Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 8. Nr. Juli 2000

Transnationale Literaturprozesse aus türkischer Sicht

Gertrude Durusoy (Izmir)
[BIO]

 

In der Ferne der südöstlichen Grenze Europas und sogar auf kleinasiatischem Boden, in Izmir, bedeutet das INST sehr viel, denn an unserer Universität haben wir im Curriculum der Germanistik zwei Semester lang Pflichtveranstaltungen zur österreichischen Literatur eingeführt, ohne Begrenzung, was die Epochen betrifft. Früher war die Beziehung zu Österreich und zu seiner Literatur und Kultur hauptsächlich über das Österreichische Kulturinstitut Istanbul möglich. Die Erweiterung, die wir durch das INST gewonnen haben, ist von großer Bedeutung. Der Kontakt wurde über Internet mit Herrn Dr. Arlt hergestellt und läuft u.a. über Internet weiter. Die weltweite Dimension des INST - von den USA bis China und von Norwegen bis Südafrika - ermöglicht den grenzüberschreitenden Kontakt auf wissenschaftlicher Ebene und bei Konferenzen oder Symposien auch den persönlichen.

Immer mehr werden innerhalb der Literaturprozesse die kulturellen Elemente rezipiert. Dabei wird aber immer weniger auf nur nationaler Ebene geforscht, denn die Wechselbeziehungen innerhalb der Literatur haben schon immer die Suche nach einem tiefgreifenden Verständnis angeregt. Die Komparatistik hat den Weg zur Transnationalität gebahnt. Dies ist auch der Fall für die Forschung an türkischen Universitäten und an unserem Forschungszentrum für europäische Sprachen und Kulturen. Die gemeinsamen Tendenzen in der Literatur trotz einer anderen kulturbedingten Umwelt zeigen, wie nahe aber die verschiedenen Gesellschaften eigentlich zueinander stehen. Die Kenntnis der Kulturen ist deshalb als ein Bestandteil der aktiven Friedensbildung anzusehen.

Der Fall der seit jeher multilingualen und multikulturellen Stadt Izmir (ehem. Smyrna) bildet ein Forschungsobjekt für sich. Auf dem Gebiet der Reiseliteratur werden - meiner Kenntnis nach - hauptsächlich in Italien, Griechenland, Frankreich und England Smyrna-bezogene Forschungen an verschiedenen Institutionen durchgeführt. Denn es handelt sich um eine der seltenen Städte der Antike, wo trotz Erdbeben und Brand ohne Unterbrechung verschiedene Völker neben- und miteinander gelebt haben und weiter leben. Interessant ist u.a., daß in der Stadt seit 1269 bis heute Italienisch gesprochen wird und dort heute nicht wie damals Genueser und Venetianer, sondern Italiener der Levante leben.

Dadurch, daß die Hohe Pforte den Ausländern in den Hafenstädten Istanbul und Izmir besondere Privilegien gewährt hatte, besonders den Handel betreffend, haben neben den Italienern die Holländer, Engländer, Franzosen, Griechen, Juden und Armenier das kulturelle Leben der Stadt geprägt. Die konsularischen Vertretungen der westeuropäischen Staaten haben für ihre Mitbürger Kulturleben aus dem jeweiligen Land "importiert". So daß neben der autochthonen türkischen Kultur immer eine zwar fremde, aber zur Stadt gehörende andere kulturelle Erscheinung vorhanden war. In der Literatur betrifft das besonders das Theater, denn die westeuropäischen Stücke z.B. der französischen Klassik, die hier aufgeführt wurden, hatten als Gattung nichts gemeinsam mit dem einheimischen Theater derselben Epoche. Die Wohnkultur bildet ein anderes Forschungsgebiet für sich, ob aus der Baukunstperspektive oder aus der anthropologischen Sicht. Die Übergänge aus dem einen Kulturprozeß in den anderen haben in Izmir ein einmaliges Zusammenleben gestaltet, wo Toleranz Sitte gewesen ist. In einer Zeit, als in West- und Mitteleuropa das Prinzip "cuius regio, eius religio" galt, im 17. Jahrhundert., kannte man nichts Derartiges im ganzen Osmanischen Reich. Diese Grundlage ermöglichte die kulturelle Verschiedenheit, die sich bis heute auch in kulinarischen Produkten erhalten hat , ein kleines Beispiel wäre das "paskalya çöregi", also eine Backware, die von den orthodoxen Griechen in ihren Bäckerei zur Osterzeit angeboten wurde und die jetzt das ganze Jahr hindurch in den türkischen Bäckereien mit diesem Namen zu finden ist. Innerhalb einer Nation wurde die Kulturverschiedenheit eigentlich zur Bereicherung im Alltag. In Izmir wurden selbstverständlich all die Sprachen gesprochen, die oben erwähnt wurden, das hieß, daß ein jeder mehrere Sprachen beherrschte, um sich in seiner Stadt wohl zu fühlen.

Nach diesem kleinen Exkurs bin ich überzeugt, daß die Kollegen, die hier versammelt sind, den Konsensus auf dem Gebiet der Erforschung von Literaturprozessen konkret erlebt haben. Gewiß spielen die Sprachkenntnisse auch hier eine ganz wichtige Rolle; denn besonders auf dem Gebiet der Kultur und Literatur wird durch den Gebrauch der Muttersprache ein spezifischerer Inhalt ausgedrückt als bei der Verwendung einer Fremdsprache. Die Einschaltung der Übersetzung ist als Mittel zum Verständnis zu betrachten. Je mehr Sprachen erlernt werden, desto öfter werden sich Wissenschaftler in ihrer Muttersprache ausdrücken können. Dies wurde konkret bei der diesjährigen dreisprachigen Konferenz des INST in Paris (mit Französisch, Deutsch und Englisch) versucht und das Ziel wurde, meines Erachtens, erreicht.

Die Literatur der Vergangenheit wird schon in ihrer Rezeption transnational aufgenommen; das gilt auch für diejenige der Gegenwart. Was die literaturwissenschaftliche Forschung betrifft, so ist es auch der Fall. Besonders Motive können transnational verfolgt werden, auch wenn der Stoff nicht simultan auftaucht. Die Forschungen auf dem Gebiet der Metaphorik, wo Literatur und Kultur Hand in Hand gehen, ist in dieser Hinsicht sehr relevant.

Aus türkischer Perspektive treten hier die Untersuchungen der auf Deutsch schreibenden türkischen Autoren hervor. Von den deutschsprachigen Germanisten werden sie in die Kategorie "Migrantenliteratur" zusammen mit den Italienern, Spaniern und Arabern eingereiht, von den Türkologen im Lande werden sie nicht untersucht, weil die jüngere Generation nur auf Deutsch schreibt.

In diesem besonderen Literaturprozeß kann nachgeforscht werden, ob der kulturelle heimatbezogene Inhalt oder der von der kulturell verschiedenen Umwelt geprägte Inhalt dominant ist. Was die ausländischen Autoren deutscher Sprache betrifft, so bilden diejenigen türkischer Muttersprache die zahlenmäßig bedeutendste Gruppe. Ein Kolloquium fand zum ersten Mal 1985 in Bad Homburg statt, woran deutsche Autoren, Literaturwissenschaftler und Kritiker zusammen mit in Deutschland lebenden Autoren aus zehn Ländern über die "Standortbestimmung der ‘Ausländerliteratur’" diskutierten. Die schriftliche Aufstellung wurde von Irmgard Ackermann und Harald Weinrich ein Jahr darauf unter dem Titel "Eine nicht nur deutsche Literatur" bei Piper herausgegeben.

An dieser Stelle möchte ich einen Teil der Ausführungen des türkischen Schriftstellers der zweiten Generation, Zafer Senocak, zum Schreiben in einer fremden Sprache anführen, weil sie den Literaturprozeß einerseits und andererseits das Übernationale dieses Prozesses überhaupt aus primärer Quelle bieten. Senocak meint:

Schreiben heißt, eine eigene Sprache gewinnen. Schon der literarische Ausdruck in der Muttersprache ist ein mühsamer Werdegang. Sich in einer Fremdsprache literarisch zu äußern, dazu gehört viel Mut. (…) Nicht zufällig war die Fremde bereits ein großes Thema für die Literatur des 20. Jahrhunderts, bei Kafka oder Camus. (…) Der Versuch, die Literatur in Schubladen zu stecken, nach Themen, Berufen oder Klassen aufzuteilen, führt irre. Das Literarische ist vielmehr der Ausdruck für das gesamte Dasein, für die gesamte wahrgenommene oder vermutete Wirklichkeit des Menschen. Dabei wird von der Literatur eine tiefergehende Sichtweise erwartet, die weitergeht, als die gewöhnliche Wahrnehmung erlaubt. Der Autor ist ein empfindliches Barometer seiner Zeit und seiner Situation. (S. obengenanntes Werk, S. 65,66,68.)

Hiermit deutet der in einer kulturell fremden Umwelt lebende Dichter auf das Einbeziehen dieser "Situation", dieser seiner "Zeit" hin und damit auf das Universelle des Schreibaktes als solchen.

Auf diesem Weg erlebt man die Aufhebung der Grenzen, seien es die sprachlichen, die nationalen, die kulturellen. Die Barometermetapher des Lyrikers Zafer Senocak trifft meines Erachtens auf die Schriftsteller aller Länder und ihrer Epochen zu. Die intensive und tägliche Kulturberührung in der Fremde, die übrigens auch für die Exilautoren zutrifft, gilt als Impuls zu einer Schrift, die sowohl das Individuum als auch die Gesellschaft einschließt. Umgekehrt entsteht allmählich eine Literatur von in der Türkei lebenden Deutschen , man denke u.a. an die Werke von Barbara Yurttas, die auch das Fremde und die Stellung der Frau zum Thema haben. In Frankreich hat es schon immer Ausländer gegeben, die auf Französisch geschrieben haben; in letzter Zeit haben die Algerier, Marokkaner und Libanesen einen zunehmenden Erfolg, vielleicht gerade weil sie ihre eigene Kultur in die französische Literatur einbringen.

Oder denken wir an Djingis Aitmatow, der nicht in seiner Muttersprache, Kirgisisch, geschrieben hat, sondern auf Russisch, aber mit einem typisch kirgisischem Inhalt und Ton. Wie ersichtlich, ist Literatur, genauso wie andere Künste, geeignet, als Medium des Transnationalem zu dienen.

Zum Schluß gebe ich der Hoffnung Ausdruck, daß das INST noch viele fünf Jahre erlebt und daß die Unterstützungen der verschiedenen Institutionen weiter die Erforschung und Förderung der Literaturprozesse sowohl in Österreich als auch im Ausland ermöglichen werden. Jede Epoche prägt ihre Färbung auf die Kunstwerke, die entstehen, aber jede Epoche erfindet auch neue Mittel zur Erforschung der Substanz der Literatur. Die internetbezogene Forschung ist ebenso wie das Internet als Forschungswerkzeug in dieser Hinsicht nicht mehr wegzudenken, und die Leistungen des INST diesbezüglich werden in Zukunft weiter die Vernetzung der Forscher und der Forschungsergebnisse sichern.

© Gertrude Durusoy (Izmir)

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