Das Verbindende der Kulturen

SEKTION:

Die verbindende Methode der Geistes- oder Gesellschaftswissenschaften und der Naturwissenschaften: Die Methode der Transdisziplinarität

Bernhard Lauth (Seminar für Philosophie, Logik und Wissenschaftstheorie Universität München)
Transtheoretische Strukturen in den Natur- und Geisteswissenschaften

Transtheoretische Strukturen sind mathematische Strukturen, die theorie-übergreifend, in sachlich und methodisch ganz unterschiedlichen Bereichen der wissenschaftlichen Forschung auftreten können.

In den Naturwissenschaften sind solche Strukturen schon seit langem bekannt. Ein prominentes Beispiel sind Vektorräume und topologische Modelle. Diese Strukturen stammen ursprünglich aus der Geometrie, spielen aber eine zentrale Rolle in praktisch allen Bereichen der klassischen und nicht-klassischen Physik, von der Newtonschen Mechanik über Maxwells Elektrodynamik bis hin zur Relativitätstheorie und Quantenphysik.

Ein weiteres Beispiel sind deterministische Modelle und deterministische Systeme. Darunter verstehen wir Systeme, deren Zustände und Zustandsübergänge vollständig und eindeutig durch deterministische Gesetzmäßigkeiten bestimmt sind, in der Weise, daß zu jedem möglichen "Anfangs"-Zustand eine eindeutig bestimmte Reihe von Nachfolgezuständen gehört. Tatsächlich kann man praktisch alle physikalischen Prozesse (mit Ausnahme der Quantenphysik) als deterministische Prozesse in dem hier definierten Sinn betrachten. Das hängt mit der Tatsache zusammen, daß sich die entsprechenden Zustandsübergänge durch einfache oder partielle Differentialgleichungen beschreiben lassen, die zu gegebenen Anfangsbedingungen stets auf mathematisch eindeutige Lösungen führen.

Tatsächlich existieren transtheoretische Strukturen nicht nur in den "exakten" Naturwissenschaften, sondern auch in zahlreichen Geistes- und Sozialwissenschaften. Ein interessantes Beispiel sind grammatikalische Strukturen in der theoretischen Linguistik und Informatik (Chomsky-Grammatiken). Die Transtheoretizität ergibt sich hier aus dem bekannten Zusammenhang zwischen der Chomsky-Sprachen-Hierarchie und den korrespondierenden Automatentypen (Turing-Maschinen, endliche Automaten, usw.). Ein weiteres Beispiel sind neuronale Netze und konnektionistische Modelle, die aus der Künstlichen Intelligenz ebenso wie aus der Wahrnehmungs- und Kognitionspsychologie bekannt sind. Solche Netze sind wichtig für die Modellierung von kognitiven Funktionen und Lernprozessen, die z.B. bei der Mustererkennung, der Sprachverarbeitung oder der motorischen Steuerung relevant sind.

Unser besonderes Interesse gilt der Übertragbarkeit oder Nicht-Übertragbarkeit von deterministischen Modellen auf die Geistes- und Sozialwissenschaften, weil die Übertragbarkeit von deterministischen Modellen unmittelbar mit der Frage nach der Vorhersagbarkeit und Berechenbarkeit von menschlichem Verhalten zusammenhängt. Ein Beispiel sind die aus den Wirtschaftswissenschaften bekannten Multiplikator- und Akzeleratormodelle zur Beschreibung von wirtschaftlichen Wachstumsprozessen. Die bloße Aufzählung von Beispielen beantwortet freilich noch nicht die grundsätzliche Frage nach den Bedingungen und Voraussetzungen für die Übertragbarkeit von mathematischen Modellen und die Konsequenzen, die sich daraus für die betroffenen Forschungszweige ergeben.

Eine Antwort auf diese und ähnliche Fragen hängt maßgeblich mit bestimmten Annahmen über die Struktur menschlichen Denkens und Handelns zusammen, hängt also vom zugrundeliegenden Menschenbild ab. Eine vollständige und uneingeschränkte ("Eins-zu-Eins"-) Übertragbarkeit von mathematischen Strukturen aus den Naturwissenschaften in die Geistes- und Sozialwissenschaften korrespondiert mit einer "naturalistischen Anthropologie", die davon ausgeht, daß menschliches Denken und Handeln letztlich mit entsprechenden physikalischen, biochemischen oder neurophysiologischen Vorgängen identifiziert werden kann.

Die Annahme einer naturalistischen Anthropologie würde also bedeuten, daß wir vom deterministischen Charakter physikalischer Vorgänge unmittelbar und a priori (d.h. ohne weitere empirische Befunde) auf die Gültigkeit eines anthropologischen Determinismus schießen könnten. Darunter verstehe ich die These, daß menschliches Denken und Handeln selbst durch deterministische Gesetzmäßigkeiten bestimmt wird.

Ein Beispiel dafür sind die oben erwähnten neuronalen Netze, weil das Eingabe/Ausgabe-Verhalten von neuronalen Netzen vollständig und eindeutig durch die Aktivierung der Eingabeeinheiten zusammen mit dem jeweiligen "Schaltplan" des Netzwerks (durch die sogenannte "Konnexionsmatrix") bestimmt wird. Wenn neuronale Netzwerke ein brauchbares mathematisches Modell für die Informationsverarbeitung im menschlichen Gehirn darstellen, dann müssen die entsprechenden deterministischen Strukturen eo ipso auch auf die korrespondierenden kognitiven Prozesse anwendbar und übertragbar sein.

Tatsächlich ist die naturalistische Anthropologie eine hinreichende, aber keineswegs notwendige Bedingung für die Übertragbarkeit von mathematischen Strukturen. In Wirklichkeit genügen dafür logisch schwächere Prinzipien, die insbesondere nicht die mit der naturalistischen Anthropologie verbundene Annahme einer physikalistischen Ontologie voraussetzen. Ein Beispiel dafür ist das - von mit so genannte - allgemeine Korrespondenzprinzip. Das Prinzip besagt, daß man alle möglichen Gedanken, Gefühle und Handlungen umkehrbar eindeutig auf physikalische oder neurophysiologische Vorgänge abbilden kann, in der Weise, daß die entsprechenden Vorgänge immer nur in Verbindung mit ihren physiologischen Korrelaten auftreten können und umgekehrt.

Dieses Prinzip kann man zunächst als eine empirische Hypothese auffassen, die durch zahlreiche klinische und anatomische Befunde gestützt wird. Man kann das Korrespondenzprinzip aber auch aus allgemeineren Prinzipien ableiten, die mit der kausalen Abgeschlossenheit der physikalischen Welt und mit der explanatorischen Autonomie der Physik zusammenhängen. Tatsächlich ist das allgemeine Korrespondenzprinzip eine unmittelbare Folgerung aus der naturalistischen Anthropologie, ist aber andererseits auch mit einer klassisch-dualistischen Konzeption des menschlichen Geistes vereinbar.

Das Korrespondenzprinzip impliziert, daß die theorie-übergreifende (transtheoretische) Anwendbarkeit von mathematischen Strukturen aus den Naturwissenschaften in den Geistes- und Sozialwissenschaften nicht bloß ein zufälliges Phänomen darstellt, das als nicht weiter erklärbares factum brutum der Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsgeschichte zu betrachten ist, sondern sich mehr oder weniger zwingend aus entsprechenden anthropologischen Konzeptionen ergibt. Andererseits ist das Faktum der Transtheoretizität ein nicht unerheblicher empirischer Beleg für die Korrektheit dieser Konzeptionen.

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