, wird die faktische Geschichte in erinnerte und damit in Mythos transformiert, im Sinne einer Verdichtung. Dadurch wird das Historische nicht entwirklicht, sondern es gewinnt erst seine allgemeine Bedeutsamkeit - und das ist das kollektive Gedächtnis - als fortdauernde Kraft. Wir haben Gedenkrituale, Mahnmale und die vielen Auseinandersetzungen auch in der Kunst. Deshalb "Schöpfungsmythos"- der Begriff stammt ja vom ungarisch-jüdischen Schriftsteller Imre Kertesz, der Auschwitz auch ein universales Gleichnis nannte, sogar ein universelles Erlebnis.

MI: Ach! Sozusagen Auschwitz als transzendentale Bedingung.

RS: Dem würde ich auch zustimmen.

KR: Sie leben ja in Österreich, im 'Land der Täter', also in einer spannungsreichen Situation. Ich nehme an, Sie erhalten genau dadurch auch einen Schreibantrieb. Ich möchte zwei Zitate erwähnen: In einem Essay heißt es "Heimat (zu) produzieren inmitten der Heimatlosigkeit", und in Ihrem Roman "Suche nach der inneren Geographie".

RS: Wien generiert sich für mich als Heimat in der wienerischen Sprache und nicht unbedingt in den wienerischen Menschen, denn diese geben mir von Zeit zu Zeit zu verstehen, dass ich eigentlich nicht dazugehöre. Übertrieben gesagt: Kein Jude kann ein echter Wiener sein. Obwohl viele Juden typisch wienerisches geschrieben haben: z.B. das Fiakerlied oder sehr viele Operettenlibretti. - Die Juden waren meiner Meinung nach echte Wiener, so wie sie echte Deutsche oder Franzosen waren, wenn man sie gelassen hat. Sie haben das Jüdische quasi als Erinnerung, als Religion oder als Herkunft in sich getragen, waren von sich aus also sehr assimiliert und wollten es auch sein. Sie sind aber dann von den Antisemiten, im Falle Wiens einmal von einem Bürgermeister, der ein Lehrer Hitlers war, Dr. Karl Lueger, später von Hitler selbst auf ihr Judentum zurückgeworfen worden. D.h., die Lehre ist für mich heute die: Ich kann nur dort mich als heimatlich empfinden, wo ich selbstverständlich dazugehöre und nicht je nach politischen Verhältnissen einmal dazugehöre und einmal nicht. Sie als Japaner werden, auch wenn Sie vollkommen gegen die Regierung sind, immer in Japan als Japaner akzeptiert werden. Man wird vielleicht sagen, Sie sind ein schlechter Japaner, aber man wird nicht sagen, Sie sind kein Japaner.- So gesehen kann Wien/Österreich nicht wirklich meine Heimat sein. Aber Wien und Österreich stellt sich bei mir in der typisch wienerischen, österreichischen und deutschen Sprache dar. Und dort fand ich meine Heimat, dort kann ich durch Sätze Häuser bauen, Wände aufstellen, Menschen erzeugen, mit denen ich befreundet bin. Ich kann mir also meine Heimat durch Sprache produzieren.

MH: Biografischen Informationen entnehme ich, dass Sie zu Beginn der 80er Jahre in die Israelitische Kultusgemeinde eingetreten sind. Was bedeutet das für Sie? Gab es für Sie vielleicht eine Art Kehre oder Wende?

RS: Ja natürlich. Ich habe erst im Verlauf der 80er Jahre, nachdem die politischen Illusionen zusammengebrochen waren, wieder zu den Wurzeln der 60er Jahre zurückgefunden. Ich war ja zuerst in der Studentenbewegung aktiv, und damals solidarisierten wir uns mit den Ländern der Dritten Welt, also auch mit den Palästinensern im Nahen Osten. Und ich gehöre ja auch in Israel zu denjenigen, die die Rechten kritisieren, für den Friedensprozess und die Versöhnung mit den Palästinensern eintreten. Aber damals hat das Thema Judentum keine Rolle gespielt, weshalb ich es auch verdrängt habe. Nach der Ernüchterung, dass der Sozialismus ein Stalinismus und ein Poststalinismus war - und keine Perspektive für eine menschliche Welt, tauchte die Frage nach meiner Herkunft auf. So ist die jüdische Identität wieder stärker in den Vordergrund getreten. Ich habe dann auch als Jude der zweiten Generation Interviews gegeben, bin also öffentlich als Jude aufgetreten, ohne Steuer zahlendes Mitglied der Kultusgemeinde zu sein. Ich bin nicht aus religiösen Gründen eingetreten, sondern weil ich - wie viele anderen Juden auch - ein Zusammengehörigkeitsgefühl zu einer Schicksalsgemeinschaft empfinde.

MH: Aber Israel wäre keine Heimat?

RS: Nein, das kann man nicht sagen. Israel ist bestenfalls eine Zufluchtstätte, eine Heimstatt für die Juden der Welt. Aber wie heißt es so schön: Man flüchtet aufs Schlachtfeld. Denn in Israel ist es gegenwärtig viel unsicherer als in Österreich. Was ist das für eine Zufluchtstätte! Denn die stehen ja dort am Rande eines Bürgerkriegs. Vom Krieg mit den Palästinensern gar nicht zu reden! - Aber viele ältere Wiener Juden sagen immer wieder, sie können in Wien so leben, wie sie leben, weil es Israel gibt. Ich selber würde als Exil Schweden vorziehen, wie Peter Weiss.
Im Jüdischen in Verbindung mit dem Wienerischen, besonders in der wienerisch-jüdischen Literatur finde ich schon eine Heimat: Ich empfinde mich sehr stark als Jude in Wien und sehe mich in einer bestimmten Tradition zu Kuh, Polgar und Schnitzler. - Aber mit den Juden selbst in Österreich bin ich nicht besser befreundet als mit Nichtjuden. Das ist ein durchmischter Freundeskreis.

KR: Im Roman "Gebürtig" erkennen wir eine klare Trennung in jüdische und nicht-jüdische Figuren, und gerade die erotischen Spannungsverhältnisse, wo es zu punktuellen Überschreitungen kommt, zeigen die Differenz am deutlichsten.

RS: Zu Beginn der 80er Jahre, vor allem ab Mitte der 80er Jahre, mit und nach der Diskussion um den Bundespräsidenten mit dem "schlechten Gedächtnis", Waldheim, kam es zu neuen Annäherungen, weil viele nicht-jüdische Mitbürger eindeutig Stellung bezogen haben gegen die Naziväter, gegen die Nazi-Verdrängung, gegen die Lügen bezüglich der österreichischen NS-Vergangenheit. Und so war es individuell möglich, die gläserne Wand, die zwischen Juden und Nichtjuden gezogen ist, zu überwinden.

KR: In einem Essay schreiben Sie, es könne keine Normalität geben, "bis ins siebte Glied" der Generationen nicht. - Normalität im Zusammenleben ist also nur im Einzelfall möglich?

RS: Nur im Einzelfall. "Bis ins siebte Glied" ist ein Bibelzitat. Damit will ich ausdrücken, das Verbrechen der Shoah ist so ein gewaltiger Zivilisationsbruch, dass man nicht sagen kann: So jetzt sind alle Täter und Opfer gestorben, jetzt ist das Problem beendet. Die Vernichtung des europäischen Judentums war ja auch die Vernichtung der europäischen Intelligenz in vielen Ländern, v.a. in Deutschland und Österreich. Das osteuropäische Judentum war ein unverzichtbarer Energiespeicher, gerade auch für den Westen. Ein ungeheures lebendiges Potential wurde zerstört. Das war ein derartig monströses Verbrechen, auch in der Vorgangsweise: Diese Kälte der Vernichtung.
Wie folgenschwer solche Menschheitsverbrechen sind, hat der Sozialhistoriker Norbert Elias festgehalten. Wenn wir Elias glauben können, leidet Deutschland heute noch an den Folgen des 30jährigen Kriegs (1618-48): Dass der deutsche Militarismus um die Jahrhundertwende u.a. als eine Spätfolge der Demütigungen des 30jährigen Kriegs zu sehen ist, dass man endlich auch eine Weltmacht sein wollte. Sollte das stimmen, kann man sich vorstellen, wie lange es dauert, bis ein derartiger Zivilisationsbruch wirklich verarbeitet ist. D.h., 100 Jahre wird es dauern, bis man die Shoah betrachten kann wie Geschichte. Wie vielleicht den 30jährigen Krieg. Es ist niemand mehr direkt oder indirekt betroffen.

KR: In Ihrem Gedicht "Vineta I" heißt es zu Wien "Einst Welthauptstadt des Antisemitismus ist sie heute Vergessenshauptstadt worden". und in Ihrem Essay "Mein Wien" schreiben Sie von der Stadt "ohne Wirbelsäule". Neben der deutlichen Anspielung auf den antisemitischen Wiener Bürgermeister Dr. Karl Lueger von 1897, den schon erwähnten Lehrer Hitlers, sprechen diese Aussagen wohl von einem fehlenden Rückgrat, sprich mangelnder aufrechten Haltung. Hat diese an sich so geschichtsträchtige Stadt eigentlich genügend Zeichen der Erinnerung an jüdische Mitbürger gesetzt? Ich meine die Opfer und auch die Menschen, die sehr viel zum Ruhm dieser Stadt beigetragen haben.

RS: Nein, nein. Keinesfalls. Da gibt es viel zu wenig. An einer Stadt kann man immer merken, wie sie sich zu ihrer Vergangenheit verhält. Wenn man bedenkt, dass Karl Lueger an mehreren markanten Stellen der Stadt präsent ist - ein Teil des Rings, also der Promenadenstraße Wiens, ist nach ihm benannt, und dann in Form eines großen Denkmals - und die Siegmund Freud-Tafel, nach dem ein kleiner Park benannt ist, fast zu übersehen ist. Auch nach Arthur Schnitzler ist meines Wissens nach keine Straße benannt, aber nach vielen Antisemiten schon. - An die NS-Zeit erinnerte lange Zeit nur ein einziges Mahnmal an einer höchst ungünstigen Stelle zwischen einer Tankstelle und einer Tiefgarage, wo das Haus der Gestapo gelegen war, nämlich ein den "Opfern des Faschismus" gewidmetes Mahnmal von 1945. Erst in den 80er Jahren, als die Vergangenheitsdiskussion in Österreich begann, wurde an zentraler Stelle ein Denkmal gegen Krieg und Faschismus errichtet. Aber erst nach jahrelangen Denkmaldebatten und heftigen Streitereien, genauso wie beim jüngsten Beispiel, dem "Holocaust-Denkmal", für das sich auch Simon Wiesenthal sehr stark eingesetzt hatte. Es stammt von der englischen Künstlerin Rachel Whiteread und steht auf dem geschichtsträchtigen Wiener Judenplatz. Im Herbst 2000 wurde es eingeweiht. - Das sind die drei zentralen Denkmäler zur NS-Zeit, soweit hat es Wien schon gebracht. Aber es fehlen ein Platz der ermordeten Juden, ein Platz für Demokratie und Freiheit, aber auch die öffentliche Erinnerung an die Widerstandskämpfer. Wir haben zuwenig solche Erinnerungräume. Insofern kann man nicht behaupten, dass Wien sich in seinem Habitus seiner Vergangenheit schon genügend gestellt hat.

MI: In Youngs "The Texture of Memory" geht es auch um die Denkmalsproblematik. Man kann erkennen, dass das Errichten eines Denkmals auch eine Methode ist, das Gedächtnis zu manipulieren.

RS: Ja, absolut. Man kann statt einer Auseinandersetzung auch ein Denkmal setzen. Es fungiert dann als Alibi für eine lebendige Auseinandersetzung. Man kann aber auch eine Diskussion in Gang setzen. Beides ist möglich. Es hängt vom Denkmal ab, wie man damit umgeht und wie die Menschen es annehmen. Ich persönlich brauche ja kein jüdisches Denkmal, ich trage ja die Erinnerung an meine Leute in mir. Aber ich denke eben auch, eine jede Stadt hat die Erinnerung, die sie verdient. Hätte jedoch eine Stadt kein Denkmal, wäre es noch schlimmer, als wenn sie ein "falsches" hätte. Deshalb glaube ich, dass die Diskussion um das zentrale Holocaust-Denkmal in Berlin verkehrt läuft. Hätte nämlich die deutsche Regierung sich gegen ein zentrales Denkmal entschieden, würden gerade die jetzigen Denkmal-Kritiker, darunter auch viele Juden, protestieren.
Es ist zwiespältig: Denkmäler brauchen wir zu Repräsentationszwecken, und dann kommt es darauf an, was die Leute damit machen. Ob sie ein Denkmal lebendig machen, in ihr gegenwärtiges Leben integrieren oder es als Alibi an den Rand stellen. So ein Denkmal kann auch eine Lackmus-Probe sein: Wie geht eine Bevölkerung mit der Geschichte um?

KR: Es liegt auch an der künstlerischen Gestaltung - und das haben Sie auch selbst schon gesagt, ob und wie der Umgang mit dem Denkmal möglich ist. Moderne Denkmäler haben doch den Anspruch autonomer Kunstwerke und zugleich Referenzcharakter, indem ja an etwas erinnert werden soll. Das ist eine schwierige Herausforderung. Ist nämlich die künstlerische Formensprache zu abstrakt, findet das Denkmal zu wenig Akzeptanz in der Bevölkerung, ist die Referenz bzw. der Erinnerungsappell zu klar, nennt es eine andere Gruppe vielleicht kitschig. Ein besonderes Beispiel ist für mich der Künstler Jochen Gerz, dessen interaktive Arbeiten die Leute zur Mitgestaltung provozieren, und dessen Arbeiten eine nur begrenzte Zeitdauer haben. Dann verschwinden sie z.B. unter der Erde. Oder er dreht die mit KZ-Opfernamen beschrifteten Pflastersteine um und die Fußgänger gehen darüber. Er macht das Denkmal quasi wieder unsichtbar. Das entspricht vielleicht auch der menschlichen Psyche: Erinnern ist nur möglich, wenn es auch ein Vergessen gibt.

RS: Ich halte die ästhetische Diskussion für eine Scheindiskussion, denn die repräsentative Aufgabe muss sein. Ebenso wie die Regierung ins ehemalige KZ Mauthausen zu Gedenkfeiern geht. Geht sie nicht nach Mauthausen, ist es ein Skandal. Es muss sein. Es muss ein Denkmal sein. Wer sagt denn, dass es eine Auseinandersetzung mit dem Denkmal geben muss? Wichtig ist, dass, wenn eines da steht, eine Diskussion entsteht darüber, dass es da steht und was es bedeutet. Z.B.: Leute kommen, legen Blumen nieder, die Medien berichten, das Denkmal steht im Reiseführer, Touristen wollen es sehen usw. D.h., das Denkmal verändert sich mit der Zeit. Dasselbe gilt für ein Holocaust-Denkmal. Es hat die repräsentative Aufgabe und es hält die Erinnerung wach. Oder die Bevölkerung hakt die Sache als erledigt ab, wie schon erwähnt. - Die Art und Weise, wie ein Denkmal aussieht, ist meiner Meinung nach sekundär. Wenn eine Bevölkerung sich nicht mit der NS-Vergangenheit befassen will, dann wird sie sich auch nicht damit befassen, wenn das Denkmal interaktiv ist.

KR: Ich bezweifle, ob man von der Bevölkerung sprechen kann. Das ist ja keine kohärente Gruppe. Sonst hätten wir ja die langjährigen Debatten nicht, die vielleicht einen guten Sinn haben: Solange debattiert wird, herrscht lebendige Auseinandersetzung.

RS: Die Diskussion um die Ästhetik hat ja gedroht, das Denkmal in Berlin zu verhindern. Man kann es nicht allen recht machen. Man muss etwas setzen. Aber viele Juden gehen nicht mit mir konform. Sie sehen hauptsächlich die Gefahr, dass die deutsche Regierung sich damit ein gutes Gewissen verschaffen will und die Sache selber vergisst. - Ich habe eine Frage an die japanischen Gesprächspartner: Gibt es in Japan Denkmäler, die an die nicht-japanischen Opfer des Krieges erinnern?

MI: In Hiroshima gibt es seit einiger Zeit ein eigenes Denkmal für die Koreaner, die bei der Atombombe ums Leben gekommen sind. Aber das ist ziemlich neu.

RS: Aber die Atombombe haben die Amerikaner abgeworfen, nicht die Japaner.

MI: Ja. Aber dennoch wollten die meisten Japaner lange Zeit nicht anerkennen, dass etwa 20% der Opfer Koreaner waren. Das war eine Art Tabu, nicht nur für das rechte Lager, sondern auch für die Aktivisten des Anti-Atombomben Bewegung. Für Japaner und die japanische narzißtische Stimmung der Nachkriegszeit sollte (oder wollte) das Ereignis am 15. August gerade eine besondere nationale Tragödie nur für "uns" Japaner sein und die Opfer mussten vielleicht unschuldig, schön und rein sein. Aber das damalige Hiroshima war natürlich auch eine der wichtigsten Städte für die japanische Waffenproduktion. Daher wurden so viele Koreaner und Chinesen als Zwangsarbeiter nach Hiroshima gebracht.
Denkmäler für nicht-japanische Opfer, die durch Japaner gestorben sind, gibt es z.B. auf Okinawa. Ich kenne zwei Beispiele. Eins wurde von den Koreanern gestiftet. Es weist in Richtung Korea, der Heimat der Opfer. Der Text auf dem Stein klagt japanische koloniale Gewalt an. Ein anders ist ganz neu. Das wurde vom Ex-Gouverneur Mr. Ora gestiftet und wird "Heiwa no Ishizi", "Der Grund des Friedens" genannt. Dieses Monument ist ausnahmsweise gut überlegt. Es deutet die Form einer Welle an, also nicht hoch, weich und nie vertikal. Das ist in einem Sinn ähnlich wie Mays In Rins "VVMF-Monument" in Washington in den Vereinigten Staaten von Amerika. Das Wichtigste im Konzept dieses Monuments ist, dass die Stifter in den Stein des Monuments nicht nur die Namen der Japaner, oder nicht nur der Soldaten, sondern auch aller Leute, aller Opfer, also auch aller Koreaner und Amerikaner einzugravieren versucht haben, obwohl dieses Angebot oft von den Hinterbliebenen in Korea verweigert wurde. Generell gesagt finden sich in Japan sehr wenige solche Erinnerungsplätze. Denkmäler sind meistens nicht-modernistisch, sondern konventionell und "realistisch" gemacht. Dies zeigt das unklare Bewusstsein dafür, wie die Formen der Trauerarbeit sein müssen, und was für eine Politik dabei funktionieren könnte.
Darf ich das Thema wechseln und Sie bitten, Stellung zum Krieg in Ex-Jugoslawien zu nehmen? Österreich befindet sich ja in einer besonderen geopolitischen Lage zu den Balkanländern, und Sie haben auch darüber geschrieben.

RS: Ich habe mich in Form von Gedichtendamit auseinandergesetzt. Es waren die Folgen der stalinistischen und poststalinistischen Vergangenheit, die den Krieg in Jugoslawien ausgelöst haben. Eigentlich war der Stalinismus ein Negativabdruck des Nationalismus, der zwar den Nationalismus zugedeckt und ihm gleichzeitig Zeit gegeben hat zu wachsen und zu reifen. Zieht man dann die stalinistische Decke weg, kommt der Nationalismus heraus. Die schlimmsten nationalistischen Kriege, die Europa seit 1945 erlebt hat, haben stattgefunden. Mit einem ungeheuren Hass sind die Völker aufeinander losgegangen, die gerade zuvor noch friedlich miteinander gelebt haben. Es war für mich ein großer Schock und Einriß in die Conditio Humana. In der Sterbestunde des Sozialismus gebiert er derartige Nationalismen; das muss dem Sozialismus immanent gewesen sein. - Von Österreich aus nimmt man das natürlich stark wahr: Ich kann ja nicht vom Wiener Kaffeehaus wie auf eine Bühne schauen, wenn 200-300 km entfernt zehntausende Leute massakriert und massenweise Frauen vergewaltigt werden; wenn die Serben oder Kroaten sich gegenseitig als den letzten Dreck bezeichnen, also der Nationalismus schon wieder eine Herrenideologie aufbaut. Dazu wollte ich Stellung beziehen, weil mich wie viele dieser Krieg "vor der Haustür" sehr erschreckt hat.
Und da gibt es natürlich auch ein historisches Gedächtnis: Der historische Konnex einzelner jugoslawischer Völker zur K.u.K.-Monarchie, wo die Slowenen und Kroaten Teil der Monarchie und die Serben die Gegner Österreichs waren. Und da entstand ja auch ein Antiserbentum, denn die österreichische Presse damals hat auch aus religiösen Gründen eine Serbenhetze betrieben, gegen die orthodoxen Serben, zugunsten der katholischen Slowenen und Kroaten. Wie damals hat in der jüngsten Gegenwart eine Serbenhetze begonnen, gegen die sich ein Schriftsteller wie Peter Handke in einer Serie von Büchern gewehrt hat.

MI: Während des Kriegs in Ex-Jugoslawien wurde auch die "Vernichtung des Gedächtnisses" diskutiert, von einem "Krieg des Gedächtnisses" gesprochen. Beide Lager versuchten nicht nur den Gegner sondern auch ihre Erinnerung, also das kulturelle Gedächtnis zu vernichten. Z.B. die Zerstörung von kulturellen Archiven wie Bibliotheken. - Und in einem Sinn war dieser Krieg auch eine Wiederkehr der Vergangenheit vor 50 Jahren.

RS: Sicherlich. Die Kroaten haben ihre faschistische Ustascha-Flagge als neue Nationalfahne genommen, also ein Symbol, das auch für kroatische KZs steht, wo viele Serben ermordet worden sind. Das war eine große Provokation für die Serben. - Im Krieg war das serbische Militär zahlenmäßig überlegen, deshalb haben die Serben die Hauptschuld, weil sie mehr Verbrechen begehen konnten. Ideologisch tragen beide Seiten gleichermaßen Schuld an dieser Re-Nationalisierung. Aber wie alle Kriege war das ein Krieg, der im Namen des Gedächtnisses geführt wurde.
Die Kroaten haben sich an Jelacic erinnert, die Serben an die Schlacht auf dem Amselfeld, und plötzlich ist die ganze Vergangenheit da gestanden, im Namen von Leuten, die seit vielen 100 Jahren tot sind, hat man Krieg zu führen begonnen. Und das ist halt besonders tragisch gewesen. - Ich glaube auch, dass der Frieden noch sehr brüchig ist. Ich habe Sarajewo besucht, da wäre ohne die UNO noch die Hölle los. - Aber nicht, dass Sie denken, ich interessiere mich für das alles, weil ich Jude bin und es den Holocaust gegeben hat. Menschen wie mich, die in der Nähe wohnen, hat das affiziert; jeden politisch denkenden Menschen, jeden, der die Menschenrechte als Basis und Maxime seiner eigenen Handlungen nimmt, wurde irgendwie in diesen Krieg ‚vor der Haustür' hineingegezogen.

NI: Über Serbien haben Schriftsteller wie Peter Handke geschrieben, nämlich über das Problem der Gerechtigkeit, Genauigkeit und Wahrhaftigkeit der Sprache. Das waren ja die Postulate von Handke. Wie kann Sprache dem angemessen sein?

RS: Das lässt sich schwer beschreiben, das lässt sich nur demonstrieren am Text selber. Ich kann bei Handke sehen, dass seine Genauigkeit und seine Präzision ihn ja auch in die Irre geführt haben, weil er vor lauter Ärger darüber, dass falsch über Serbien geschrieben wurde, in seinem Bericht "Gerechtigkeit für Serbien" dann eine proserbische Position bezogen hat, die ganz ungenau ist und den Tatsachen nicht entspricht. Er hat das Gleiche gemacht, was er seinen Gegnern vorgeworfen hat, nur auf der serbischen Seite. Ich hätte mir gewünscht, dass er ein Gegengewicht gegen die herrschenden Meinungen erzeugt, als er damit begonnen hat, "Gerechtigkeit für Serbien" zu fordern. Aber dann ist er weiter gegangen und hat gesagt, alle, die gegen Serbien sind, sind sozusagen wie Hitler.
Er war dann sehr ungenau, sowohl in der Sprache als auch im Denken. Leider. Aber ich denke, ein Schriftsteller hätte heute die Aufgabe, genau zu berichten, was der Fall ist, und sich einer Einseitigkeit zu enthalten - in einem nationalistischen Krieg, wo immer alle schuld sind und nicht nur ein Volk; er hätte die Aufgabe zu untersuchen, woher kommt das und wie kann man das beenden.
Das wäre eine Genauigkeit im Denken und in der Sprache. Ob mir das in meinen paar Gedichten gelungen ist, weiß ich nicht. Ich habe ja nicht umfassend darüber geschrieben wie Peter Handke, der seine Wurzeln in Jugoslawien sieht. Und so ist er natürlich noch einmal ganz anders betroffen als ich. Und er liebt ja Gesamtjugoslawien sehr, er hat einen starken emotionalen Bezug dazu. Das war bei mir nie der Fall. Ich war sehr früh der Ansicht, dass die Völker friedlich auseinandergehen sollen, wie die Tschechen und Slowaken. Das geht ja.

Vielen Dank für das Gespräch.

9. Seminar zur österreichischen Gegenwartsliteratur

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Webmeisterin: Angelika Czipin
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