Das Verbindende der Kulturen

SEKTION:

Der Einfluß der Medialität auf sprachliche Kommunikationsstrukturen und die Organisation des kulturellen Gedächtnisses

Meike Adam (Universität Köln)
Sprachbilder. Ikonische Selbstreferenz im Lichte medialer Differenz

Die in jüngerer Zeit nicht zuletzt durch Gebärdensprachforschung wieder vermehrt diskutierte These, visuell-gestische Sprachen seien phylogenetisch vokal-auditiven vorangegangen (z.B. Stokoe 2002; Armstrong/Wilcox/Stokoe 1995), findet durchaus historische Vorläufer (vgl. Bergermann 2001). Die Gebärde bzw. die Geste wird als ursprüngliche Ausdruckform einerseits der Körperlichkeit und andererseits der Bildhaftigkeit zugeordnet. Im Hintergrund steht die Suche nach einer natürlichen Objektreferenz des Zeichens, die Auffassung, "daß es für jede Art natürlich entstandener Sprache einmal eine Zeit gegeben haben muß, in der die Beziehung zwischen dem Zeichen und dem, was es bezeichnet, eine unmittelbar anschauliche war." (Wundt 1904, S. 155)

Der Wunsch nach unmittelbarer Anschaulichkeit, der sich in dem Diktum Wundts auf eine vorgängige Sprache fokussiert, findet sich in ähnlicher Form in der Entgegensetzung von Bild und Sprache. Die schlichte mediale Differenz Sprache versus Bild, in deren Diskussionszusammenhang Anschaulichkeit - und damit häufig auch Selbstevidenz - auf Seiten des Bildes verortet wird, wird durch Gebärdensprachen in Frage gestellt. Deren Herausforderung beruht nicht zuletzt auf dem hohen Anteil ikonischer Sprachzeichen, die in Gebärdensprachen zu beobachten sind. Während onomatopoetische Ausdrücke in Lautsprachen eine Randerscheinung sind, prädestiniert die gestisch-visuelle Modalität Gebärdensprachen dazu, Zeichen mit ikonischen Eigenschaften zu bilden.

Allerdings haben jüngere empirische Untersuchungen (Pizzuto/Volterra 2000) gezeigt, dass Ikonizität in Gebärdensprachen keineswegs gemeinhin verständlich ist, sondern vielmehr u.a. vom Wissen um Gebärdensprachen und Gesten abhängig ist - also sprachlich und kulturell erlernt werden muß. Einerseits unterstützen neurologische Studien (Emmorey et al. 2003; im Druck) diese Auffassung, dass auch ikonische Gebärden sprachintern verarbeitet werden und nicht bildlich wie etwa Pantomime. Andererseits konnte anhand experimentell vergleichender Studien mit Gehörlosen und Hörenden der Nachweis erbracht werden, dass die materielle Erscheinungsform sprachlicher Zeichen durchaus kognitive Strukturen beeinflusst, insoweit die ikonische Zeichenstruktur die semantische Relationen im mentalen Lexikon mitprägt (Grote 2001; Grote/Linz 2003).

Aufgrund der vorliegenden Daten ist nicht länger von einer dichotomischen Antonymie Arbitrarität - Ikonizität auszugehen, sondern von einem funktionalen Kontinuum. Die ikonische Referenz erweist sich nicht als eine ontologische, sondern als eine sprachabhängige Qualität. Der Einfluss der ikonischen Modalität von Gebärdenzeichen auf Semantisierungsprozesse scheint immer auch vom kommunikativen Kontext der Zeichenverwendung abzuhängen.

Literatur:
Armstrong, David F./Sherman E. Wilcox/William C. Stokoe (1995): Gesture and the Nature of Language, Cambridge.

Bergermann, Ulrike (2001): Ein Bild von einer Sprache. Konzepte von Bild und Schrift und das Hamburger Notationssystem für Gebärdensprachen, München. (zugl. Hamburg Univ., Diss., 1999/2000).

Emmorey, Karen/Thomas Grabowski/Stephen McCullough/Hanna Damasio et al. (2003): Neural systems underlying lexical retrieval for sign language. In: Neuropsychologia 41, S. 85 - 95.

Emmorey, Karen/Thomas Grabowski/Stephen McCullough/Hanna Damasio et al. (im Druck): Motor-iconicity of sign language does not alter the neural systems underlying tool and action naming. In: Brain and Language.

Grote, Klaudia (2001): Modalitätsabhängige Semantik. Evidenzen aus der Gebärdensprachforschung. In: Sprache und Literatur in Wissenschaft und Unterricht 87, Themenheft Gebärdensprache, hrsg. von Ludwig Jäger/Ulla Louis-Nouvertné, S. 31-52.

Grote, Klaudia/Erika Linz (2003): Sprechende Hände. Ikonizität in der Gebärdensprache und ihre Auswirkungen auf semantische Strukturen. In: Manus Loquens. Medium der Geste - Gesten der Medien, hrsg. von Matthias Bickenbach/Anina Klappert/Hedwig Pompe, Köln, S. 318-337.

Pizzuto, Elena/Virginia Volterra: Iconicity and Transparency in Sign Languages: A Cross-Linguistic Cross-Cultural View. In: The Signs of Language Revisited. An Anthology to Honor Ursula Bellugi and Edward Klima. Hrsg. von Karen Emmorey/Harlan Lane, Mahwah/New Jersey/London 2000, S. 261 - 286.

Stokoe, William C. (2002): Language in Hand: Why Sign Came Before Speech, Gallaudet.

Wundt, Wilhelm (1904): Völkerpsychologie. Eine Untersuchung der Entwicklungsgesetze von Sprache, Mythus und Sitte, 10 Bde, 1917-1926, Band 1: Die Sprache, 2. umgearbeitete Auflage, 1.Teil, Leipzig.

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