Internationale Kulturwissenschaften
International Cultural Studies
Etudes culturelles internationales

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Hans-Christoph Graf v. Nayhauss (Karlsruhe)
Aspekte einer interkulturellen Literaturdidaktik. Literaturdidaktik als Mentalitätenkunde.

   

Reise

Verstehen
ist eine Reise
Ins Land
Eines anderen

Fazil Hüsnü Daglarca (1)

1. Theoretische Voraussetzungen

Im nachfolgenden Beitrag geht es um den Versuch, eine interkulturelle Literaturdidaktik zu konstituieren. Eine interkulturelle Literaturdidaktik hat einerseits Anteil an der allgemeinen Literaturwissenschaft, andererseits an den Kulturwissenschaften. Die bisherige deutsche Literaturdidaktik verstand sich als eine schulbezogene Disziplin, obwohl schon in den 70er Jahren darauf aufmerksam gemacht worden ist, daß Literaturdidaktik als wissenschaftliche Disziplin "an erster Stelle Text- und Leserforschung in einem allgemein gesellschaftlichen Sinne und erst an zweiter Stelle schulbezogene Disziplin in einem speziell erziehungswissenschaftlichen Sinne"(2) sei. Richtet also die deutsche Literaturdidaktik als schulbezogene Disziplin ihre Frage auf das Was der Literatur, das der eigenen Gesellschaft dienlich ist, und auf die Rezeptionsbedingungen der Schüler, so müßte eine interkulturelle Literaturdidaktik nicht nur nach dem Was des Eigenen, sondern immer auch nach dem Was des Fremden fragen, das sich von dem Eigenen unterscheidet, nach dem, was fremd ist und daher für uns als Leser Rezeptionsprobleme entstehen läßt. Das Eigene(3) wird erst definierbar, wenn es vom Fremden zu unterscheiden ist. Das gleiche gilt umgekehrt für das Fremde.

Literaturdidaktik als Rezeptionswissenschaft untersucht, wie die Bedeutung eines Textes in der "Bedeutungsaktualisierung durch den Leser oder Hörer"(4) entsteht. Der literarische Text entfaltet sich bekanntlich zu seinem eigentlichen Charakter erst "durch die Konstitutionsleistung eines ihn rezipierenden Bewußtseins".(5) Einem fremdkulturellen Leser konstituiert sich der Text allerdings nicht nur in seiner individuellen Differenz, sondern auch in seinen jeweiligen ethnischen und nationalen Projektionen.

Die Erforschung der Rezeption in der hermeneutisch-orientierten Literaturdidaktik basiert auf der Grundlage der philosophischen Hermeneutik Hans-Georg Gadamers, die ihren Blick sowohl auf die Wahrnehmungs- und Verstehensveränderungen des Lesers als auch die Bedeutungsveränderungen des Textes in der geschichtlichen Gewordenheit und Vergangenheit des eigenen Kulturraumes richtet. Gadamer verlangt beim Verstehen immer, "daß die rekonstruierte Frage in das Offene ihrer Fraglichkeit gestellt" werde.(6) Das Offenhalten der Fraglichkeit des hermeneutischen Verstehens ist die Grundlage für eine Hermeneutik der Differenz, die auf das Unterscheidende, Andersartige, nicht Verbindende abhebt.

Jürgen Habermas hat einmal verdeutlicht, hermeneutisches Verstehen sei "seiner Struktur nach darauf angelegt, innerhalb kultureller Überlieferungen ein mögliches handlungsorientierendes Selbstverständnis von Individuen und Gruppen und ein reziprokes Fremdverständnis anderer Individuen und anderer Gruppen zu garantieren." Solches Verstehen banne "die Gefahren des Kommunikationsabbruchs in beiden Richtungen: sowohl in der Vertikale der eigenen Lebensgesschichte und kollektiven Überlieferung, der man zugehört, wie auch in der Horizontale der Vermittlung zwischen Überlieferungen verschiedener Individuen, Gruppen und Kulturen."(7)

Dieses Bild von Habermas mit der Vertikalen und Horizontalen bildet zugleich das Axiom für das Verständnis vom Fremden und Eigenen. Die Vertikale der eigenen Lebensgeschichte und der Einflüsse kollektiver Überlieferung kann als die Achse des Bekannten und Vertrauten gelten, von der aus sozusagen horizontal im Hinblick auf Fremdes, Unvertrautes die Fühler ausgestreckt werden. Auf der horizontalen Achse zieht man das Fremde, Unbekannte an sich heran und assimiliert es, um es zu verstehen. Die Assimilation(8) ist die geläufigste Form unserer Wahrnehmung.

Auf der Vertikalen des Habermas'schen Modells, der eigenen Lebensgeschichte und des eigenen Kulturraumes, wächst jeder Text durch seine geschichtlichen Interpretationen.(9) Hinsichtlich der Horizontalen ist dementsprechend zu ergänzen, daß ein Text auch durch fremdkulturelle Rezeptionen an Bedeutung gewinne, daß er ebenfalls in seinem Bedeutungshorizont durch seine interkulturellen Rezeptionen wachse.(10) Hier liegt das Aufgabenfeld einer interkulturelle Literaturdidaktik. Daher lautet meine These, daß gerade aus der Perspektive einer an der Hermeneutik der Differenz orientierten Literaturdidaktik das Verstehen fremder Kulturen und Mentalitäten gesteigert werden kann. Mentalitäten sind dabei zu definieren als "das Ensemble der Weisen und Inhalte des Denkens und Empfindens, das für ein bestimmtes Kollektiv in einer bestimmten Zeit prägend ist."(11) Mentalität manifestiert sich sowohl in Handlungen als auch in der Literatur, die als Spiegel von und als Quelle für Mentalitäten gilt.(12) Der norwegische Germanist Ivar Sagmo fomulierte einmal beispielhaft über die Vermittlung deutscher Wirklichkeit in Literaturkursen: "Literarische Texte und ihre Rezeption sind in dieser Perspektive Teile eines Gesprächs, das eine Sprachgemeinschaft über Themen und Fragen führt, die ihr die jeweilige Gegenwart aufgegeben hat. Darin finden wir Versuche der Sinngebung menschlicher Existenz und die Formulierung eines Selbstverständnisses, das Denk und Verhaltensweisen einer Lesergemeinschaft mitgeprägt hat."(13) Landeskunde wird hier durch literarische Texte zu einer Mentalitätenkunde erweitert. Diese Perspektive gilt auch reziprok. Wenn ein Deutscher sich einer fremden Kultur nähern will, kann er ebenfalls über deren Literatur, auch in einer Übersetzung, Einblicke in die ihm fremde Mentalität gewinnen.

 

2. Zur Funktion von Literatur im Hinblick auf das Verstehen fremder Mentalitäten

Max Frisch formulierte in seinem Essaybändchen Öffentlichkeit als Partner 1967, daß die Welt, gäbe es die Literatur nicht, sicher nicht anders liefe, aber sie würde anders gesehen, nämlich so wie die Nutznießer sie gesehen haben möchten: nicht in Frage gestellt."(14) Literatur stellt die Welt im Wort in Frage, sie bringt "die Sprache immer und immer wieder auf den Stand der Realität"(15), also auf den neuesten Stand des Bewußtseins. Auch Christa Wolf glaubt an die Wirkung von Literatur und daran, daß "jener Apparat, der die Aufnahme und Verarbeitung von Wirklichkeit zu tätigen hat, von der Literatur geformt wird."(16) In ihrem Roman Kindheitsmuster beantwortet Christa Wolf die Frage, "Wie sind wir so geworden wie wir heute sind" mit dem Satz: "Eine der Antworten wäre eine Liste mit Buchtiteln."(17) Bücher können unsere Mentalität formen. Karl Dedecius, der berühmte Mittler zwischen Deutschen und Polen, bezeichnete die Literatur eines Volkes als "ein Fenster, aus dem dieses Volk den Fremden ansieht, durch das der Fremde in den Lebensbereich dieses Volkes Einblick gewinnen kann. Unser Blick durch das offene Fenster des Buches in die geistige Wirklichkeit des Nachbarn ist notwendig und nützlich."(18) Literatur dient ebenfalls als Schaufenster eines Volkes. In diesem Schaufenster kann etwas von der besonderen individuellen Mentalität einer Nation erkannt werden, denn "die Literatur eines Landes ist durch die Literatur eines anderen nicht zu ersetzen. Das sind keine Apfelsinen, keine Chemikalien, keine Präservative, sondern Thomas und Heinrich Mann, Alfred Döblin, Hermann Hesse, Kafka, Rilke, Roth und Ringelnatz, die nicht ersetzt werden können, weder durch Gide, noch durch Duhamel, Mauriac, Joyce, Virginia Woolf, Huxley oder Aldington..."(19). Die Literatur eines Landes ist wie seine Sprache sein "Haus des Seins" (Heidegger), zugespitzter, sie ist die Haut unseres individuellen Daseins.

In ihrer Sprache akzentuiert jede Nation andere Bedürfnisse, die aus ihrer spezifischen geographischen, geschichtlichen und kulturellen Situation entspringen. Je differenzierter die sprachliche Form dieser Wirklichkeitseinrichtung, dieses Zugriffs auf die Wirklichkeit ist, desto nuancierter ist auch die Wahrnehmung der Wirklichkeit. Da Literatur den Anspruch erhebt, ein besonders nuancierter sprachlicher Zugriff auf die Wirklichkeit zu sein, ist an ihr am deutlichsten die unterschiedliche Form der Wirklichkeitseinrichtung von Völkern, von Nationen abzulesen. Literatur ist zugleich eine "spezifische Art menschlicher Wirklichkeitsaneignung und Wirklichkeitsbewältigung, dabei ist aber ihr kulturgeschichtlicher Wert nicht daran zu bemessen, was und wieviel von einer irgendwie gearteten empirischen Wirklichkeit darin enthalten ist, sondern daran, inwiefern und wie sie zentrale Diskurse ihrer jeweiligen Entstehungszeit aufgreift bzw. solche auslöst."(20) Dabei können uns Stereotypen und Klischees helfen, die in der Literaturwissenschaft meistens synonym gebraucht werden. Sie können uns einerseits eine Orientierungslinie des Verständnisses geben, andererseits jedoch auch sog. Quellpunkte der Fremde verschütten, auf die gerade bei Übersetzungen besonders zu achten ist.

 

3. Zusammenfassung

In einer interkulturellen Literaturdidaktik, die fremdkulturelle Texte danach aussucht, was diese zur Mentalitätserhellung eines fremden Volkes und dessen Seele beitragen, ist es also notwendig, das Fragliche des Verstehens und des Verstandenen immer offenzuhalten, dadurch das Andersartige und Unterschiedene zu betonen und nach Quellpunkten der Fremde und einer fremden Kultur zu suchen. Die moderne Soziologie definiert Kultur als "das, was sich an den Lebensweisen der Menschen unterscheiden läßt und in dieser Hinsicht mit den Lebensweisen anderer Menschen verglichen werden kann. Oder kürzer gesagt: Kultur ist das, was unvergleichbare Lebensweisen vergleichbar macht."(21) Diese Suche kann nur dem Prinzip einer Hermeneutik der Differenz folgen, das in ein Bild einer modernisierten Fabel von Lafontaine übertragen hieße: "Was Singen und Arbeiten betrifft, so habe ich schon deiner Mutter gute Ratschläge gegeben, sagte die Ameise zur Grille im Oktober. Ich weiß. zirpte die, aber Ratschläge für Ameisen."(Helmut Arntzen(22)). Die Ratschläge der Ameise können für die Lebensmotivation der Grille weder gelten noch taugen. Es kann immer nur darum gehen, die räumlichen, geschichtlichen, zeitlichen, kulturellen und sozialen Differenzen zum Fremden sich bewußt zu machen, um das Fremde achten zu lernen und es "frei, gleich und brüderlich" neben das Eigene zu setzen und gelten zu lassen.(23)

 

ANMERKUNGEN

1 Fazil Hüsnü Daglarca, Reise, In: Yüksel Parzakaya (Hrsg.), Die Wasser sind weiser als wir. Türkische Lyrik der Gegenwart. Zweisprachig. München (Franz Schneekluth) 1987, S.137.
2 Hartmut Heuermann, Peter Hühn, Brigitte Röttger, Modell einer rezeptionsanalytischen Literaturdidaktik. In: Hartmut Heuermann / Peter Hühn / Brigitte Röttger, Literarische Rezeption. Paderborn 1975, S.89-112, hier: S.91 (= ISL Informationen zur Sprach- und Literaturdidaktik, Bd. 4).
3 Nietzsche definiert das Eigene als das "Alte, Altbekannte, von Jedermann Gesehene und Übersehene".(Friedrich Nietzsche: Kritische Studienausgabe in 15 Bdn., hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Berlin 1980, Bd. II, S.465). Nietzsche empfiehlt, man solle sich vom Ufer seiner eigenen Zeit - und das meint den eigenen Standort - in den Ozean der vergangenen Weltbetrachtung treiben lassen, denn "von dort aus nach der Küste zu blickend, überschaut man wohl zum ersten Male ihre gesamte Gestaltung und hat, wenn man sich ihr wieder nähert, den Vorteil, sie besser im ganzen zu verstehen als die, welche sie nie verlassen haben" (Friedrich Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches I, Nr. 616).
4 Rainer Frank: Literaturdidaktische Positionen. I - Versuch einer Bestandsaufnahme. In: Wirkendes Wort. 31. Jg. 1981, Heft 1, S.39-51, hier: S.47.
5 Wolfgang Iser: Der Lesevorgang. Eine phänomenologische Perspektive. In: Rainer Warning (Hrsg.): Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis. München 1975, S.253-276, hier: S.259 (= UTB 303).
6 Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. Tübingen 1986, Bd. 1, S.380.
7 Jürgen Habermas, Erkenntnis und Interesse. Frankfurt/M. 1973, S.211 (= stw 1.)
8 Der Mechanismus, der aus der Erblast persönlicher, gesellschaftlicher und kultureller Prägungen die individuelle Wahrnehmung konstituiert, verläuft nach bestimmten Formen der Assimilation. (Vgl. Axel Horstmann: Das Fremde und das Eigene. Assimilation als hermeneutischer und bildungstheoretischer Begriff. In: Der Altsprachliche Unterricht, Heft 1+2 / 1991, S.37-56, bes. S.52ff.).
9 Vgl. Rolf Geißler, Prolegomena zu einer Theorie der Literaturdidaktik. Hannover 1970, S.62.
10 Vgl. Hans-Christoph Graf v. Nayhauss, Erkundungen ins Landesinnere des islamischen Orients an Beispielen marokkanischer Gegenwartsliteratur. Zur Problematik der Rezeption fremdkultureller Literaturen aus nichtdeutschsprachigen Ländern. In: karlsruher pädagogische beiträge Nr. 47 /1999, S.65-90, hier: S.70.
11 Peter Dinzelbacher, Zur Theorie und Praxis der Mentalitätsgeschichte. In: Ders. (Hrsg.), Europäische Mentalitätsgeschichte. Stuttgart 1993, S.XV-XXXVI, hier: S.XXVI.
12 Vgl. Ivar Sagmo: Was kann der Auslandsgermnanist in seinen Literaturkursen von deutscher Wirklichkeit eigentlich vermitteln ? Zum Kanonproblem interkultureller Germanistik. In: Wierlacher, A. (Hrsg.): Perspektiven und Verfahren interkultureller Germanistik. München 1987, S.283-287. hier: S.285.
13 ebenda, S.285.
14 Max Frisch, Öffentlichkeit als Partner. Frankfurt/M. (Suhrkamp) 1967, S.87 (= es SV 209).
15 ebenda, S.88.
16 Christa Wolf, Kindheitsmuster. Darmstadt und Neuwied (Luchterhand) 1979, S.339 (= SL 277).
17 ebenda.
18 Karl Dedecius, Überall ist Polen, Frankfurt/M. (Suhrkamp) 1974, S.81 (= st 195).
19 Józef Wittlin: Verteidigung der deutschen Bücher. Zitiert in: Karl Dedecius: Deutsche und Polen. Botschaft der Bücher. München (Hanser) 1971, S.54.
20 Ivar Sagmo, a.a.O., S.285.
21 Dirk Maecker, Gesellschaft als Kultur. In: Lettre, Heft 45,II. Vj. / 99, S.56-59.
22 Helmut Arntzen in: Fabeln, Prarabeln und Gleichnisse, hrsg, eingeleitet und kommentiert von Reinhard Dithmar. München 1970, S.255 (= dtv wr 4047).
23 Vgl. Karl Dedecius: Deutsche und Polen. Botschaft der Bücher. München (Hanser) 1971, S.21.



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