Trans | Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften | 12. Nr. | Januar 2002 |
Kurt Luger (Salzburg)
Vor wenigen Jahren noch lief täglich ein Postläufer, ein sogenannter "Mail Runner", von Namche Bazar, dem Zermatt Nepals und Hauptort des Everest-Gebietes oder Khumbu, hinunter zum kleinen Airstrip, um die Briefe der einheimischen Sherpa-Bevölkerung und ein paar Postkarten von Touristen zum Flugzeug zu bringen. Am nächsten Tag brachte er Post für die Bewohner und die neuesten Gerüchte aus der Hauptstadt ins Dorf. In den achtziger Jahren galt der Mount-Everest-Nationalpark als Geographie der Hoffnung für einige tausend Expeditionsbergsteiger und Trekker, die von der Faszination des einfachen Lebens hingerissen waren.
"Geographie der Hoffnung" im Umbruch
Heute suchen jährlich rund 20 000 Touristen diesen Ort des Glücks, und sie finden dort unter anderem 120 Telefonleitungen und 20 Satellitenschüsseln vor. In vier Sherpa-Hotels stehen nagelneue Pentium-II-Computer: Die "Kids of Khumbu" kommunizieren mit ihren Freunden in Australien, Amerika oder Europa per E-Mail. Ein mit österreichischer Hilfe erbautes Kleinkraftwerk beliefert die Dörfer mit Strom, der Voraussetzung für das Surfen im Cyberspace und für Warmwasser, mit dem sich die Touristen ohne schlechtes Gewissen duschen können. Noch vor fünf Jahren mussten für "Hot Showers" Bäume abgeholzt werden. Jene Welt ohne Tourismus, in der die göttliche Ordnung herrschte und die Jahreszeiten den Rhythmus der Menschen regulierten, kennen die jungen Sherpas nur aus Erzählungen. Die Dörfer des Sherpa-Landes haben sich mit dem Strom und mit den Touristen verändert. Besonders die Kinder der Tourismuspioniere sind glücklich über den Anschluss an die moderne Welt.
Die Probleme von Bergbewohnern wurden bislang v.a. von ökologischen und ökonomischen Gesichtspunkten aus diskutiert. Wie sich die Kulturen verändern und sich das auf die Aufwachsbedingungen und Lebensperspektiven von Jugendlichen auswirkt, war die Forschungsfrage einer neuen Studie*, die im Mount-Everest-Nationalpark unter jungen Sherpas durchgeführt wurde, in einem Gebiet also, in dem der Tourismus eine zentrale Rolle spielt.
Vom Kartoffelanbau zum Tourismus
Etwa gleichzeitig mit dem Aufschwung des Tourismus in den Alpen zu einem wichtigen Wirtschafts- und Modernisierungsfaktor begann auch die Eroberung der fernen Gipfel im Himalaja. In den Fünfziger Jahren wurden die meisten Achttausender erstbestiegen, und im Gefolge der Expeditionen begann in Nepal ein bescheidener Trekkingtourismus. Am meisten profitierte davon das Volk der Sherpas, die als Domestiken der Sahibs, als "Tigers of the Snow" (als "Schneeleoparden"), weltberühmt wurden. Ohne sie wären viele Gipfelsiege nicht zustande gekommen; der Preis dafür war aber unendlich hoch: zahlreiche Sherpas starben auf den höchsten Bergen der Welt. Der Tourismus kam gerade rechtzeitig, denn die Chinesen hatten Tibet annektiert und den Handel über die Himalaja-Pässe mit dem Süden, ein wichtiges Standbein der Sherpa-Wirtschaft, unterbunden. Neben der Yak-Zucht und dem Kartoffelanbau setzten die Sherpas von nun an auf die Touristen. 1976 wurde das Gebiet zum Nationalpark erklärt und entwickelte sich in der Folge zur zweitwichtigsten Trekkingdestination Nepals. Seither ist das Leben der Menschen stärker am Tourismus als am Rhythmus der Jahreszeiten und der religiösen Feste orientiert, wenngleich diese - sofern nicht außerhalb der Tourismussaison - bereits als touristische Attraktionen in das Angebot integriert wurden.
Wo bleiben die beruflichen Perspektiven?
Der Jugend im Khumbu eröffnen sich neben dem Tourismus keine beruflichen Perspektiven, sieht man von wenigen Dienstleistungen (Gesundheit, Sicherheit, Nationalparkverwaltung usw.) ab. Junge Sherpas, die ihr Dorf verlassen, kehren aus der Stadt oder aus dem Ausland nur in ihre unmittelbare Heimat zurück, um die Lodge ihrer Eltern zu übernehmen - sofern diese eine besitzen. Für die Sherpa-Jugendlichen, die in Katmandu aufwachsen, bieten die Dörfer keine Perspektive, weder beruflich, noch genügen sie den Ansprüchen im Vergleich zu den gewohnten Annehmlichkeiten des Stadtlebens. Für die Mädchen stellt sich dieses Problem weniger häufig, weil nicht so viele in die Stadt ziehen. Sie sind in den Modernisierungsprozess weitaus weniger eingebunden, da sie traditionsbewusster erzogen wurden und werden, weniger Kontakt mit Ausländern haben und seltener über eine höhere Schulbildung verfügen.
In der Region des Everest-Nationalparks war die Landwirtschaft bis in die Fünfziger Jahre der dominierende Wirtschaftsbereich. Bis heute bewirtschaftet nahezu jeder Haushalt im Khumbu eigene Felder und hält sich Haustiere. Mit dem Tourismus entstand eine gemischte Wirtschaftsstruktur, mehr und mehr geprägt durch den dynamisch wachsenden Dienstleistungssektor und durch eine Kultur, die sich zusehends vom Althergebrachten löste und neue Formen akzeptierte.
Das Ausmaß an Mobilität und Migration unter der Sherpa-Jugendlichen ist enorm. Schon als Schüler legen sie täglich etliche Kilometer zurück - alles zu Fuß. Für eine weiterführende Ausbildung ziehen die jungen Sherpas nach Katmandu oder in eine andere Stadt, leben entfernt von ihren Eltern, den gleichaltrigen Freunden und somit auch von in ihrer Stammkultur. Sie kommen auch nicht mehr zurück, denn Highschool- und Universitätsabsolventen finden im Khumbu keine ihrer Ausbildung entsprechende Arbeit. Die Abwanderung der im Grunde heimatverbundenen Jugendlichen in die Städte oder ins Ausland stellt einen erheblichen Verlust dar. Im Khumbu mangelt es folglich an hoch qualifizierten und ständig in den Dörfern lebenden jungen Leuten, die Verantwortung für bestimmte politische Entscheidungen und Entwicklungsprozesse übernehmen bzw. mittragen können. Das Shangri la der Jungen liegt im fernen Westen - etwa jeder dritte männliche Jugendliche nutzt seine Beziehungen zu Touristen oder anderen Sponsoren für einen Auslandsaufenthalt, sei es, um dort zu arbeiten oder zu studieren. Wie in den Alpen verfügen die Kinder von Hotelbesitzern gegenüber den im Tourismus Angestellten über wesentlich mehr Geld und können dadurch auch ihre - zumeist westlich geprägten - Vergnügungspraktiken ausleben.
Statussymbole und Schulbildung
Die "Lodge Owner Kids" von Namche sind besonders stolz darauf, in den USA gewesen zu sein; dieser Trip nach Übersee ist eines der ultimativen Statussymbole. In vergleichbaren Berggebieten unserer Alpen gehören dazu eher die modische Kleidung, der Sportwagen oder ein exotisches Urlaubsziel, Trendsportarten sowie das Neueste auf dem Mediensektor. Gelten diese Zeichen der Modernität in eingeschränkten Maßen auch für die wohlhabenden Sherpa-Jugendlichen Katmandus, so trifft dies auf das Everest-Gebiet praktisch überhaupt nicht zu. Status erwirbt man schon deshalb nicht durch ein T-Shirt von DKNY, weil Designermarken überall als Fälschungen erworben werden können. Sozialer Rang, Alter, Stellung in Clan und Gesellschaft gelten in der Sherpa-Kultur auch unter Jugendlichen und werden weitgehend akzeptiert. Status wird daher nicht primär durch Insignien der Konsumgesellschaft erworben. Sie spielen aber eine stärkere Rolle als früher, und mit ausländischem Whisky punktet der Ausrichter eines Festes im Ansehen derart, dass er dafür auch eine hohe Verschuldung in Kauf nimmt...
Seit kurzem haben einige Sherpa-Haushalte die Möglichkeit zum Satellitenfernsehen und damit Anschluss an die globale Kulturindustrie. Seit fünf Jahren kommt Strom aus der Steckdose, die blauen Nietenhosen haben die traditionelle Sherpa-Kleidung jedoch schon vor längerer Zeit abgelöst. Noch scheint der Einfluss der Medien im Khumbu zwar relativ gering, aber zweifellos bringen die Medien neue Ideen in eine Kultur ein. Sie verändern damit die Software der Gesellschaft, und der Einfluss westlicher Kulturen wird wachsen. Dieser kulturelle Wandel wäre aber undenkbar ohne die Meinungsführer, meist junge Erwachsene, die zwischen den Städten und dem Khumbu pendeln und urbane Lebensentwürfe wie Konsumgüter in die Dörfer bringen.
Es sind vor allem die gut Gebildeten, die zu solchen Meinungsführern und Trendsetzern werden. Während die Schulpflicht in Österreich gut 250 Jahre zurück reicht, errichtete Sir Edmund Hillary mit seiner Hilfsorganisation das erste "Schoolhouse in the Clouds" zu Beginn der Sechziger Jahre. Die heute Fünfzigjährigen gehören zur ersten Sherpa-Generation mit Schulbildung und haben zum kulturellen Wandel erheblich beigetragen. Ang Rita, einer der ersten Absolventen dieser Schule, erinnert sich, dass sein Vater die Schule als Konkurrenz zur Arbeit im Haus und auf dem Feld sah, die für Kinder bis heute eine Selbstverständlichkeit bildet. "It is not necessary to learn everything, two years are enough", hieß es damals.
Heute wird der Schulausbildung höherer Wert beigemessen, weil "modern sein" einen hohen Stellenwert genießt und die gute Schulbildung als Voraussetzung dazu gilt. Die jungen Sherpas halten die ältere Generation, die nicht schreiben und lesen kann, für rückständig und abergläubisch: Selbst jene, die es zu Wohlstand gebracht hätten, seien der Technik gegenüber ablehnend bis skeptisch eingestellt, schätzen den Wert von guter Bildung zuwenig und wollen von einem neuen Verständnis der Geschlechterrollen, insbesondere der Neupositionierung der Frauen, nichts wissen. Junge Frauen kritisieren vor allem, dass sie im Unterschied zu Burschen viel konservativer erzogen würden. Sie wollen nicht auf Haushalt getrimmt werden, während die Burschen Freizeit genießen oder ins Ausland gehen. Es waren und sind die Mädchen und Frauen, die Sherpanis, die in die Sherpa-Kultur das bewahrende Element einbringen, Kontinuität und Stabilität garantieren, während die Männer fort sind, und damit auch eine selbstbewusste Position in der Gesellschaft einnehmen. Die Sozialisation der jungen Frauen im Khumbu erfolgt aus diesem weiblichen Selbstverständnis heraus, für die Aufrechterhaltung und Weiterentwicklung der Kultur zu sorgen. Diese Rolle wird von den Mädchen, die etwa in Katmandu aufwachsen, nicht mehr ohne Widerspruch akzeptiert, und in vielen Familien wird der Generationskonflikt primär zwischen Töchtern und Müttern ausgetragen.
Offenere "Lebensentwürfe" gefordert
Ihre Feste organisieren sich die Sherpa-Jugendlichen selbst und schaffen so Gelegenheiten zum zwanglosen Vergnügen und die Möglichkeit zum Erstkontakt mit dem anderen Geschlecht. Diese "Changdungs" lassen sich mit Diskotheken in Alpen-Berggebieten vergleichen, weil auch diese Orte sind, in denen man sich der Kontrolle durch Erwachsene entziehen kann beziehungsweise die Einhaltung der Normen und Werte nicht so streng gehandhabt wird.
In den vergangenen 30 Jahren zogen viele Sherpafamilien nach Katmandu. Der Nachwuchs lernte Nepali und Englisch in der Schule, aber nicht mehr die eigene Sprache, die auf dem Tibetischen beruht. Ein Teil der gebildeten Jugend ist heute der Meinung, dass mit dem Verschwinden der Sherpa-Sprache auch die Sherpa-Kultur und die ethnische Identität in Gefahr sei. In Katmandu wurden daher einige Sherpa-Kulturvereine gegründet, in denen der Nachwuchs lernt, wieder nach alten Traditionen zu tanzen und dazu die alten Lieder zu singen. Auf diese Weise versuchen sie ein bisschen von der Glut zu bewahren, die das Feuer der Kultur am Leben hält. Aber auch noch so bemühte Versuche werden die Wandlungsprozesse nicht aufhalten, die das Leben in den Bergen der Welt verändern. Das alte Gewohnte, das Sicherheit und Ordnung gab, gilt mehr und mehr als rückständig, das Neue, Attraktive und Unsichere gewährt noch keinen Halt. Einen solchen finden die Sherpa-Jugendlichen im Buddhismus, in dem sie ungleich tiefer verwurzelt sind als Altersgenossen in den Alpen wie zum Beispiel die österreichische Berglandjugend in der katholischen Kirche.
Die Jugendlichen heutzutage müssen ihre Lebensentwürfe flexibler anlegen, weil die Veränderungen rascher erfolgen. Technologische Entwicklungsphasen werden teilweise sogar übersprungen. Atemlos versuchen sie ihre Identitäten zu formen, das zu integrieren, was zu ihnen passt. Moderne Bergbewohner wollen sie sein, und so entstehen Lebensstile innerhalb größerer hybrider Kulturen, die niemals statische Gebilde sein können. Die traditionellen Lebensformen in vielen Bergtälern der Welt, die heute manchmal wie Bollwerke der göttlichen und natürlichen Ordnung erscheinen, durchliefen schon immer Modifikationen und Transformationen, waren durchlässig und mussten ehemals Fremdes integrieren. Neu an der gegenwärtigen Entwicklung ist die ungeheure Geschwindigkeit, mit der Veränderungen erfolgen und welche die Jugend in den Bergen der Welt zu permanenten Anpassungen zwingt, wenn sie ihrem Leben Gestalt geben wollen.
© Kurt Luger (Salzburg)
Zitierempfehlung:
Kurt Luger: Von Schneeleoparden und Cybersherpas. Zu Veränderungen
der Lebensbedingungen im Mount Everest Nationalpark. In: TRANS.
Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. Nr. 12/2002.
WWW: http://www.inst.at/trans/12Nr/luger12.htm.