Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 13. Nr. Mai 2002

Das Leiden an Sprachverfall und Sprachverlust als Inspirationsquelle von Literaturen bedrohter Sprachen

Fritz Peter Kirsch (Wien)
[BIO]

 

Unsere Zeit ist sowohl von transnationalen Prozessen als auch von verstärkten Abgrenzungstendenzen ethnischer oder religiöser Gemeinschaften gekennzeichnet. In den westlichen Medien wird eher der "Rückfall" in Nationalismen, die man für überwunden hielt, kritisiert; andererseits erscheint auch der Trend zur Konvergenz in dem Maße problematisch als er bestehende Gegensätze (z. B. wirtschaftlicher Art) verschärft statt sie im Sinne humanitärer Bekenntnisse seitens verantwortlicher PolitikerInnen abzubauen. Diese Diskussionen um Für und Wider stellen für die Kulturwissenschaften eine besondere Herausforderung dar.

Ein besonders sensibles Spannungsfeld, in dem Globalisierung und identitäre Affirmation aufeinanderprallen, ist jenes der Sprachbewertung und Sprachökonomie. Während die "großen" Sprachen um internationale Geltung als Arbeitssprachen oder linguae francae ringen, geht es bei den "kleinen" um Verbleib oder Verderb. Der Terminus Sprachtod ("Language Death") erscheint manchen Linguisten wegen seiner biologistischen Konnotationen fragwürdig. Nichtsdestoweniger gibt es zu diesem Problemkreis eine bereits relativ reiche Forschungsliteratur.(1) Tatsache ist jedenfalls, daß viele auf unserem Planeten (noch) gesprochene Sprachen mit relativ geringer Verbreitung im Spiel der sozio-ökonomischen Interessen den Kürzeren ziehen und auf Grund von Marginalisierungs-prozessen, die nicht selten seit Jahrhunderten wirksam sind, aus dem "lebendigen" Gebrauch zu verschwinden drohen. An Beispielen auf allen Kontinenten besteht kein Mangel. Von den 260 Sprachen Kameruns, um ein Beispiel unter sehr vielen anzuführen, haben angesichts des Verdrängungs- und Assimilationsdrucks, der von den aus der Kolonialzeit ererbten Hegemonialsprachen Französisch und Englisch ausgeht, nur 14 die Chance, sich auf längere Sicht zu behaupten.(2) Von den autochthonen Sprachen in Nordamerika sind manche schon verschwunden, manche direkt bedroht. Im europäischen Kontext scheinen Sprachen wie das Rätoromanische, das Bretonische, das Okzitanische, das Sorbische, das Sardische, um nur einige der "schwächsten" zu erwähnen, eher düstere Zukunftsaussichten zu haben. Von den rund 6.500 auf der Erde gesprochenen Sprachen soll Schätzungen zufolge nur ein geringer Prozentsatz in der Lage sein, das kommende Jahrhundert zu überdauern.

In dieser Situation fragen manche, ob es nicht besser sei, den Dingen ihren Lauf zu lassen, statt für eine vielleicht illusorische, nach und nach mit dem Stigma des Anachronismus behaftete Vielfalt einzutreten.

Il est légitime de se demander à partir de quand le nombre de ceux qui parlent une langue ou respectent encore une coutume est devenu si petit qu'il est préférable de laisser mourir celles-ci et d'en conserver les traces dans les musées et les universités, plutôt que d'en imposer le fardeau à des enfants. (Pierre Derrienic, "Intégration, assimilation et préservation des différences", in: Badie, B./ Sadoun, M. (éds), L'Autre, Paris 1996, 251.)

Eine solche Argumentation kann sich - von wirtschaftspolitischen Überlegungen einmal abgesehen - auf die Notwendigkeit der Überwindung von Grenzen und der friedenspolitisch bedeutsamen Förderung von Kommunikation unter den Menschengruppen auf unserem Planeten stützen. Sie übersieht (oder verschweigt) jedoch, daß es sich beim Zurückweichen der "kleinen" Sprachen und Kulturen nicht um ein Naturgesetz handelt, sondern um das Resultat von mehr oder weniger spektakulären Machtkämpfen zwischen Gesellschaften. Die oben zitierte Reflexion stammt aus Kanada, wo Behörden noch bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts den Autochthonen ihre Kinder wegnahmen, um sie zu "zivilisieren".(3) Freilich manifestieren sich die weniger friedlichen Beziehungen im Raum der Interkulturalität nicht durchwegs durch Verbote und gewaltsame Interventionen. Wenn jedoch im Zeichen der Rivalität unter ungleich starken Gegnern über Jahrhunderte hinweg neben tagespolitisch motivierten Polemiken das scheinbar sanfte Spiel der Geringschätzung und Zurücksetzung seine Wirksamkeit entfaltet, schwinden die Chancen der dominierten Kulturen wie der Schnee in der Sonne. Manche Beobachter haben Sprachkonflikte als eine Art Gladiatorenkampf dargestellt, und an der Eliminierung des besiegten Teils keinen Zweifel gelassen. So sieht die katalanische Soziolinguistik den Konflikt zwischen dominierender und dominierter Sprache als ein Ringen um Leben und Tod, in dem der verlierende Part immer prekärere Rückzugspositionen einnimmt.(4)

Angesichts solcher Gegensätze haben Sprachwissenschafter nicht selten Partei ergriffen und in ihrer publizistischen Tätigkeit die Sicherung der angestammten Sprachen als ein Menschenrecht eingefordert. Die von ihnen vorgebrachten Argumente erinnern vielfach an jene, die in den Diskussionen der Naturwissenschaft rund um die Rettung des Raumschiffs Erde laut wurden. So wird in der Fachliteratur zur Language Death-Problematik häufig betont, daß Sprachen weit mehr Funktionen besitzen als die der unmittelbar zweckgerichteten Kommunikation und daher nicht einfach austauschbar sind. Von dem kulturellen Reichtum ist die Rede, der beim Untergang einer Sprache unwiederbringlich verloren geht. Jede Sprache eröffnet einen spezifischen Zugang zur Welt, da die schöpferischen Impulse vieler Generationen in ihr fortwirken. Eine solche kulturpolitisch orientierte Argumentation wird ergänzt durch jene, die das Unrecht ins Spiel bringt, das seine Ursprünge in historischen Niederlagen und Eroberungen hat und durch sprachlich-kulturelle Diskriminierung seine Fortsetzung findet. Koloniale Vergewaltigung, wirtschaftliche Marginalisierungs-mechanismen und soziale Benachteiligung verhindern oft auf lange Sicht, daß ein friedliches Nebeneinander und Miteinander von Sprachen - der von Politikern aber auch von etlichen Kulturwissenschaftern beschworene "Dialog zwischen den Kulturen" - Wirklichkeit werden kann. Die tragischen Aspekte solcher Antagonismen unterstreicht z. B. Tove Skutnabb-Kangas:

The mother tongue seems for many minorities to be at the heart of their peoplehood. It is not only one of the cultural core values, but often the most important value, the basis of the ethnicity. When the mother tongue is lost, the ethnic identity is lost, and thus the people is spiritually killed.(5)

Weniger Aufmerksamkeit wird seitens der sozial- und kulturwissenschaftlichen Fachliteratur den individualpsychologischen Aspekten des Sprachtodes geschenkt. Eine kritische Literaturforschung, die von der Annahme ausgeht, daß Sprachverfall schwere seelische Erschütterungen auslösen kann, und daß diese Traumatismen in der Dichtung der betroffenen Gemeinschaften auf die eine oder andere Weise bearbeitet werden bzw. prägend wirken, kann in diesem Zusammenhang bedeutsame Beiträge leisten. Ein Interesse an der Erforschung der sozial- und individualpsychologischen Aspekte "literarischer Diglossie"(6) zeichnet sich da und dort im Rahmen der heute so aktuellen Cultural Studies und Postcolonial Studies ab, bleibt aber gegenüber anderen Schwerpunktsetzungen eher sekundär.

Dies hängt wahrscheinlich mit einem Mißtrauen gegenüber nationalistisch-essentialistischen Tendenzen zusammen, das im Laufe des 20. Jahrhunderts auf Grund einer Vielzahl traumatisierender Erfahrungen gerade in den europäischen Gesellschaften ständig an Boden gewonnen hat. Während es Mehrheitsvölkern relativ leicht gelingt, ihre ethnozentrischen Reflexe hinter der Fassade eines eleganten, "modern" wirkenden Universalismus zu verbergen, haben es dominierte Gruppen meist recht schwer, wenn es darum geht, der Versuchung des Lokal- und Regionalpatriotismus, der sich ihnen als ein Instrumentarium von erfolgversprechenden (letzten Endes freilich trügerischen) Überlebensstrategien anbietet, zu widerstehen. Auf dem Gebiet der Literaturgeschichtsschreibung begegnet dieser Hang zur Selbstinszenierung auch heute noch in Form von Handbüchern und Monographien, die sich als Schatzkammern oder Gedächtnisorte im Dienste nationaler Affirmation präsentieren. Erst in neuester Zeit gewinnt der Gedanke einer inter- und transkulturell angelegten Literaturgeschichte, die auch die Mehrheitskultur in eine kritische Betrachtung einbezieht, an Bedeutung.(7) In manchen Fällen wird dabei freilich das Kind insofern mit dem Bade ausgegossen als der globalisierende Trend zur kulturellen Hybridität undifferenziert als Heilmittel gegen Chauvinismen aller Art verherrlicht, und die Frage nach den tieferen Ursachen identitärer Verhärtungen ausgeklammert wird.(8)

Im Kontext kolonialer Verhältnisse wurde immer wieder beobachtet, daß dominierte Kulturen einen Selbstschutzreflex entwickeln, der darauf hinzielt, ihre künstlerischen Hervorbringungen in einer Mischung von Bescheidenheit und Stolz der Feier des eigenen Volkstums zu widmen und diese Eingrenzung mit dem Hinweis auf ehrwürdige Traditionen zu rechtfertigen.(9) Eine ähnliche Selbstbescheidung verbunden mit regionale Partikularismen feiernden Stilisierungen findet sich auch im literarischen Leben sprachlicher Minderheiten Europas. Der Adressat ist in diesen Fällen nicht nur das einheimische Publikum, das zur Heimattreue erzogen werden soll, sondern auch (und vielleicht vor allem) die dominierende Kulturwelt, deren Hegemonie von der minoritären Literatur grundsätzlich anerkannt und zugleich durch Beschönigung des Eigenen schüchtern in Frage gestellt wird. Solche von Genügsamkeit und sanfter Nostalgie geprägten Einstellungen scheinen dem Kulturkonflikt seine Schärfe zu nehmen, ein Klima der Beruhigung und Harmonie zu fördern. Sie sind für Perioden charakteristisch, in denen die Hegemonie der dominanten Kultur unanfechtbar erscheint und es für den schwächeren Teil nahe liegt, sich als "ungefährliches" Gegenüber ("Natur" vs. "Zivilisation") zu positionieren. Der dominierenden Kultur nützt solcher Essentialismus, da er ihr Handhaben liefert, die ihr erlauben, die Sprachkunst der Dominierten als Heimatdichtung abzuwerten und sie ins Abseits des Partikularismus zu stellen. Allerdings läßt sich regionalistische Selbstbeschränkung nicht unbegrenzt durchhalten, da die Abkapselung und konservative Erstarrung, welche sie unweigerlich im Gefolge hat, in einem dialektischen Umschlag - meist bei den nachrückenden Generationen - das Sich-Aufbäumen antikonformistischer Geister nach sich zieht. Auf eine regionalistisch inspirierte Phase der minoritären Literaturgeschichte folgt auf diese Weise ein Ausbruch unglücklichen Bewußtseins, das die Conditio der dominierten Gruppe als ein Inferno erscheinen läßt. Diese Phasenfolge ist wohl gemeint, wenn in einer rezenten Publikation "Provinz" und "Peripherie" gegenübergestellt werden.

Was in der Provinz geschieht, geschieht ohne Anspruch auf Universalität und Allgemeingültigkeit. Dafür hat es den Reiz des Eigentümlichen. Auch was in der Peripherie geschieht, hat keine allgemeine Bedeutung. Doch in der Peripherie bleibt das Gefühl eines unglücklichen Zustandes erhalten. Das Eigentümliche, das der Peripherie fehlt, funktioniert stets als ein Medium des Schlecht-Allgemeinen, es ist ein Vehikel der bewußtlosen Reproduktion dessen, was ohnehin allenthalben vorgeht. Die Qual dagegen, die in der Peripherie zu spüren ist, ist ein Rest oder Ansatz menschlicher Würde.(10)

Schriftsteller dominierter Literaturen, deren Schaffen in eine solche Phase der Depression fällt, lösen sich nicht radikal vom Essentialismus ihrer "regionalistisch" orientierten Vorläufer bzw. Konkurrenten, sondern geben ihm eine Wendung ins Negative, indem sie ihren Texten Themen des Identitätsverlustes und der Entfremdung zugrundelegen. Das Eigene wird so als kostbares und zugleich verletzliches, vielleicht dem Untergang geweihtes Erbe inszeniert, wobei das Schwergewicht immer weniger auf kollektive Aspekte und immer mehr auf die individuelle Erfahrung gelegt wird. Dabei rücken Erfahrungen mit dem prekären Status des angestammten Idioms immer mehr ins Blickfeld. Im quebeckischen Kontext unterstreicht Lise Gauvin die besondere Sensibilität (surconscience linguistique) für die "abnormale" Situation einer Sprache, wie sie für Menschen in Kulturkonfliktsituationen charakteristisch ist.(11) Untersuchungen zu mehrsprachigen SchriftstellerInnen sind gerade in den letzten Jahrzehnten zahlreicher geworden. In ihnen werden Konfliktsituation und Traumatismen immer wieder berührt, aber meist nur unter dem Gesichtspunkt ihrer möglichen Überwindung durch Engagement und Kreativität behandelt.(12) Die betroffenen Literaturen selbst kommen dieser Tendenz entgegen, indem sie ihr Streben nach Überwindung regionalistischer Beschränkung durch die engagierte Teilnahme an avantgardistischen Bewegungen innerhalb der Mehrheitskultur zu dokumentieren suchen, um auf diese Weise die von den "großen" Literaturen okkupierten Positionen im internationalen Spiel der Innovationen und Aktualitäten möglichst ohne provinzielle Verspätung zu erreichen.(13)

Hingegen werden die dunklen, gleichsam pathologischen Aspekte von Kulturkonflikten nicht selten von den SchriftstellerInnen der Minderheiten auf indirekte, verschlüsselte Weise zum Ausdruck gebracht. Viele Indizien sprechen dafür, daß es Überwindung kostet, als Schreibender in eine Problemzone vorzustoßen, in der an Stelle von Normalität der Konflikt, an Stelle von Gewißheit und Geborgenheit drohender Verlust ins Bewußtsein rücken. Von dominierenden Kulturen gestützte Schriftsteller haben es hier leichter: Das absurde Theater kann hemmungslos Sprachkritik und allenfalls Sprachzertrümmerung betreiben - jenseits der Experimente von Samuel Beckett & Co. verbleibt das Englisch oder das Französische in ungebrochener Selbstgewißheit bestehen. Die Minderheitenliteratur hingegen erduldet jene déterritorialisation, in der Deleuze und Guattari eine Chance der Erneuerung für alle "großen" Literaturen gesehen haben,(14) wie einen Fluch oder eine Immunschwäche, deren stigmatisirende Wirkung so stark ist, daß das schreibende Ich stets die Versuchung spürt, sich seines Unglücks zu schämen und es im Zeichen der Hoffnung auf zukünftige Rettung zu verdrängen. Daher spielen in Texten dominierter Literaturen häufig die Darstellungen von gesellschaftlicher Randsituation, wirtschaftlicher Schwäche und Unterprivilegiertheit eine Hauptrolle, während das Sprachproblem eher in verdeckter Form zum Ausdruck kommt.(15) Der Betrachter muß sich mit all den Umwegen, Kompensations- und Sublimationsversuchen einlassen, um zu erkennen, daß sich hinter den scheinbar "realistischen" Darstellungen der Lebenswelt das umfassende Trauma der durch interkulturelle Konflikte bedingten Sprachkrise verbirgt.

Nicht selten operieren "minoritäre" Schriftsteller mit der Fiktion, die dominierte Sprache funktioniere im Alltag auf ebenso selbstverständliche Weise wie die dominierende. Ein solcher Voluntarismus, der für die Minderheit eine Kommunikationswelt erschließt, aus der ihre Sprache in der Realität mehr oder weniger weitgehend verbannt ist, verleiht solchen Texten oft eine Affinität zur Utopie. Was hinter den Träumen von einer anderen Gegenwart und besseren Zukunft steckt, kommt deutlicher durch ein Umwegverfahren zum Ausdruck, welches darin besteht, Alienationsprozesse bei anderen Gruppen, deren Situation noch verzweifelter erscheint als jene, in der man sich selbst gefangen weiß, zu inszenieren. So weist die frankokanadische Erzählliteratur eine Vielzahl von Texten auf, welche kulturelle Verfallsprozesse bei Inuit, Indianern, Immigranten und sogar Bewohnern anglophoner Sprachinseln innerhalb Québecs zum Thema haben.(16) Natürlich bietet sich die wechselseitige Verstrickung von Mehrheit und Minderheit auch als Inspirationsquelle mythenschöpferischer Phantasie an. Die Katalanin Mercè Rodoreda, zum Beispiel, symbolisiert in einer Novelle die Beziehung ihrer ethnischen Gruppe zum von Kastilien dominierten Gesamtspanien durch den Überlebenskampf eines von einem gewaltigen Meerestier verschlungenen Matrosen.(17) Der menschliche Parasit peinigt seinen monströsen Wirt, indem er sich von seinen Innereien nährt. Dabei spielt die Zunge - im Katalanischen hat llengua sowohl die Bedeutung von "Zunge" als auch die von "Sprache" - eine besondere Rolle: der Protagonist wird von ihr umhüllt, bedrückt, gleichsam vergewaltigt, zugleich aber verletzt er sie ständig. Als er schließlich an Land gespien und von Menschen aufgenommen wird, ist er selbst von einer Kruste aus Perlmutt, die sich im Inneren des Wals an seinem Körper gebildet hat und die sich nicht mehr ganz entfernen läßt, überzogen. Im Laufe seiner Gefangenschaft ist er durch die Assimilationskraft des ihn umschließenden Leviathan in ein Zwitterwesen und damit in einen Außenseiter unter den Menschen verwandelt worden.

Eine ganze Palette von symbolischen Umsetzungen der Sprach- und Kulturkrise bietet das Erzählwerk des okzitanischen Erzählers Joan Bodon (Jean Boudou, 1975 verstorben), der in seinen Romanen den Parallelismus zwischen entwurzelten, krebskranken oder als geisteskrank geltenden Individuen, ihrem von Verfallsprozessen heimgesuchten Sozialmilieu und der untergehenden Sprache auf exemplarische Weise gestaltet hat.(18) Die Kritik hat versucht, Boudous Figuren als Exilierte im eigenen Land zu verstehen.(19) Der Exilbegriff läßt sich aber insofern kaum auf den okzitanischen Autor anwenden als keiner seiner Protagonisten den Durchbruch zu der positiv erlebten und gelebten Interkulturalität schafft, die in den Werken von Exilschriftstellern vielfach am Ende von (oft leidvollen) Integrationsprozessen möglich erscheint.(20) Bei Bodon wird immer wieder vom Ende her erzählt, von einem Punkt aus, an dem alle Hoffnungen sich als vergeblich erwiesen haben und ausweglose Krankheit oder Tod bereits unausweichliche Realitäten darstellen. Die Leidensgeschichte der Bodonschen Antihelden hängt durchwegs mit dem Verfall der Sprache zusammen, zu deren Rettung vielfältige aber durchwegs untaugliche Versuche angestellt werden. Statt auf ein Wechselspiel des Eigenen mit dem Anderen hinzusteuern, inszeniert Boudous Erzählwerk ein Versinken in Melancholie, das, um es mit Sigmund Freud zu sagen, trotz großen Bemühens um Trauerarbeit nicht in rettende Hybridität übergeführt wird. In diesem extremen Fall beschränkt sich der therapeutische Aspekt der Literatur auf den Akt des Schreibens selbst, der gleichsam die letzte Barriere gegen das Schweigen der Besiegten bildet.

Es fehlt aber auch nicht an Texten, die sich nicht mit Andeutungen und Metaphorisierungen begnügen, sondern klar zum Ausdruck bringen, daß mit der Sprache eine ganze Welt verlorengeht, wobei nicht so sehr der Verzicht der Menschheit auf ein "Kulturgut" gemeint ist als vielmehr der einzelne Mensch, der den Language Death als persönlichen Schmerz und Zusammenbruch empfindet. Sehr oft sind es sozio-politisch schwache Minderheiten, die einen guten Nährboden für direkte Evokationen des Leidens an der Sprache abgeben. In der Anthologie Österreichische Lyrik und kein Wort Deutsch(21) finden sich hiefür eindrucksvolle Beispiele. Bei dem burgenländischen Kroaten Anton Leopold wird ohne Umwege der Verfall der Sprache beim Namen genannt und als Ursache von Depressionen definiert:

Po hrvatsku lako pisat,/ U jeziku krasno pjevat./ Kad ti die, mores disat/ Svitle trake plest, sijevat./ Samo jedno trapi mene:/ Nima za sve mogucnosti!/ Ufanje se kraj okrene,/ Za ter svaki slabi mosti.

(In Kroatisch ist leicht zu dichten,/ In dieser Sprache schön zu singen./ Wenn es geht, kannst du atmen und hauchen,/ Glänzende Strahlen spinnen und flechten./ Nur eines bedrückt mich öfters:/ Nur knapp sind unsere Möglichkeiten !/ Schwach und eng unsere Brücken,/ Daß sie die volle Hoffnung tragen können).(22)

Noch unverhüllter nennt der jiddische Dichter Joinéh Berkman die Qual des Sprachverlustes in seinem Gedicht Mame-Lóschen (Muttersprache) beim Namen.

Ich ken ober nit schwajgn mer/ bajm ongewolkentn ssách-hákl,/ wen ale tog schtarbn op/ di lezte dawnerss fun dajn ssider./ bin ich hajnt toivl jedn' oiß/ in majn geschraj mímàámákim/ un rejd arop fun harzn sich/ majn pajn un kwelike méridéh

(Nicht schweigen aber kann ich mehr/ bei dem umwölkten Resultat,/ Da Tag für Tag die letzten Beter/ deines Gebetbuchs aus der Welt gehen./ Ich tauche heute jede Letter/ in meine Schreie aus den Tiefen/ Und rede von der Seele mir/ mein Leid und meinen quälenden Aufruhr).(23)

© Fritz Peter Kirsch (Wien)

TRANSINST       table of contents: No.13


ANMERKUNGEN

(1) Vgl. z. B. Wolfgang Dressler/ Ruth Wodak-Leodolter, Language Death, International Journal of the Sociology of Language, 12 1977; Wolfgang U. Dressler, "Spracherhaltung - Sprachverfall - Sprachtod", in: U. Ammon/ N. Dittmar/ J. K. Mattheier (Hg.), Sociolinguistics II, 2, 1988, 1551-1563; H.-J. Sasse, "Theory of Language Death", in: Matthias Brenzinger (Hg.), Language Death. Factual and Theoretical explorations with special reference to East Africa, New York, Mouton/ de Gruyter, 1992, 7-30; Rosita Rindler-Schjerve, "Wie stirbt die Sprache ? Neueste Überlegungen zur Erforschung von Sprachenwechsel, Sprachverfall und Sprachtod", in: J. D. Range (Hg.), Baltisch-Deutsche Sprach- und Kulturkontakte in Nord-Preußen, Universität Greifswald, Schriften des Instituts für Baltistik 2, 2001.

(2) Vgl. Bitjaa Kody Z. Denis, "Émergence et survie des langues nationales au Cameroun", TRANS, Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften, 11/ 2001 (http://www.inst.at/trans/11Nr/kody11.htm).

(3) "Après 1867, on décida qu'au sens de l'Acte de l'Amérique du Nord britannique, l'instruction des populations autochtones relevait du gouvernement fédéral. [...] On avait adopté pour principe fondamental de l'éducation la croyance voulant que l'autochtone devait être protégé du mal et qu'il vive de façon plus "civilisée". Les enfants autochtones, éloignés de leur foyer et privés de l'influence et de l'affection de leurs parents, y apprenaient ce qu'ils devaient savoir pour vivre dans la société non autochtone. En général, l'école imposait un mode de vie aliénant." (Les Autochtones du Canada. Un guide à l'usage des cycles primaire et moyen, Ministère de l'Éducation, approuvé par le ministre de l'Éducation l'hon. Thomas L. Wells, 1975, 35).

(4) Vgl. Georg Kremnitz (Hg.), Sprachen im Konflikt. Theorie und Praxis der katalanischen Soziolinguisten. Eine Textauswahl, Tübingen, Narr, 1979.

(5) Tove Skutnabb-Kangas, "Linguicism in education, or how to kill a people without genocide"" in: II Euskal Mundu-biltzarra/ II Congreso Mundial Vasco, Vitoria-Gasteiz, Servicio central de publicaciones del gobierno vasco, 1988, T. 2, 6.

(6) Zu diesem Terminus vgl. Fausta Garavini/ Philippe Gardy, "Une littérature en situation de diglossie: La Littérature occitane", in: Popular Traditions and Learned Culture, éd. Marc Bertrand, Stanford UP, 1984, 256: "Il s'agit tout à la fois de tirer profit du décalage bien installé entre l'image d'une culture des élites, liée à l'utilisation du français comme langue d'écriture, et celle d'une culture "populaire", en tout cas représentée comme marginale, ou souterraine, dont l'occitan peut être le véhicule et le symbole linguistique [...]. De l'exploitation patiente et diversifiée de cette contradiction majeure prend naissance une production littéraire occitane relativement foisonnante [...]".

(7) Als Beispiel einer solchen Wendung zur Interkulturalität könnte gelten: Johann Strutz (Hg.), Profile der neueren slowenischen Literatur in Kärnten, Klagenfurt/Celovec, Hermagoras, 1989.

(8) Eine klug vermittelnde Position nimmt in dieser Debatte Doris Medick-Bachmann ein. Vgl. Id. (Hg.), Kultur als Text. Die anthropologische Wende in der Literaturwissenschaft, Frankfurt/M., Fischer, 1996.

(9) Vgl. Albert Memmis klassische Studie über den colonisé: "La même passion qui lui faisait admirer et absorber l'Europe, lui fera admirer ses différences; puisque ces différences, enfin, le constituent, constituent proprement son essence" (Portrait du colonisé précédé du portrait du colonisateur, Paris, Payot 1973 (1966), 160).

(10) Literatur in der Peripherie, red. v. Sieglinde Bolbecher u. a., hg. von der Theodor Kramer-Gesellschaft, Zwischenwelt 3, Wien 1992, 10.

(11) "[...] la surconscience linguistique qui affecte l'écrivain francophone - et qu'il partage avec d'autres écrivains en situation de 'littérature mineure' - l'installe encore davantage dans l'univers du relatif, de l'a-normatif. Ici, rien ne va de soi. La langue, pour lui, est sans cesse à reconquérir. Partagé entre la défense et l'illustration, il doit négocier son rapport avec la langue franaise, que celle-ci soit maternelle ou non. La défense, au Québec notamment, l'amène à contrer la menace de disparition, l'expérience de la dépossession qui, à la limite, peut conduire à l'aphasie, au silence littéraire ou au no man's langue." (Lise Gauvin, L'Écrivain francophone à la croisée des langues, Paris, Karthala, 1997, 9).

(12) Georg Kremnitz/ Robert Tanzmeister (Hg.), Literarische Mehrsprachigkeit/Multilinguisme littéraire, Wien, IFK, 1995; Heinrich Stiehler (Hg.), Literarische Mehrsprachigkeit, Iasi-Konstanz, Ed. Universitatii/ Hartung-Gorre, 1996; Ute Heinemann, Schriftsteller als sprachliche Grenzgänger. Literarische Verarbeitung von Mehrsprachigkeit. Sprachkontakt und Sprachkonflikt in Barcelona, Wien, Praesens, 1998.

(13) Damit fügen sich solche Kulturen in das Kontrastspiel von Alt und Neu, das unabhängig von jedem Gefälle zwischen Mehrheiten und Minderheiten auf dem ganzen Planeten gespielt wird. Vgl. Horst Reimann, "Die Vitalität "autochthoner" Kulturmuster. Zum Verhältnis von Traditionalität und Moderne", in: Kultur und Gesellschaft, Sonderhefte der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 27 1986, 358-378.

(14) "Les trois caractères de la littérature mineure sont la déterritorialisation de la langue, le branchement de l'individuel sur l'immédiat-politique, l'agencement collectif d'énonciation. Autant dire que "mineur" ne qualifie plus certaines littératures, mais les conditions révolutionnaires de toute littérature au sein de celle qu'on appelle grande (ou établie). Même celui qui a le malheur de naître dans le pays d'une grande littérature doit écrire dans sa langue, comme un juif tchèque écrit en allemand, ou comme un Ousbek écrit en russe, Ecrire comme un chien qui fait son trou, un rat qui fait son terrier. Et, pour cela, trouver son propre point de sous-développement, son propre patois, son tiers monde à soi, son désert à soi." (Gilles Deleuze/ Félix Guattari, Kafka. Pour une littérature mineure, Paris 1975, 33).

(15) Tatsächlich bestehen in vielen von Minderheiten bewohnten Regionen gravierende Probleme sozio-ökonomischer Art. Die verbreitete realistisch-sozialkritische Orientierung literarischer Texte in dominierten Sprachen hat daher durchaus ihre Berechtigung. Es scheint aber auch legitim, diese Orientierung hinsichtlich der ihr zugrundeliegenden Traumatismen sprachlich-kultureller Art zu hinterfragen.

(16) Vgl. etwa Yves Thériault, Aaron (1954); Id., Agakuk (1958); Gérard Bessette, L'Incubation (1965); Réjean Ducharme, L'Avalée des avalés (1966); Gabrielle Roy, La Rivière sans repos (1970); Anne Hébert, Les Fous de Bassan (1982),.

(17) Mercè Rodoreda, La meva Cristina, in: M. R., La meva Cristina i altres contes, Barcelona, Ed. 62, 1967.

(18) Vgl. F. Peter Kirsch (Hg.), Okzitanische Erzähler des 20. Jahrhunderts, Tübingen, Narr, 1980, bes. 95-120.

(19) Vgl. Jean Arrouye, "Joan Bodon, Romancier de l'exil", in: Jean Boudou (1920-1975), Actes du Colloque de Naucelle réunis par C. Anatole, Béziers, C.I.D.O., 1987, 173-187; Joelle Ginestet, Jean Boudou. La Force d'aimer, Wien-Montpellier-Naucelle, Praesens-AIEO-Société des Amis de Jean Boudou, 1997.

(20) "Gleich dem Phönix, der sich in Feuer auflöst, aus der eigenen Asche zu neuem Leben wiederkehrt und sein Wesen durch Jahrtausende hindurch erhält, so führt der Exilant elementare Charakteristika seines Ausgangslandes in das Zielland ein. Im Rahmen der Exilerfahrung entsteht dort ein eigener Sprach- und Lebensraum, der als Erweiterung der bisher bestehenden Kulturen anzusehen ist." (Maria-Elena Schimanovich-Galidescu, Studien zur Exilerfahrung von SchriftstellerInnen rumänischer Herkunft, Diss. Wien 1996, 28. Vgl. auch Mustafa Al-Slaiman, "Literatur in Deutschland am Beispiel arabischer Autoren - Zur Übertragung und Vermittlung von Kulturrealien-Bezeichnungen in der Migranten- und Exilliteratur", in: Nasrin Amirsedghi/ Thomas Bleicher (Hg.), Literatur der Migration, Mainz, Kinzelbach, 1997).

(21) Gerald Nitsche, Österreichische Lyrik und kein Wort Deutsch. Zeitgenössische Dichtung der Minoritäten, Innsbruck, Haymon, 1990.

(22 Ebenda, 77.

(23) Ebenda, beim Titel.


For quotation purposes - Zitierempfehlung:
Fritz Peter Kirsch: Das Leiden an Sprachverfall und Sprachverlust als Inspirationsquelle von Literaturen bedrohter Sprachen. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 13/2002.
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