Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 9. Nr. Oktober 2000 Editorial

WorldWideWeb - Wirklichkeit - Werkzeug - Wechselwirkung

Herbert Gantschacher (Klagenfurt/Salzburg)
[BIO]

 

Das WWW ist eine Form der Telekommunikation - im theatralischen Sinn sehe ich eine Verwandtschaft zum Radiodrama. Die Möglichkeiten des WWW für die Entwicklung beziehungsweise Kombination von Theaterformen stehen noch am Anfang. Für mich ist die Situation vergleichbar mit der Entwicklung des Hörspiels vom Original-Hör-Drama zum offenen Kunstwerk.

Das WWW ist ein Treffpunkt - im Sinne von Marktplätzen, konkret den mittelalterlichen Marktplätzen. Marktplätze sind für mich immer Orte, an denen essentiell menschliche Existenzen zu beobachten sind sowohl als Käufer als auch Verkäufer. Die Choreografie der Verkäufer frischer Fische am Fischmarkt in Seattle sei hier als Beispiel genannt.

Das WWW ist eine dem Theater verwandte Wirklichkeit des Theaters durch seine virtuelle Wirklichkeit; jedoch gilt: "Wir verstehen, daß das Drama die Nachahmung der Wirklichkeit ist. Die Kunst ist aber keine Wirklichkeit, sondern eine Nachahmung der Wirklichkeit. Die Wirklichkeit darf sich unmotivierte Kämpfe leisten, die Kunst aber nicht." (Dzevad Karahasan / Herbert Gantschacher). Somit verfügt das WWW über eine wechselseitige Form der Wirkung, das WWW kann sowohl motivierter Schauplatz in der Wirklichkeit des Theaters sein, kann sich aber auch unmotivierte Kämpfe leisten.

Dies ist auch die Beschreibung der Grenze des WWW als mögliche Form für das Theater. Zu Grenzen ist soviel zu bemerken, daß es äußere und innere Grenzen gibt. Äußere Grenzen sind sichtbare Grenzen, sie sind vielfältiger Natur beispielsweise in Form von geografischen oder politischen Grenzen. Innere Grenzen sind nicht sichtbare Grenzen, diese Grenzen formen sich zuerst in den Köpfen, bevor sie dann sichtbar werden. Das WWW verfügt über die Fähigkeit, zumindest äußere Grenzen zu überwinden. Innere Grenzen können im WWW insofern überwunden werden, als sich Menschen zur Kommunikation im WWW finden, die durch den Akt der Kommunikation im WWW diese innere Grenzen aufgeben. Dies entspricht auch der Forderung nach der offenen Form des Theaters, die den mittelalterlichen Theaterformen innewohnte. Denn Theater, die heute bespielt werden, sind in erster Linie Guckkastentheater. Das entspricht aber nicht dem Kunstverständnis des 20. Jahrhunderts. Denn die Mobilität der Gesellschaft muß ihre Entsprechung in der Mobilität der Kunst haben auch und im besonderen die Formen des Theaters. Das WWW ist eine offene Form der Kommunikation verbunden mit Formen der Mobilität. Der Ort zur Kontaktaufnahme zum WWW kann überall sein, er ist nicht an einen physischen (immobilen) Ort gebunden. Mittels Laptop und Mobiltelephon ist eine Kommunikation von jedem Ort der Welt möglich. Das WWW ist per definitionem mobil.

Das WWW kann die Wirklichkeit nicht ersetzen. Das WWW ist keine Erweiterung der Perspektiven des Theaters, das WWW ist vielmehr eine Ergänzung der Perspektiven des Theaters.

Das WWW ist gleichzeitig Werkzeug und Raum. Als Werkzeug schafft es neue Kommunikationsstrukturen, als (virtueller) Raum steht es gegen die immobilen Theaterräume, wie sie Guckkastentheater per excellence darstellen. Die Weiterentwicklung von Werkzeugen und Räumen haben die Entwicklung des Theaters seit jeher geprägt.

Meine Räume des Theaters habe ich unter anderem auf Bahnhöfen Europas, im unteren Hohlgang im Inneren der Staumauer der Sperre des Großen Mühldorfer Sees am Reisseck in Kärnten oder dem Národní Památník in Prag gefunden. Ein neuer Raum ist nun das WWW.

Durch die Kombinationen von verschiedenen Formen des Theaters entstehen neue Sichtweisen, die hier das WWW miteinbeziehen.

In hier zu behandelnden Fall wird Theater mit Musik verknüpft. Die Kammeroper des schwedischen Komponisten Eberhard Eyser "Es hat am Vorabend geregnet" läßt vom Inhalt her auch eine Verknüpfung mit dem WWW zu. Das Libretto von Eberhard Schmidt bedient sich zweier kurzer Erzählungen des portugiesischen Autors Fernando Namora. Cristina und Joao sind ein junges Liebespaar, die Übermacht der Eltern verhindert eine tiefergehende Beziehung (somit ähnlich einer großen klassischen Liebestragödien des Welttheaters "Romeo und Julia"). In der Kammeroper findet der Dialog zwischen beiden nur durch Telekommunikation statt. Die Erinnerung an ihre Begegnungen in der Wirklichkeit sind Thema ihrer Gespräche, wie das kleine Kaffeehaus. Der Komponist Eyser stellt die Realisation seiner "Cantata Scenica" frei: "Alle Aufführungsformen von rein konzertanter bis voll ausgestatteter szenischer Darstellung." Somit bot sich nun auch die Möglichkeit, das WWW als einen weiteren Raum für die Kammeroper zu nutzen.

Die Kammeroper entsteht nun während des Spiels auf der Bühne gleichzeitig in zwei Versionen:

  1. In der Wirklichkeit des Theaters gespielt auf der Bühne von Sängern und Musikern. Dirigentin und Orchester sind hier nicht anonym in Kostümierung wie sie in Guckkastentheatern üblich sind, versteckt tätig. Das Orchester und ihre Leitung hat ihren Platz vielmehr auf der Bühne, hinter den beiden Zimmern von Cristina und Joao, als Kaffeehausorchester. Die beide Räume des voneinander getrennten und nur in der Virtualität vereinten Liebenden sind räumlich auch durch das Kaffeehaus getrennt.
  2. Von der Wirklichkeit des Theaters wird die Kammeroper in die Wirklichkeit des WWW übertragen. Dadurch vervielfacht sich der Blickwinkel auf die Oper und deren Protagonisten. Erfaßt das Spiel auf dem Theater aus der Perspektive des Zuschauers immer gleichzeitig beide handelnden Personen und die Musik, so verändert sich die Perspektive im WWW. Dem Inhalt der Oper entsprechend gibt es im WWW zwei subjektive Sichtweisen: jene von Cristina und jene von Joao.

Diese Sichtweisen werden voneinander getrennt und in ihrer Subjektivität jeweils einer Kamera zugeordnet. Somit verändert sich die Perspektive der Subjekte (Cristina und Joao) und des Betrachters. Die Kammeroper erhält somit auch zwei monologische Perspektiven. Diese Perspektiven zu verfolgen gestattet das WWW. Und das WWW gestattet es, diese Perspektiven von jedem Ort der Welt zu verfolgen, selbst per Laptop und Mobiltelephon mit Infrarotschnittstelle. Somit wäre es sogar denkbar, mit dem entsprechenden Instrumentarium (Laptop und Mobiltelephon wie oben beschrieben) gleichzeitig die Kammeroper sowohl als Spiel auf der Bühne als auch als monologische Schicksale zweier Menschen im WWW zu verfolgen.

Der schwedische Komponist Eberhard Eyser hat die Kammeroper "Es hat am Vorabend geregnet" nach Erzählungen des portugiesischen Schriftstellers Fernando Namora geschrieben und zwar "Tinha chovido na véspera" und "Piquenique" aus der Novellensammlung "Cidade Solitára". Das Libretto aus diesen beiden Erzählungen hat der deutsche Autor und Dramaturg Eberhard Schmidt verfaßt. Eberhard Eyser ist einer der bedeutendsten schwedischen Komponisten der Gegenwart. Als Musiker war er Mitglied von mehreren bedeutenden europäischen Orchester, unter anderem des Rundfunkorchesters des Süddeutschen Rundfunks Stuttgart und der Königlichen Hofkapelle Stockholm. Er hat mehrere Preise für seine kompositorische Tätigkeit erhalten unter anderem den ersten Carl-Maria-von-Weber-Preis der Musikfestspiele Dresden und zuletzt den Preis für die Kulturhauptstadt Europas 1998, Stockholm. Seine Werke werden weltweit gespielt (auch beim Carinthischen Sommer in Kärnten). Eberhard Schmidt ist ein langjähriger Mitarbeiter des Regisseurs und Intendanten Harry Kupfer an der Komischen Oper in Berlin. Er übersetzte einige Opernlibretti ins Deutsche und machte zahlreiche Libretto-Einrichtungen für Opern- und Ballett-Komponisten, unter anderem "Die wundersame Schustersfrau" für Udo Zimmermann. Gemeinsam mit Horst Seeger verfaßte Eberhard Schmidt auch das Opernlexikon. Fernando Namora zählt zu den bedeutendsten Schriftstellern Portugals. Er war Mitglied der Europäischen Akademie für Wissenschaft, Kunst und Literatur. Vom Pen-Club und der Akademie zu Lissabon wurde er auch für den Literaturnobelpreis nominiert.

Die beiden Hauptpersonen dieser Internet-Kammeroper kommunizieren miteinander nur mittels der neuen Technologien, es findet eine Erforschung des Innenlebens von Cristina & Joao über das Internet statt. Die neue Technologie verbindet die beiden Personen zu einer Art Lovestory, die Kommunikationsfähigkeit der beiden funktioniert nur über das Internet. Der Zuschauer wählt sich die Perspektive des Betrachters selbst, er selektiert, aus welchem Blickwinkel er die Geschichte verfolgt. Das gesamte Projekt ist eine neue Kombination der Kunst mit neuen Kommunikationstechnologien und ist gleichzeitig ein Medienworkshop und ist auch gleichzeitig ein neues Forschungs- und Bildungsprogramm.

Das Projekt wird von ARBOS und seinen PartnerInnen realisiert. ARBOS - Gesellschaft für Musik und Theater in Wien-Salzburg-Klagenfurt, versteht sich zur Förderung des Neuen Musiktheaters von Szenischen Konzerten, des Theaters der Jugend, Gehörlosentheater, Inszenierten Räumen, Theatralischen Ausstellungen sowie Formen grenzüberschreitender Kunst.

Die Europäischen Partner von ARBOS, Gesellschaft für Musik und Theater (Österreich) sind: die Königliche Oper Stockholm, die Schwedische Artisten- und Musiker Interessensgesellschaft SAMI, das Theater NALEN in Stockholm (Schweden), die Universität Bergen, Sektion für Theaterwissenschaft (Norwegen), das Europäische Kulturzentrum in Thüringen in Erfurt (Deutschland), das Toihaus Salzburg und das Musilhaus Klagenfurt (Österreich) mit Künstlern aus Schweden, Norwegen, Österreich, Deutschland und Portugal.

 

© Herbert Gantschacher (Klagenfurt/Salzburg)

TRANSINST        table of contents: No.9


Literatur:

Herbert Gantschacher / Dzevad Karahasan "Formen des Lebens" (edition selene Wien 1999).

Herbert Gantschacher "Plädoyer für einen leeren Raum": http://www.servus.at/GFK/archiv/musikTheater/start.html

"Internationales Theater ohne Bühne": http://kaernten.orf.at/oesterreich.orf?read=detail&channel=9&id=13362&tmp=17539

Herbert Gantschacher "Neues Musiktheater ‚Kar' - eine beispielhafte Kooperation zwischen Industrie und Kunst" (Kognos-Verlag Stadtbergen 1995-1998)


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