Enzyklopädie vielsprachiger Kulturwissenschaften |
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Han-Soon Yim (Seoul) [BIO]
Die koreanische Bezeichnung für Kultur lautet im allgemeinen munwha - in koreanischen Schriftzeichen und
in chinesischen
. Dabei steht das erste
Zeichen für Satz oder Schrift und das zweite
für das Verb ändern oder werden. Die Zusammensetzung
aus den beiden Lexemen hieße wörtlich '(einfache Menschen
und/oder Zustände) alphabetisieren und kultivieren',
wurde aber erst im neunzehnten Jahrhundert als Bezeichnung des
Fremdwortes culture bzw. Kultur zunächst in Japan als eine
Art Lehnübersetzung aus dem Chinesischen neu geprägt
und hat sich dann auch in der koreanischen wie in der chinesischen
Sprache eingebürgert. Dem Begriff wurde das Übersetzungswort munmyung (
) für civilization
bzw. Zivilisation gegenübergestellt, wobei das zweite Zeichen
'hell, klar, erhellen'
bedeutet. Im Koreanischen taucht das zusammengesetzte Wort munmyung bereits im 15. Jahrhundert in der Bezeichnung eines höfischen
Musikstückes auf, das zur Lobpreisung des damals noch jungen
Königshauses komponiert wurde. Die heute geläufige Bedeutung
des Wortes ist aber wiederum erst seit der Öffnungs- und
Modernisierungsphase des Landes nachweisbar. Die fortgeschrittenen
Gelehrten der letzten Monarchie Chosun machten nämlich
seit Ende des 19. Jahrhunderts wohl in Anlehnung an das japanische
Vorbild munmyungkaewha (
) das Wort
kaewha (
) zu ihrem politischen
Schlagwort, das etwa (zivilisatorische) Öffnung,
Erneuerung bzw. Aufklärung bedeutet. Unter kaewhasasang
(
) hat man eine praktische Philosophie
der Aufklärung und Zivilisation verstanden, die eine
Modernisierung aller Lebensbereiche wie Politik, Wirtschaft, Gesellschaft,
Kultur, Wissenschaft u.a. anstrebte. Der Begriff kaewha
wurde seinerseits dem konfuzianischen Kanon I-ching (
Buch der Wandlungen) entnommen
und neu definiert.
Im heutigen Sprachgebrauch wird zwischen Kultur und Zivilisation
weiterhin unterschieden, obwohl die Aspekte des Zivilisationsbegriffs
ursprünglich französischer Provenienz weitgehend vom
Kulturbegriff subsumiert wurden und daher die herkömmliche
wertende Unterscheidung hinfällig geworden ist. Die neuzeitliche
Begeisterung für munmyung oder kaewha im Sinne
von Aufklärung und Zivilisation ist nun nicht mehr spürbar,
wenn z.B. neuerdings der Begriff Zivilisationskrankheit von
sich reden macht oder wenn der von Spengler, Marx und Heidegger
geprägte Begriff Kulturkritik eher im Sinne von Zivilisationskritik
in munmyungbipan (), nur
selten aber wörtlich in munwhabipan (
)
übersetzt wird. Die Gegenüberstellung des einst von
den Europäern für sich beanspruchten 'zivilisierten
Menschen' (
) und des außereuropäischen
'primitiven Menschen' (
oder
) besaß von vornherein keine
überzeugende Berechtigung, und auch der Gegensatz zwischen
Kulturvolk (
) und Naturvolk
(
) existiert wohl nur noch in einigen
Wissenschaftszweigen wie Geschichte, Archäologie und Mythologie.
Der Hintergrund der Gewichtsverschiebung von Zivilisation zu Kultur sowie der Einbürgerung des Wortes Kultur in der koreanischen Sprache ist nicht mit wenigen Worten darzulegen. Es liegt aber die Vermutung nahe, dass zur Prägung des Begriffs etwa drei Faktoren am wirksamsten waren: Erstens ist das terminologische Arsenal der deutschen Kulturphilosophie zu nennen, das die oben berührte aufklärerische Begriffsbildung bestimmt hat; dann die weiteren internationalen Forschungsergebnisse, die zur Etablierung des wissenschaftlichen Kulturbegriffs angeeignet worden sind; und nicht zuletzt die rasante Umwandlung des kulturellen Lebens selbst, die durch eine ständige Erweiterung und Vertiefung des umgangssprachlichen und institutionellen Kulturbegriffs gedeckt werden musste.
Das Wort munwha wurde eingeführt, um das international
geläufige Begriffsverständnis einzufangen, wonach Kultur
"die Gesamtheit der einer Kulturgemeinschaft eigenen Lebens-
und Organisationsformen sowie den Inhalt und die Ausdrucksformen
der vorherrschenden Wert- und Geisteshaltung" meint. Die
etymologisch bedingten ursprünglichen Begriffsinhalte von
Kultur wie Ackerbau, Kultivierung von Boden und Pflanzen, Zucht
oder Veredelung von Tieren und Bakterien usw. kann der sino-koreanische
Kulturbegriff grundsätzlich nicht ausdrücken, selbst
wenn sie bei der Übersetzung des europäischen Wortes
oder schon vorher bei einer alten Begriffsbildung von munwha
aus dem Chinesischen mit gemeint sein mögen. Dagegen deckt
sich der zusätzliche zentrale Sinngehalt von Kultur, Bildung,
ideal mit dem sino-koreanischen Lexem mun. Im alten Staats-
und Beamtenwesen stand nämlich das Schriftzeichen
für Wissenschaft, Kunst und Literatur und bildete zusammen
mit dem Antonym
für Militärwesen
die Zusammensetzung in Form des Begriffspaars munmu (
), mit der die seit geraumer Vorzeit
dualistisch besetzte gesamte Beamtenschaft alter Dynastien bezeichnet
wurde. Kulturstaat als Gegensatz zum Polizeistaat z.B.
lässt sich also ohne weiteres mit dem Attribut munwha
ins Kompositum munwhakuka (
)
übersetzen und ist als solches zusammen mit einer Angabe
zu dessen deutscher Herkunft ins Vokabular koreanischer Wörterbücher
eingegangen.
Beim Prozess der Wortbildung hat sich das Übersetzungswort
munwha als effektiv genug erwiesen, um das Begriffsfeld
von Kultur beinahe vollständig zu decken. Wenn man von den
oben genannten, in unserem Zusammenhang eigentlich redundanten
semantischen Elementen des europäischen Kulturbegriffs wie
Kultivierung, Zucht usw. absieht, so lassen sich unzählige
Komposita aus dem Grundwort munwha bilden, wobei dies sowohl
als Attribut als auch als Wurzelwort fungiert. In einem koreanischen
Wörterbuch sind unter diesem Stichwort über fünfzig
Zusammensetzungen angeführt, und zwar nach der Reihenfolge
der koreanischen Buchstaben von Kulturwert ()
bis Kulturorden (
). Die
jeweilige Stellung dieser beiden Komposita am Anfang und Ende
des Wortfeldes Kultur ist ein Zufall und dürfte auch
nicht von Dauer sein; und zufällig weisen sie auf den hohen
Stellenwert der Kultur hin, der im privaten wie im öffentlichen
Leben der Koreaner (und des Menschen überhaupt) doch kein
Zufall ist. Dieses Wortfeld lässt sich theoretisch fast beliebig
erweitern, wenn man die Zusammensetzungen mit dem Wurzelwort munwha
in die Betrachtung mit einbezieht. Diesem können ja zahlreiche
Zeit- und Epochenbegriffe wie Antike oder Gegenwart, Bezeichnungen
von Regionen, Ländern und Orten, Ausdrücke für
Kulturgruppen und für bestimmte Naturstoffe, Materialien,
Gegenstände u.ä. attribuiert werden, um alte und neue
Kulturerscheinungen wie Weltkultur (
),
Lung-shan-Kultur (
), Rave-Kultur
usw. begrifflich aufzunehmen.
In den gängigen koreanischen Wörterbüchern sind
u.a. folgende Zusammensetzungen jeweils mit einem Verweis auf
ihre deutsche Herkunft angeführt und erklärt: Kulturwert,
Kulturlandschaft (), Kulturwissenschaft
(sic!) (
), Kulturstaat
(
), Kulturkreis (
),
Kultursoziologie (
), Kulturgüter
(
), Kulturschicht (
) und Kulturkampf (
). Das letzte Stichwort Kulturkampf,
das nicht mit der chinesischen Kulturrevolution (
) zu verwechseln ist, bezieht
sich auf den Konflikt zwischen der katholischen Kirche und dem
preußischen Staat in der Zeit zwischen 1871 und 1887, stellt
also insofern ein Indiz für den lexikographisch wie allgemein
hohen Stellenwert des Kulturbegriffs dar, als es für Wörterbücher
der koreanischen Sprache überholt erscheint und daher besser
in ein historisches Fachlexikon verlegt werden dürfte. Allein
aus der Aufzählung der Wörter lässt sich schließen,
dass die deutsche Kulturphilosophie bei der Entstehung und Etablierung
des koreanischen Kulturbegriffs ein bestimmender Faktor war. Dagegen
sind relativ wenige Fachtermini angelsächsischer Prägung
als Stichwörter angeführt wie: cultural psychology
(
), cultural pattern (
), cultural anthropology
(
), hisitory of culture
(
) und cultural sociology
(
). Für drei von diesen Begriffen
hätte man auch auf die deutschen Versionen Kulturpsychologie,
Kulturgeschichte und Kultursoziologie verweisen können.
Seit Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts wird das Begriffsfeld
von Kultur immer stärker im Anschluss an die amerikanischen
Forschungsergebnisse modifiziert und bereichert, was man anhand
einer Enzyklopädie feststellen kann. Die Erläuterung
des Kulturbegriffs ist dort vorwiegend dem Forschungszweig Kulturanthropologie
/ cultural anthropology verpflichtet, die im angelsächsischen
Raum die amerikanische Ethnologie bezeichnet und an einigen
koreanischen Universitäten seit langem als ein selbständiges
Fachstudium der soziologischen Fakultät angeboten wird. Nach
einer kurzen Worterklärung für Kultur wird dieser Fachbegriff
dann noch mit folgenden Termini näher erläutert: culture
conflict (), acculturation
(
), culture change (
), cultural relativism
(
), culture area (
), culture pattern (
), culture contact (
) und cultural evolution
(
). Als Stichwörter deutscher
Herkunft gekennzeichnet sind in diesem Lexikon: Kulturwissenschaft,
Kulturstaat, Kulturkreislehre und Kulturfilm.
Die französische Forschung ist u.a. mit dem Stichwort sémiologie
de la culture (
) vertreten.
Der umgangssprachliche, institutionelle und wissenschaftliche
Kulturbegriff im Koreanischen ist also weitgehend international,
aber in gewisser Hinsicht auch national geprägt, was am ehesten
auf die Besonderheit der koreanischen Kultur zurückzuführen
wäre. Wenn die Kulturindustrie, die Filmwirtschaft
voran, gesetzliche Schutzmaßnahmen gegen ausländische
Produkte verlangt, so beruft sie sich dabei, wenn auch immer seltener,
auf die tradierten Sitten und Gebräuche sowie auf die kulturelle
Identität des Landes. In diesem Zusammenhang hört
man auch von Kulturautonomie und Kulturrelativismus,
auch wenn diese drei Begriffe noch nicht als Stichwörter
in koreanische Wörterbücher aufgenommen worden sind.
Bemerkenswert sind dort hingegen einige Alltagswörter über
Kultur, die zwar keine Wissenschaftlichkeit beanspruchen, die
aber um so unmittelbarer mit dem realen Leben des Menschen verbunden
sind. Das sind Kulturleben, Kulturpolitik und Kulturgüter,
wobei das dritte Wort wiederum deutscher Herkunft sein soll. Bei
Kulturleben () denkt
man wohl noch immer in erster Linie an die sogenannten Werkzeuge
der Zivilisation (
), kulturelle
und subkulturelle Einrichtungen (
)
wie Museen, Theater und Diskotheken, und viele Koreaner haben
sich noch bis vor etwa zwanzig Jahren für eine Kulturwohnung
(d.i. eine veraltende Bezeichnung für modern eingerichtete
Wohnungen:
) und für ein
Kulturdorf (
) interessiert.
Zum Kulturleben werden aber nicht nur technische Geräte und
moderne Wohnungen in Anspruch genommen, sondern die Kulturgüter
(
) bestimmen auch sehr wirkungsvoll
in Zusammenarbeit mit dem Tourismus immer stärker das Leben
der ganzen Nation mit. Sie sollen außerdem möglichst
viele ausländische Besucher anziehen. Gemäß seiner
großen Bedeutung ist das Wortfeld von Kultur zu einem großen
Teil mit den Bezeichnungen gefüllt, die sich direkt oder
indirekt auf Kulturgüter und deren Pflege und Verwaltung,
eine zentrale Aufgabe der Kulturpolitik (
),
beziehen. Das dazugehörige Vokabular beginnt ganz oben mit
dem ehemaligen Kultusministerium, das nunmehr das Ministerium
für Kultur und Tourismus (
)
heißt. Das Ziel der Umbenennung ist leicht zu erraten: Die
sog. gestalthaften (d.h. materiellen) Kulturgüter
(
) sowie die zu gestaltlosen
(umgangssprachlich: personalen) Kulturgütern
(
) ernannten, zur Bewahrung und
Fortführung des tradierten Kulturerbes (
)
dienenden Künstler und Handwerker sollen effektiv verwaltet
bzw. gefördert und vor allem mit Gewinn vermarktet werden.
Hier wird deutlich, dass die in der koreanischen Sprache noch
immer geltende Unterscheidung zwischen (geistiger) Kultur und
(materieller, technisch-wissenschaftlicher) Zivilisation trügerisch
ist. Wer als Kulturmensch ()
lebt und handelt, nimmt doch bewusst oder unbewusst Bezug auf
"die besonderen Sitten und Bräuche, das jeweilige Bildungs-
und Erziehungssystem, Wissenschaft und Technik, Religion, Sprache
und Schrift, Kunst, Kleidung, Siedlungs- und Bauwesen sowie das
politische, das wirtschaftliche und das Rechtssystem", auf
die sog. Kultursysteme also, die das reale Wesen jeder
räumlich und zeitlich bestimmten Kultur ausmachen. Diesem
Verständnis von Kultur scheint u.a. der insbesondere in Deutschland
geprägte Begriff Kulturwissenschaften am nächsten
gerecht zu werden, weshalb er auch zu den aktuellsten Themen der
wissenschaftlichen Diskussionen gehört, die gegenwärtig
in Korea über Kulturstudien bzw. Kulturforschung (cultural
studies) geführt werden. Das entsprechende Übersetzungswort
munwhakwahak (
) steht
zwar bereits als Stichwort in den Wörterbüchern, wirkt
aber nach koreanischem Sprachverständnis befremdend, weil
das Wort kwahak im Sinne von science bzw. Wissenschaft
eigentlich als eine Kurzform von Naturwissenschaften (
)
gebräuchlich ist. Daher ist üblicherweise die Abkürzung
munwhahak (
) in Umlauf.
Mit Kulturwissenschaften ist "eine multidisziplinäre
Forschungsrichtung" gemeint, die, "die (geistes-)geschichtlichen,
kunst - und literaturwissenschaftlichen, philosophischen, psychologischen
und soziologischen Fragen der Kultur" integrierend, auf "die
Anthropologie des Kulturschaffens im Bezugsrahmen der jeweiligen
gesellschaftlichen, historisch-politischen, literarisch-künstlerischen,
ökonomischen und rechtlichen Bedingungen" abzielt. Es
geht also um eine Gesamtwissenschaft, die alle herkömmlichen
Fachrichtungen der Geistes- und Sozialwissenschaften gleichsam
vereinen soll. Als disziplinäre Entsprechungen für diese
Bereiche haben sich in der koreanischen Sprache
für etwa humanities (bzw.
für Geisteswissenschaften) und
für Sozialwissenschaften etabliert. Die gegenwärtigen
Versuche, einzelne Fachdisziplinen der Philosophie, Geschichte
und Philologie mit Kulturwissenschaften zu verbinden oder kulturwissenschaftlich,
interdisziplinär bzw. interkulturell umzugestalten, sind
im wesentlichen auf das allgemeine Krisenbewusstsein der koreanischen
Geisteswissenschaften zurückzuführen, die sich vor der
gleichsam göttlichen Allmacht der Ökonomie und angewandten
Wissenschaften an ihrer Existenzberechtigung bedroht fühlt.
Vor diesem Hintergrund ist anzunehmen, dass der Begriff Kulturwissenschaften
bei aller Vieldeutigkeit weiterhin ein gefragtes und vielversprechendes
Schlagwort bleiben wird. Wie sich das wachsende Interesse daran
jenem von der amerikanischen Ethnologie bzw. Kulturanthropologie
bestimmten, grundsätzlich auf dem Gegensatz von Natur und
Kultur aufgebauten Kulturverständnis gegenüber verhalten
wird, sei hintangestellt. Ein Vorzug an den Kulturwissenschaften
scheint allerdings darin zu bestehen, dass darin auch die sogenannten
Gender-Studies sowie die Politische Ökologie und Kulturökologie
jeweils einen festen Platz haben.