Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 7. Nr. Mai 2001

"Man erzählt Witze, und die Vergangenheit kommt zurück"
Der Wiener Dichter Robert Schindel

Walter Vogl (Tokyo)

Im Zentrum der vorliegenden Arbeit(1) steht das Prosawerk Robert Schindels, eines jüdischen Autors aus Wien, der 1992 mit seinem Roman "Gebürtig"(2) erstmals einem größeren Lesepublikum bekannt wurde. Der 1944 geborene Schindel ist eigentlich ein Generationsgenosse Barbara Frischmuths, Peter Handkes, Elfriede Jelineks, Gert Jonkes, Peter Roseis, Gerhard Roths, Michael Scharangs und Wolfgang Bauers, also von Autorinnen und Autoren, deren Publikationen bereits in den sechziger und siebziger Jahren zum festen Inventar deutschsprachiger Gegenwartsliteratur zählten. Schindels erste Buchveröffentlichung kam mit einiger Verspätung: 1986 erschien sein Gedichtband "Ohneland"(3), der seinen Ruf als einer der gewichtigsten Lyriker deutscher Sprache mitbegründete. Schindels erste Publikation, "Kassandra"(4), hingegen fällt auf das Jahr 1970. Es handelt sich dabei um eine Prosaarbeit, die der Autor in Ermangelung einer anderen Gattungsbezeichnung Roman nannte und die in einer im Untergrund kursierenden Zeitschrift der Neuen Linken erschien. "Kassandra" ist nach den Worten des Kritikers Konstantin Kaiser weniger ein Roman, mehr ein

essayistischer, mitunter an Nietzsches ‘Zarathustra’ anklingender Versuch, den abstrakt gewordenen Anspruch auf Veränderung der Gesellschaft in die eigene Individualität zurückzunehmen und ihm so den Gehalt wiederzugeben, dessen Erinnerungsspur in der offiziellen Politik linker Parteien längst ausgetilgt war.(5)

Die Beantwortung der Frage, warum es so lange dauern sollte, bis Schindel im Literaturbetrieb Fuß gefasst hatte, hängt wahrscheinlich weniger mit den Wirrnissen seiner Biographie, seiner Sozialisation im Umfeld der Kommunistischen Partei und seiner Berufung zum Revolutionär und Umgestalter traditioneller Lebensverhältnisse(6) zusammen als mit dem Metier des Schreibens selbst, das im speziellen Fall Schindels dem Bannen der Angst dient.(7) Bevor es jedoch zu dieser Funktionsbezeichnung kommt, gilt es, grundlegendere Schwierigkeiten anzusprechen:

Wenn ich von Literaten rede, meine ich nicht jene Leute mit den Schreibschwierigkeiten in allem, was nicht die eigene Literatur ist, mit den Schriebschwierigkeiten in ihrer eigenen Literatur und mit den Schreibschwierigkeiten, die ihre eigene Literatur ausmachen. Übrigens meine ich den Literaten buchstäblich, also wie Subik sagt, auf den Buchstaben zurückgeworfen, um von dort stotternd zur Sprache zu gelangen. (GSM, S. 35f.)

Wie Schindels in den achtziger und neunziger Jahre erschienene Gedichtbände zeigen, hat er diese Schwierigkeiten ernst genommen, anderthalb Jahrzehnte damit gerungen und die in den siebziger Jahren, als er beispielsweise Sitzstreiks und Love-Ins organisiert und in der Wiener Städtischen Bücherei, der Stadtkasse und in der Wiener Niederlassung der Agence France Press gearbeitet hat, entstandenen Gedichte erst mit beträchtlicher Verspätung publiziert.

Auch sein Roman "Gebürtig" ist das Resultat eines ganzen Jahrzehnts Arbeit, ein Produkt der achtziger Jahre, als in Österreich, ausgelöst durch die Diskussion über die verschwiegene SA-Mitgliedschaft des Präsidentschaftskandidaten Kurt Waldheim zum ersten Mal so etwas wie eine breite öffentliche Auseinandersetzung mit der Vergangenheit stattfand, welche bisher auf die intellektuelle und künstlerische Avantgarde beschränkt gewesen war. So hatten beispielsweise Ingeborg Bachmann oder Hans Lebert schon in den fünfziger und sechziger Jahren auf die Problematik einer Nachkriegsidentität hingewiesen, deren Prunkbau sozusagen kaltschnäuzig auf den Leichenbergen des Nationalsozialismus errichtet worden war.(8)

In "Gebürtig" bringt Schindel das Problem österreichisch-jüdischer Befindlichkeiten aus der Perspektive der Opfer, genauer gesagt eines Angehörigen der zweiten Generation, zur Sprache. In einem dem Ernst das Themas durchaus angemessenen saloppen Ton und einem bisweilen komödiantischen Setting thematisiert Schindel die wechselseitigen Projektionen und Versuche beider Seiten, mit dem, was passiert ist, fertig zu werden. Ähnliche Versuche hatten beispielsweise Maxim Biller und Irene Dische unternommen.(9) Das österreichische Gegenstück zu "Gebürtig" ist 1995 erschienen, stammt von Elisabeth Reichart und heißt "Nachtmär". Es ist geschrieben aus der Perspektive der Kinder der Eichmann-Generation, die in den sechziger Jahren das Thema Verantwortung für die Greuel von gestern an den Mittagstisch ihrer Eltern gebracht hatten und nun selbst nicht damit fertig werden: ein delirierender Gesang, ein Exerzitium, ein Sprache gewordener Alptraum. Das Gemeinsame der Bücher Schindels, Billers, Disches aber auch Rafael Seligmanns wird folgendermaßen auf den Begriff gebracht:

Dieses Aufbrechen von Distanz bei gleichzeitiger Opposition gegenüber jeder Form des Verschweigens wie jeder Form ritualisierten Gedenkens, der Opposition gegenüber allen Tendenzen, den Holocaust moralisch, politisch und kulturell zu instrumentalisieren, scheint mir ein Hauptkennzeichen dieses Blicks der zweiten Generation zu sein.(10)

Lämmer stehen im Zentrum des Prologs von "Gebürtig", "Kinder des Doppeladlers" (GEB, S. 7), die sich ihr ganzes Leben "in Scheiße und Blut" (GEB, S. 7) wälzten, schließlich geschlachtet wurden. Ihre Nachfahren "sind in gewissen Schichten sehr innerliche Menschentiere, waidwund in ihren Körpersprachen, positiv geladene Stiefpole in den Pupillen, aber durchherrscht von einer feierlichen Sinnlichkeit" (GEB, S. 8). Der schräge, etwas umständliche Gestus dieser Passagen vermittelt eine Idee davon, vor welchen Schwierigkeiten nicht nur die Suche nach jüdischem Selbstverständnis im Nachkriegsösterreich steht. Schindel versucht sich in diesen Skizzen aber auch an einer nüchternen Bestandsaufnahme, spricht das Faktum an, dass sich viele der in den Konzentrationslagern Umgekommenen widerstandslos haben töten lassen, weil sie das, was ihnen widerfahren ist, gar nicht für möglich gehalten haben. Und gleichzeitig, wie in einem Schnitt-und-Gegenschnitt-Verfahren, geht er in Medias res, führt mit einigen wenigen Sätzen sein Personal ein.

Mauthausen ist eine schöne Gegend. (GEB, S, 10)

Erich Stieglitz, ein blonder, 35jähriger Oberösterreicher, hat als Kind dort gespielt und versucht sich mit seiner Bemerkung bei der schwarzhaarigen, jüdisch-wienerischen Mascha Singer interessant zu machen, die ein Faible für Naturburschen aus der Provinz hat. "Gebürtig" ist ein Buch der Gegensätze, die sich anziehen, dabei jedoch nicht neutralisieren, sondern auf eine bisweilen komisch-absurde Art und Weise verschärfen. Auf diese Art und Weise entsteht eine "verwickelte Geschichte", mit deren Hilfe ihr Hauptdarsteller "entwickelt" (GEB, S. 17) werden sollte. Der Erzähler der zum größten Teil Ende 1983, Anfang 1984 spielenden Story, genauer: einer Serie von Schlüsselgeschichten aus dem Bauch von Wien, welche im Erzählverlauf zunehmend miteinander verzahnt werden, stellt sich dem Leser als ein gewisser Sascha Graffito vor, seines Zeichens Zwillingsbruder, Souffleur, Entwickler und Alter ego von Danny Demant; beide sind Intellektuelle von Beruf. Graffito gibt Demant die Möglichkeit, sich aus der Geschichte zurückzuziehen, während umgekehrt Demant für Graffito immer dann herhalten muss, wenn dieser seine Lust auf Taten befriedigen will.

Manuel Köppen macht im Hinblick auf Rafael Seligmanns Roman "Rubinsteins Versteigerung"(11) folgende interessante Bemerkung, die sich auch auf "Gebürtig" übertragen lässt, selbst wenn Schindel verfahrenstechnisch wesentlich avancierter agiert als Seligmann.

Selbstverständlich ist diese Konstruktion eines gleichsam selbstreflexiven Ich-Erzählers, der in den immer getrennt bleibenden Rollen eines handelnden wie eines beobachtenden Subjekts gegenwärtig ist, auch metaphorisch zu verstehen: Es ist eine literarische Konstruktion der Quintessenz, mit der Rafael Seligmanns Erzählung endet: ‘Ich bin ein deutscher (bzw. österreichischer) Jude’.(12)

In gewisser Hinsicht handelt es sich bei "Gebürtig", dem als Motto - wie schon im Gedichtband "Ohneland" - Johann Nestroys Diktum "Die Welt ist ein Fußboden" voransteht, um einen Beislroman. Kein Fußboden, sondern ein Wirtshaustisch ist die Welt des Robert Schindel, aber einer, an dem sich die berühmt-berüchtigte österreichische Herrenrunde nicht besonders wohl fühlen würde. Der Autor beschreibt Menschen, die auf ihre Art charakteristisch sind für die Nachkriegszeit in Mitteleuropa. Er baut seine Geschichten auf entlang einer Vielzahl von Lebensläufen und Begebenheiten, die allesamt aus der Wirklichkeit entlehnt sind und um die zentralen Themen dieses Romans, das Judentum, die Vergangenheit, die Liebe und die Linke kreisen.

Da gibt es zum Beispiel den alten Spanienkämpfer und auch nach den Ereignissen in Prag 1968 noch moskautreuen Kommunisten, der bei einer Wanderung mit seiner Tochter auf einer Almhütte einen untergetauchten KZ-Schergen erkennt und daraufhin eine Herzattacke erleidet, an der er schließlich stirbt. Seine Tochter empfindet den Tod als Auftrag, alles zu tun, um diesen Mann hinter Gitter zu bringen. Auf der Suche nach einem glaubhaften Zeugen landet sie in New York, beim Schriftsteller Gebirtig, einem Wiener Juden, der Österreich, so meint er, auf ewig den Rücken gekehrt habe. Gebirtig steht stellvertretend für die jüdische Intelligenz, die nach dem Zweiten Weltkrieg zurückzuholen Österreich bewusst verabsäumt hat. Er lässt sich überreden, in Wien auszusagen, versöhnt sich mit seiner Heimatstadt, verliebt sich in Susanne, die Tochter des Spanienkämpfers, lässt sich von der Rathausbürokratie zur Annahme einer Auszeichnung überreden und muss am Ende doch seine Ohnmacht einsehen. Der Angeklagte wird freigesprochen, Gebirtig, der schon seine Rückübersiedlung nach Wien vorbereitet hat, reist überstürzt ab.

Die Stimmen der beiden Zwillingsbrüder Graffito und Demant lässt Schindel zusammenfallen mit dem allgemeinen Beislgeraune, das als lebenserhaltende Hülle über dieser Welt liegt. Die beiden sind angelegt als komplementäre Figuren. Wenn der eine ja sagt, sagt der andere nein. Derjenige, der gerade nicht mit einer Frau im Bett liegt, trägt dafür Sorge, dass die Leser über die Taten des Zwillingsbruders prompt informiert werden. Beide sind alte 68er, stecken bis über beide Ohren in permanenten Beziehungskrisen und werden hin- und hergeworfen zwischen panischer Furcht vor und wohligem Aufgehen im katholischen österreichischen Umfeld.

Der linke Feuilletonredakteur Konrad Sachs aus Hamburg, getreu modelliert nach dem real existierendem Vorbild des Redakteurs Niklas Frank, der 1987 mit einer Artikelserie und einem Buch über seine Herkunft aus einer prominenten Nazifamilie für Aufsehen sorgte(13), kämpft mit seinem Erbe: der Vater wurde in Nürnberg verurteilt, später hingerichtet. Der Junior, ein linksliberaler Feuilletonredakteur, lebt in panischer Furcht davor, dass ihn die Vergangenheit seines Vaters, die er der Öffentlichkeit verschweigt, einholen könne. Er wird von Tag für Tag bedrohlicher werdenden Alpträumen geplagt. Er flieht die verständnisvolle Gattin, eilt verzweifelt zur Hure, welche sich jedoch weigert, seinen Psychomüll zu entsorgen und macht schließlich den verdutzten Danny Demant zu seinem Beichtvater.

Auf dem Weg zum Beichtstuhl lenkt Sachs sein Auto, in dem auch Demant sitzt, gegen einen Baum. Der Lektor Demant landet im Krankenhaus und muss sich, mit einem Gips ans Bett gefesselt, wohl oder übel die Sachs-Story anhören, die Beichte eines Mannes, der exemplarisch für die Schuld seines Vaters, ja seines ganzen Volkes Buße tun will, dabei aber von der fixen Idee nicht abzubringen ist, dass er bereits in den Fußstapfen seines Erzeugers stehe: die Verletzung Demants, so Sachs, sei schlagkräftiges Indiz für eine bevorstehende Karriere als Massenschlächter.

Seit Mitte der achtziger Jahre steht das Leben von Kindern einstiger Nazis im Mittelpunkt zahlreicher Veröffentlichungen; eines der bekannteren Beispiele dieser Art im Österreich der achtziger Jahre war wohl Peter Sichrovskys "Schuldig geboren".(14) In Büchern wie dem von Sichrovsky, der übrigens in Haiders FPÖ Karriere gemacht hat, von vielen als Haiders "Alibijude" kritisiert worden ist, wiederholt sich, was bereits weiter oben an der Struktur der Erinnerungsarbeit kritisiert wurde:

Auch wenn in diesen Berichten bis dahin verschwiegene psychische Bindungen der Nachgeborenen an die Nazi-Generation - eine Art transgenerationell fortwirkendes politisches Unbewusstes - zur Sprache kommen, wird in ihnen doch die Struktur jener Väter-Bücher fortgesetzt, in der nach 68 die NS-Geschichte im Muster eines Generationskonflikts ausgetragen wurde: als Opposition der Söhne gegen ihre Väter-Täter, denen gegenüber sie selbst an die Stelle der Opfer traten. Die wirklichen Opfer blieben dabei weitgehend im Schatten dieses Generationsszenarios.(15)

Auch Schindels Buch steht in dieser Tradition des Generationskonflikts, ohne dass doch obiges Diktum auf "Gebürtig" zuträfe. Denn für Schindel ist die Geschichte von Konrad Sachs nur ein Moment im Spiel nie aufhören wollender Zuschreibungen und Projektionen zwischen Juden und Deutschen. In seinem Roman wird sie auch entsprechend ironisch gebrochen. In einem Gespräch im Literarischen Colloquium am Wannsee wurde gerade dieses Faktum zum Angelpunkt der Kritik Sibylle Cramers, deren Einwände - sowie die Antwort Schindels - hier zusammengefasst werden:

Der Autor habe dem Roman ein Lustspielmodell übergestülpt, wie man aus dem Epilog bereits entnehmen könne. Das Zusammenspiel von Lachtheater und Zeitroman knirsche heftig, der Leser verhungere förmlich in den Dialogen, die streckenweise zu einer funktionslosen Retardierung der Erzählung verkämen. Ihren Einwand, der Autor habe einfach nur Stoff in den Roman geschaufelt und die Personen wie in einer Komödie immer in Bewegung gehalten (,Erzählerradau' nannte sie dies an anderer Stelle), wollte der Autor nicht ganz von der Hand weisen. Zwar habe er gewiss nicht die Intention gehabt, ein Lustspiel zu schreiben, aber möglicherweise, so seine Erwägung, ist für diese Generation das Absurde, die Komödie, die einzige Art zu leben.(16)

Auch Wendelin Schmidt-Dengler vermisst in seiner Kritik den nötigen Tiefgang und wirft Schindel indirekt Blödelei vor, wenn er, Bezug nehmend auf den dem Buch zugeschriebenen abgründigen Humor, davon spricht, dass er "mehr Abgründe denn Humor"(17) sieht, womit er in einem gewissen Sinn durchaus Recht hat, denn Schindels Sache ist es nicht, die Abgründe sozusagen mit Humor aufzufüllen in der Art, wie Kurt Waldheim einmal vorgeschlagen hat, die Gräben, die die Vergangenheit aufgerissen hat, zuzuschütten.
Der Begriff abgründiger Humor bildet nicht mehr und nicht weniger als eine Verständnisbrücke für eine auf Schindels Verfahrensweise nicht eingestellte Öffentlichkeit. Mit ihm wird nämlich verschwiegen, dass Schindel sich den in seinem Roman aufgeworfenen schwierigen Themen nicht mit der richtigen Haltung, der von der Öffentlichkeit geforderten guten Figur annimmt, sondern vieles einfach so, als ob er eben beim Nasenbohren wäre, vor sich hinsagt. Dabei handelt es sich weniger um ein österreichisches (oder deutsch)-jüdisches Problem, sondern um ein poetisches Programm, das sich in der Erzählung "Kleine Geschichte des Verschwindens" formuliert findet.

Die Welt ist voller Tatsachen. Ich bin angestopft mit Pöbel und Trödel. Ich will verreisen ins Ungefähre, dorthin, wo Platz ist und Fremde.(18)

Die Erzählung findet sich in dem, zwei Jahre nach "Gebürtig" erschienenen Band mit dem Titel "Die Nacht der Harlekine", mit dem die wenigsten Rezensenten so richtig warm werden konnten, obwohl hier in gewisser Weise das poetische Programm Schindels, dessen Realisierung in den Lyrikbänden auf begeisterte Zustimmung seitens der Kritik stieß, in Prosa ausgeführt ist. Schindel zeigt uns in diesen Nachtstücken eine Seite Wiens, die er in "Gebürtig" mit den Auftritten der beiden Dichterfiguren Alfred Taler und Scharringer alias Joe Berger und Hermann Schürrer nur angerissen hat. Das anarchistisch-delirierende, das todesverliebte Wien, die Gossen und Abgründe, den Bauch der Stadt. Von dem wie Hermann Schürrer früh verstorbenen Joe Berger stammen übrigens die folgenden, in "Gebürtig" in Großbuchstaben wiedergebgebenen Aussprüche: "AUCH MAO IST EIN CHINESE"; "DONALD DUCK IST TSCHECHE"; "DER BUNDESKANZLER FRISST MIR AUS DER HAND". (GEB, S. 42.) "Die Nacht der Harlekine" ist ein Buch, wo "dreimal vier Donnerstag" (NdH., S. 57) ist, wo es "im Innersten der Wörter ohne Unterlass (regnet)" (NdH, S. 64) und schräge Vögel wie Spazierstockjohnny ein Bad nehmen im Teich "am letzten Donnerstag (ihrer [Einf. V.]) Geschichte" (NdH, S. 59). Die meisten der dort auftretenden Helden sind dem Wein verfallen. "Ich trinke Wein. Der Wein kommt. Da ist er." (NdH, S. 79) Auf diese Art wird uns das Leben von Figuren geschildert, die fast allesamt "viel zu genug getrunken" (NdH, S. 66) haben. Diese Leute gehen fast täglich ins Kaffeehaus, um sich von ihren leeren Träumen auszuruhen. Ungefährlich sind diese Kaffeehausbesuche nicht, und denjenigen, die in Schlägereien verwickelt werden, bleibt folgende Lehre: "Wer niedergeschlagen wird, der ist um eine Geschichte blöder." (NdH, S. 65.) Doch "nur wenigen gelingt es, sich von Mai bis November zu einer Sau zu entwickeln" (NdH, S. 87). Die Schlechtigkeit lässt sich also Zeit in diesen Geschichten. Trotzdem lautet deren Fazit: "[D]as Ungute ist nun mal ungut." (NdH, S. 80.) In "Die Nacht der Harlekine" zeigt sich Schindel in gewissem Sinn als der jüngere Bruder von Hermann Schürrer, Joe Berger und Wolfgang Bauer.
Doch zurück zu "Gebürtig". Vieles von dem, worüber Schindel schreibt, findet sich auch in den Büchern Rafael Seligmanns oder Maxim Billers, so zum Beispiel das Klischee von der Instrumentalisierung des Judentums durch Juden, die damit in Deutschland Karriere zu machen gedenken. Der Lektor Demant klärt den Dichter Hirschfeld auf:

Dein Verhältnis zur Sprache hat was Jüdisches. Wenn Du als Jude avancierst, soll's dir recht sein. Andere haben es als Bergbauern oder Krebskranke zu was gebracht, und keiner fand was dabei. Ob du hältst, hängt von anderen Dingen ab. (GEB, S. 275.)

Respektlos bis an die Schmerzgrenze ist das, die der Autor im Beschreiben jüdischer Schicksale des öfteren überschreitet. Es gibt Momente in "Gebürtig", wo sich die Respektlosigkeit aufhört und zum vom Autor selbst empfundenen Schmerz wird. Gerade an solchen Stellen erweist sich die Herkunft von Schindels messerscharfem Witz aus dem Geist des Galgenhumors. Dort zeigt sich auch, dass alte Wunden immer noch bluten. Wie sagte Gebirtig am Tag seiner Versöhnung mit Wien zu Susanne?

Vielleicht bin ich eben erst jetzt aus dem Lager herausgekommen.(GEB, S. 319.)

Die Versöhnung stellte sich als voreilige heraus. Es ist eine Frage der Einstellung, ob man Schindels Bemerkung, dass Kurt Waldheim für Österreich eine "Aufklärungsmaschine"(19) gewesen sei, auch Voreiligkeit attestiert oder nicht. Angesichts der politischen Ereignisse des vergangenen Jahres können an der Angemessenheit dieser Einschätzung leicht Zweifel aufkommen. Die sogenannte Affäre Waldheim hat jedoch, so wie die Aufregung um Haider, sicher eines bewirkt: Sie hat die Fronten geklärt, was in einer jahrelang auf den Proporz eingeschworenen politischen Landschaft wie der österreichischen kein geringer Fortschritt ist. Der Pragmatiker Schindel würde dieser Einschätzung sicherlich zustimmen. Der Dichter Schindel weiß jedoch, dass die Wirklichkeit - wie immer - wesentlich komplizierter ist.

Deshalb ist Wien noch unter Narkose gefährlicher als das historische Chicago. Unblutig, mit einem leichten Kater schubst man sich selber in die Grube, nicht ohne vorher noch ein Aspirin geschluckt zu haben. Man lacht und wird leer. Man trinkt und stirbt. Man singt, und die Leute bleiben stehen. Man erzählt Witze und die Vergangenheit kommt zurück.(20)

© Walter Vogl (Tokyo)

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Anmerkungen:

(1) Überarbeitete und stark gekürzte Fassung meines Vortrags auf dem 9. Seminar zur österreichischen Gegenwartsliteratur (Nozawa Onsen, 10. Nov. 2000).

(2) Robert Schindel: Gebürtig, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1992. Im folgenden zit. als GEB.

(3) Ders.: Ohneland, Frankfurt/Main: edition suhrkamp 1986.

(4) Ders.: Kassandra, in: Hundsblume 1, Wien 1970.

(5) Konstantin Kaiser: Ausharren in der Angstschicht. Der Wiener Dichter Robert Schindel, in: Die Presse-Spectrum, Wien 18.9.1987.

(6) Schindel war auch eine der bekanntesten und charismatischsten Figuren der Wiener und Berliner Kommunenszene.

(7) Vgl dazu die Ausführungen in R. S.: Gott schütz uns vor den guten Menschen, Frankfurt/M: edition suhrkamp 1995, S. 35 bis 58. Dieses Buch, das unter anderem Schindels Wiener Poetikvorlesungen enthält, wird im folgenden als GSM zitiert.

(8) Vgl. dazu Sigrid Weigel: Ingeborg Bachmann. Hinterlassenschaften unter Wahrung des Briefgeheimnisses, Wien: Zsolnay 1999, S. XX f.

(9) Vgl. Maxim Biller: Wenn ich einmal reich und tot bin, Köln: Kiepenheuer&Witsch 1990. Irene Dische: Fromme Lügen, Nördlingen: Greno 1989.

(10) Manuel Köppen: Von Versuchen, die Vergangenheit zu erinnern, in: W. Höllerer/N. Miller/J. Sartorius (Hg.): Sprache im technischen Zeitalter, Heft 135, Berlin 1995, S. 250-259, hier S. 267.

(11) Rafael Seligmann: Rubinsteins Versteigerung, Frankfurt/M. 1989.

(12) Manuel Köppen (=Anm. 10), S. 254.

(13) Vgl. Hubert Winkels: Doppellämmer und Tätersöhne, in: Die Zeit, Nr. 16, Hamburg 10.4.1992.

(14) Peter Sichrovsky: Schuldig geboren. Kinder aus Nazifamilien, Köln: Kiepenheuer & Witsch 1987. Vgl. aber auch: Dan Bar-On: Die Last des Schweigens. Gespräche mit Kindern von Nazi-Tätern, Frankfurt/M. 1993.

(15) Sigrid Weigel: Der Ort von Frauen im Gedächtnis des Holocaust, in: Höllerer/Miller/Sartorius (Hrsg.): Sprache im technischen Zeitalter, Heft 135, Berlin 1995, S. 260-269, hier: S. 262.

(16) Marie Luise Knott: Der Glücksfall eines strittigen Romans, in: Der Tagesspiegel, Berlin 14.5.1993.

(17) Wendelin Schmidt-Dengler in Ex Libris, Ö1, 1.3.1992, hier zit. nach dem Sendungsmanuskript.

(18) Robert Schindel: Die Nacht der Harlekine, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1994. Im folgenden zit. als NdH.

(19) Vgl. dazu "Ein Gepeinigtsein von Peinlichkeiten. Jüdisch sein in Österreich - ein Dreiergespräch", in: Neue Zürcher Zeitung, 11./12. 4. 1998.

(20) Robert Schindel: Mein Wien, in: Weltwoche Nr. 45, 6.11.1997.


Webmeisterin: Angelika Czipin
last change 09.05.2001