Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 16. Nr. August 2006
 

2.1. WIEDERHOLUNG ALS ERNEUERUNG: Innovationsstrategien der Wiederholung in der Gegenwartsliteratur
Herausgeberin | Editor | Éditeur: Zalina A. Mardanova (Nordossetien-Alanien)

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Subjektivität, Wiederholung und Verwandlung in Friederike Mayröckers Prosabuch brütt oder Die Seufzenden Gärten

Inge Arteel (Freie Universität Brüssel - FWO, Belgien)

 

 

1. Situierung

Bei der hier präsentierten Analyse von Friederike Mayröckers Prosabuch brütt oder Die Seufzenden Gärten, erschienen 1998, bildete die Feststellung der ambivalenten Beschaffenheit des textuellen Ich-Subjekts in Mayröckers Prosa den Leitfaden: Einerseits nimmt das schreibende Ich bei Mayröcker keine identifizierbare Gestalt an; es lässt sich nicht psychologisch erklären und scheint sich in einen chaotischen, nicht-linearen Schreibprozess zu verlieren. Demzufolge ist man nach einer ersten Lektüre versucht, von dem ‘Verschwinden’ des Subjekts oder von einem ‘schwachen’, da nicht begründbaren Subjekt zu reden. Andererseits aber besitzt Mayröckers Text-Ich einen hohen Erkennbarkeitsfaktor und spricht aus den Texten eine sehr anwesende, charakteristische Stimme. Kann also auch von einem ‘starken’ Subjekt die Rede sein?

Aus dieser Ambivalenz erheben sich Fragen nach bestimmten produktionsästhetischen Merkmalen des Textes: Wie gestaltet sich die Spannung zwischen den beiden dynamischen Gegensätzen des schwachen versus starken Subjekts? Kann von einer Lösung der Spannung gesprochen werden, oder entwirft der Text vielmehr einen Subjektbegriff jenseits von schwach und stark? Wo und wie genau entsteht hier Subjektivität und mit welcher Figuration ließe sich das Wirken dieser Subjektivität am besten fassen?

brütt oder Die Seufzenden Gärten ist, bis auf das 2005 erschienene Buch Und ich schüttelte einen Liebling, das jüngste umfangreiche Prosabuch der 1924 geborenen Wiener Autorin Friederike Mayröcker. Die Ich-Figur, die diesen Roman schreibt, spricht, ähnlich wie in mehreren Büchern der Autorin, vorwiegend zu einer männlichen Bezugsperson, Blum. Aber auch ein zweiter Dialogpartner tritt auf, Joseph, ein Mann, zu dem die Ich-Figur in einem unerwiderten Liebesverhältnis steht. Die in den vorangehenden Büchern schwerkranke Mutterfigur ist in brütt gestorben, aber als gestorbene Figur noch immer präsent. Darüber hinaus bevölkern zahlreiche Briefpartner und -partnerinnen das Buch. Außerdem finden sich im Text zahlreiche Bezüge auf andere Autoren und bildende Künstler. Auf der inhaltlichen Ebene wird vor allem über das Schreiben des entstehenden Buchs nachgedacht, sowie über die vergebliche Liebe zu Joseph. Auch der immer näher rückende Tod der Ich-Figur ist ein dominanter Gesprächsgegenstand.

 

2. Ausgangslage

2.1. Der alte Körper

Der alte Körper wird dem Leser als Erstes vorgeführt. Das stolpernde Wandern des Ich, das allmählich zu einem Stillstand kommt, eröffnet den Text: "Schritt vor Schritt und Fuß vor Fuß gesetzt und dann immer weniger immer seltener ausgegangen und immer langsamer gegangen" (9). Die Schwierigkeiten beim Gehen werden von einem immer schlechteren Sehvermögen begleitet: "und immer weniger Antrieb auszugehen weil auch immer schlechter gesehen - Brille aufgesetzt Brille abgesetzt: beides gleich störend / verwirrend, alles 1 wenig verschoben verschwommen, nicht wahr, nicht in der richtigen Perspektive" (9). Der alternde Körper mit den mangelhaften Körperfunktionen lässt einen im Stich, erschwert das soziale Leben und die Erkundung der Außenwelt. Dennoch wird diese deprimierende Lage ins Positive gekehrt: Der "Sturz in die Zeit", wie das Ich den Prozess des Alterns nennt, endet nie, der Vorteil ist aber, dass die angenehmen Augenblicke auch immer schneller wiederkehren oder aufeinanderfolgen. Die folgende Aufzählung solcher Momente beschließt die ersten Textseiten: "die Wiederkunft der privaten Jahrestage, nicht wahr, die Begegnungen die Lieblinge der Regen die bezaubernden Töne das berauschende Wort die geliebte Stimme, der Blick der überspringende Blick und in Flammen.." (11f.). Derartige affektive, sinnliche Erfahrungen sind das, was dem Ich im hohen Alter bleibt. Das Mangelhafte des alten Körpers, seine Behinderungen, garantieren gar eine Zunahme und Intensivierung dieser Erfahrungen.

Dass der alte Körper, trotz des schonungslosen Alterns, Versprechungen in sich birgt, mag folgende Stelle andeuten:

Und was das Altern betrifft: nämlich daß hineingegriffen worden war in dieses Gesicht, in dieses mein Altersgesicht, ich glaube die Zeit habe hineingegriffen und ihre Spuren in ihm zurückgelassen, die düsteren Nischen der eingesunkenen Augen, die schlaffen Wangen: senile Bäckchen: Beutelchen eines Kleinkindes, aber heruntergerutscht in die untere Hälfte des Gesichtes, greisenhaft häßlich, clownesk, […] der faltenverschnürte Leib. (20)

Am stärksten wird die als aggressiv empfundene Deformation des Gesichts hervorgehoben. Aus der Passage sprechen aber sicher nicht nur Kummer und Sorge. Die Beschreibung "clownesk" eröffnet - wie peinlich es auch sein mag, von der Umgebung als "clownesk" wahrgenommen zu werden - die Bedeutungsebene der im Alter gewonnenen Narrenfreiheit. Vor allem die Wortfolge "der faltenverschnürte Leib" kann als positives Potenzial gelesen werden: Die Präsenz der Falten mag unumkehrbar sein; das Aufknüpfen ihrer ‘Verschnürung’ aber könnte ungeahnte Möglichkeiten freisetzen. Gerade der alte Körper, der nicht mehr ‘dienlich’ ist, nichts mehr ‘leisten’ kann, erweist sich als für eine Umgestaltung oder Verwandlung des Körperlichen besonders geeignet. Der Körper soll ja nicht so sehr überwunden, sondern seiner primären, organischen, normalisierten Funktionalität enthoben werden.

2.2. Der organlose Körper

Die folgenden daran anknüpfenden Überlegungen wurden von Gilles Deleuzes Entwurf des ‘organlosen Körpers’ beeinflusst. In dem umfangreichen, in Zusammenarbeit mit dem politischen Denker und Psychiater Félix Guattari geschriebenen Mille Plateaux(1) entwirft Deleuze Konzepte, die sich bei der Lektüre von brütt als inspirierend erweisen. Hier sei vor allem das von Antonin Artaud geprägte, von Deleuze ‘de- und reterritorialisierte’ Konzept des ‘organlosen Körpers’, "le Corps sans Organes (CsO)", näher betrachtet. Der Terminus ‘Konzept’ sei hier aber fehl am Platz, meint Deleuze, denn es handle sich nicht um einen philosophischen Begriff, sondern um eine Übung, "[un] exercice", "[une] expérimentation", um eine Praxis, "une pratique, un ensemble de pratiques"(2).

Der organlose Körper oder CsO ist explizit als anti-psychoanalytische Praxis gedacht, die die Analyse umdrehen will:

Là où la psychanalyse dit: Arrêtez, retrouvez votre moi, il faudrait dire: Allons encore plus loin, nous n’avons pas encore trouvé notre CsO, pas assez défait notre moi. Remplacez l’anamnèse par l’oubli, l’interprétation par l’expérimentation. Trouvez votre corps sans organes, sachez le faire, c’est question de vie ou de mort, de jeunesse et de vieillesse, de tristesse et de gaieté.(3)

Deleuzes Anliegen, das hier wie ein passionierter kantianischer Imperativ anmutet, richtet sich nicht auf eine Stärkung und Kohärenzbildung des Ich mit Hilfe von Kenntnissen des Unbewussten, sondern auf eine Auflösung, eine Entfesselung, wobei das Unbewusste im Experiment, in "l’expérimentation", erfunden wird.

Der CsO richtet sich nicht nur gegen Interpretationen, sondern auch gegen Funktionalität und Effizienz. ‘Organlos’ kommt für Deleuze nicht einer Beseitigung der Organe gleich, sondern des Organismus: der hierarchischen, auf nützliche Arbeit und Sinngebung gerichteten Organisation der Organe, die der formlosen Materie des Körpers eine Form aufdrängt. Diese Organisation ist Teil des ‘Zu-einem-Subjekt-Gemachtwerdens’, was Deleuze "subjectivation" oder "assujettissement" nennt. Deleuze formuliert Alternativen: "désarticulation", "expérimentation" und "nomadisme", die er als "autodestructions" zusammenfasst.(4) Hier scheint sich eine radikale Ablehnung, ja eine Beseitigung des Subjekts als solchen anzukündigen. Dem ist aber nicht so, versteht Deleuze doch die "autodestructions" als positive, befreiende Handlungen, die nicht von Todessehnsucht herrühren, sondern eine Erweiterung und Intensivierung der Existenzmöglichkeiten bezwecken:

On invente des autodestructions qui ne se confondent pas avec la pulsion de mort. Défaire l’organisme n’a jamais été se tuer, mais ouvrir le corps à des connexions qui supposent tout un agencement, des circuits, des conjonctions, des étagements et des seuils, des passages et des distributions d’intensités, des territoires et des déterritorialisations mesurées à la manière d’un arpenteur.(5)

Der Bezug auf die Arbeitsweise eines Landvermessers ("arpenteur"), bei der Genauigkeit unentbehrlich ist, und die im selben Textabschnitt mehrmals betonte Notwendigkeit der Vorsicht ("avec quelle prudence nécessaire") weisen darauf hin, wie stark Deleuzes Praxis, weit entfernt von Beliebigkeit oder Zügellosigkeit, mit einer von Übung und Beherrschung geprägten Selbstgestaltung, wie wir sie beispielweise bei Michel Foucault vorfinden, verwandt ist. Deleuzes organloser Körper will für das Selbst Fluchtlinien, "des lignes de fuite" erproben, muss dazu aber mindestens ein paar Fäden fest in der Hand halten: "Libérez-le d’un geste trop violent, faites sauter les strates sans prudence, vous vous serez tué vous-même, enfoncé dans un trou noir."(6) Die Betonung der Übung und des experimentierenden Handelns, die sowohl von Foucault als auch Deleuze vorgenommen wird, wirft ein erhellendes Licht auf die Subjektfigur in Mayröckers Prosa: Die von ihr erprobten Strategien der Subjektwerdung könnten durchaus als ‘Selbstpraktiken’ im Sinne Foucaults(7) und als ‘Fluchtlinien’ im Sinne Deleuzes verstanden werden.

 

3. Die affektiven Verwandlungen des alten Körpers

Auf wenigstens zwei Ebenen zeigt sich der alte Körper den affektiven Verwandlungen aufgeschlossen.

3.1. Der Körper auf der Straße

Der alte Körper geht trotz seiner Gebrechlichkeit dem Hinaustreten in den öffentlich-sozialen Raum der Straße nicht aus dem Wege, sondern tritt als ein flanierender Körper auf. In Anlehnung an Walter Benjamin erscheint die Straße in brütt als ambivalenter Raum, in dem widersprüchliche Affekte wirksam werden, die nie zu einer harmonischen, abgerundeten und restlos deutbaren Erfahrung synthetisiert werden. Nicht von ungefähr nennt das Ich als möglichen Titel "für das Buch an welchem ich schreibe [...] ‘Flaneur in einer zerbrochenen: zerbrechenden von wirbelnden Erscheinungen geprägten Welt’" (56). Die Erscheinungen und Erfahrungen auf der Straße üben eine tiefgreifende Wirkung auf die Ich-Figur aus: Sie fühlt sich wie "neugeboren" oder erfährt eine an den Fundamenten der menschlichen Existenz rüttelnde Verwandlung. An anderen Stellen ist das Ich der bedrohlichen Außenwelt ausgesetzt, stößt es als Fremdkörper hart gegen die Umgebung an. Der Körper der Ich-Figur wird im öffentlichen Raum als alt und abweichend eingestuft und sprachlichen Angriffen (z. B. von Jugendlichen) oder körperlichen Anrempelungen (z. B. des Straßenverkehrs) ausgesetzt. Die Ich-Figur wird dem den öffentlichen Raum beherrschenden Machtsdiskurs unterworfen, doch scheint sie die ihr aufgenötigte Subjektivität in eine Quelle der Kraft umzuwandeln, wie die Analyse des folgenden Zitats ergibt.

2 echauffierte YOUNGSTERS im Bus hinter mir, agressivten [sic] auf mich los aus dem Hinterhalt, aber ich hatte meine Sturmkappe auf, so konnte nicht viel passieren, sie waren geschoren oder sie trugen diese Baseballmützen: den Schirm nach hinten gerückt, sie waren laut und aufgebracht vielleicht vollgetankt, usw. (117) (Hervorhebung I. A.)

Die knapp skizzierte Situation sagt Wesentliches über die Subjektgestaltung aus. Die Ich-Figur hat eine "Sturmkappe" aufgesetzt, als ob sie ihre skurrile Erscheinung, den möglichen Anlass der Aggressionen, extra betonen möchte. Die Kopfbedeckung besagt aber vor allem, dass die Ich-Figur von den Aggressionen nicht überrascht wird, dass sie also nicht erst von den Jugendlichen zu einer alten, sonderbaren Erscheinung gemacht wird, sondern sich selbst als solche inszeniert. Nicht nur ist sie mit dieser Einsicht den Jugendlichen einen Schritt voraus, die Kappe formuliert zugleich auch eine aktive Antwort auf die Aggressionen: Eine Sturmkappe soll vor dem Sturm schützen, bedeutet aber auch, dass man sich, derart geschützt, in den Sturm hineinbegibt, ihm nicht ausweicht. Außerdem stellt die Kappe eine äußerliche Ähnlichkeit zwischen dem Ich und den Youngsters mit "Baseballmützen" her: Beide sehen mit der jeweiligen Kopfbedeckung gleich unheimlich aus. So erzeugt die Art und Weise wie die Ich-Figur ihre verletzbare Körperlichkeit mittels Aneignung der Eigenschaften des Anderen inszeniert, Affinitäten zwischen ‘Opfer’ und ‘Aggressor’, was eine Gewalteskalation zu unterbinden scheint. Die verletzbare Körperlichkeit wird als Chance gestaltet; auch das negative Affiziertwerden des Körpers greift die Ich-Figur als verwandelnde Konfrontation mit der Umgebung auf.(8)

3.2. Francis Bacon als Verbündeter

Die zweite Ebene, auf der sich der alte Körper den affektiven Verwandlungen aussetzt, betrifft die Aneignung und Anverwandlung durch das Ich von ästhetischen Bezugspersonen und Kunstwerken.

In den brütt vorangehenden Prosabüchern von Friederike Mayröcker taucht, unter vielen anderen intertextuellen und intermedialen Bezugspersonen, immer wieder der Name des britischen, aber in Dublin geborenen Künstlers Francis Bacon (1909-1992) auf. Erst in brütt aber werden seine Gemälde explizit mit der Erscheinung der Textfiguren in Verbindung gesetzt. Die Ich-Figur wird sehr stark von den Prozessen, die sich auf Bacons Gemälden abspielen, berührt. Zwischen dem Ich und den Gemälden entwickelt sich eine Beziehung von mehrfacher gebrochener Spiegelung. Die Ich-Figur wiederholt den auf den Gemälden stattfindenden Prozess, sie ahmt die Figuren auf den Gemälden nach, eignet sich deren Dynamik an. Für die Ich-Figur funktioniert Francis Bacon fast wie eine Vertrauensfigur: "ihm [Francis Bacon] konnte ich immer vertrauen, ihm konnte ich mich jederzeit anvertrauen, ich meine ich konnte der Häßlichkeit und dem Gestank seiner Bilder mich anvertrauen" (28). Der Satz überrascht, da negative Affekte erwähnt werden, die überdies im "Gestank" der Bilder eine synästhetische Erfahrung benennen. Die Aussage über Bacon bricht dann jäh ab; einige Zeilen später aber, wenn das Ich über den Sinn eines hastig gelebten Lebens nachdenkt, findet sich eine Umschreibung, die an Gemälde Bacons erinnert: "aber was könnte die Lösung sein, was ist das wonach wir trachten, wonach es uns drängt und spornt, und so sehr, wir schleppen uns hin mit dieser schweren und schwarzen Tinte an unserem Leib und Geist, und schwappen über.." (28). Die Figuren auf den Gemälden von Bacon werden oft von einem Fleck am Boden begleitet, der wie ein Schatten, aber zugleich auch wie eine viskose, schmutzige Lache anmutet. Diese Lache scheint an den Gestalten zu kleben, so dass durchaus vorstellbar ist, dass sie daran herumschleppen müssen. Die Ich-Figur macht aus dem Fleck eine Art Tintenfass, das überschwappt: das Leben als schriftliche Kleckerei anstatt schöner Literatur.

Verzerrte Körper

Die Figuren auf Bacons Gemälden erscheinen ausnahmslos in einer Art exzessiver Verrenkung. Aus einer Passage, die nicht explizit auf Bacon Bezug nimmt, ist sehr deutlich eine analoge körperliche Verzerrung ersichtlich. Die Ich-Figur erlebt einen Hustenanfall und veranschaulicht dies folgendermaßen:

und 1 Speichel sich mir aus dem Hirn löst und hinuntertropft in die Luftröhre so daß der wilde Schrei des Krampfhustens füllt Mulde des Kopfkissens, Kuhle der Bettdecke: Hundekotzen, worauf ich mich aufrichte, losbrülle, geschüttelt von den Kaskaden des Hustenreizes, während schraubend und schlurfend der Atem fährt durch Stimmritze, Gaumen, Schlund - (146f.)

Die Stelle lädt zu einem Vergleich mit der Malerei von Bacon und deren Figurendarstellung geradezu ein. Der ganze Körper wird von dem Krampfhusten beherrscht, ja verunstaltet. Der Körper besteht nur noch im Husten, im "schraubend[en]" Atmen. Der verzerrte Körper schrumpft auf diese Aktivitäten zusammen, "Stimmritze, Gaumen, Schlund" wirken wie ein Punkt, auf den der Körper in einem zentripetalen Krampf zusammenfällt. Diese gewaltsame Erfahrung erstreckt sich überdies auch auf die Umgebung des Ich: Kopfkissen und Bettdecke werden Teil der Verzerrung, sind an ihr beteiligt. Das Wort "Hundekotzen" wirkt befremdlich. Es tritt in erster Linie als Metapher auf: Der Husten schüttelt das Ich wie das Kotzen den Hund. Dieses eine Wort evoziert sofort die gewaltige Energie des ‘Tierwerdens’, jenes Prozesses, auf den hin der Körper sich in seiner Verzerrung öffnet. Die Öffnung auf das Tier hin ist aber nicht von einer Ähnlichkeit in der Form motiviert - das Ich erfährt sich nicht als wie einen Hund aussehend -, sondern von einer Ähnlichkeit im Berührtwerden von Kräften, die dem Körper zusetzen. Der Körper des Ich und der des Hundes gleichen einander an in der Erfahrung eines das Körperliche völlig verunstaltenden Reizes und des damit einhergehenden Kontrollverlusts. So betrachtet funktioniert das "Hundekotzen" nicht nur als Metapher, sondern auch als Metonymie. Die Beziehung zwischen dem Ich und dem Hund ist eine der Kontiguität: Das Ich und der Hund sind benachbarte Teile des von ähnlichen Kräften befallenen Kosmos. Das hustende Ich ist keine in ihren Qualen isolierte Figur; der Text stellt aus dem negativen Affekt des Hustenreizes eine Art Schicksalsverbindung zwischen dem Ich, seiner materiellen Umgebung und der Tierwelt her. Mit ähnlichen Worten lässt sich ein zentrales Anliegen der Figurenmalerei von Bacon umschreiben.(9) Und so wirft die Lektüre des obigen Zitats auch ein helleres Licht auf das vorletzte Zitat über den Gestank der Bilder (brütt 28): Die Ich-Figur betrachtet Bacons Bilder als Darstellungen von Häßlichkeit und Gestank, von negativen Affekten, denen sie sich aber anvertrauen kann, da sie in ihnen Verbündete und Gleichgesinnte für die Gestaltung von Subjektivität findet.

Zerscherbte Spiegel

Die Bedeutung von Bacon als einem Gleichgesinnten wird insofern radikalisiert, als bestimmte Figuren in brütt, in casu die Ich-Figur und Joseph, konkrete Figuren auf Bacons Gemälden nachzuahmen scheinen. Mehrmals stellt die Ich-Figur fest, dass "Joseph sitzt mit untergeschlagenem Bein, wie eine Figur von Francis Bacon" (209). Einmal ergänzt sie dies folgendermaßen:

1 Bein untergeschlagen, kaum wahrzunehmen, wo ist das Bein wo ist der Fuß, was hat diese seine Lieblingshaltung zu bedeuten, alles vermummt, alles ausgekörpert, etc. Mandarin des Schmerzes, rufe ich, massives Wunder, schreibe ich an X. (oder Wilhelm oder Ferdinand), der Sprudel des Waschbassins, auf dessen Rand die Figur sich aufstützt, ich meine dieser Strudel Entblößtheit, ich habe wie kommt es den schweren Kopf in meinen klebrigen Händen, in meinen Händen ruht mein zerscherbtes Gesicht (209)

Die in den ersten Satzteilen vorgenomme Beschreibung Josephs scheint unmittelbar vom mittleren Bild des Triptychons Three portraits (1973)(10) inspiriert zu sein, auf dem eine männliche Figur - laut Titel der Maler selbst - in genau der beschriebenen Haltung auf einem Stuhl sitzt. Tatsächlich scheint es sich auch bei Bacon um eine "Lieblingshaltung" zu handeln, da ja viele Gemälde Figuren in ähnlichen Positionen darstellen. So entsteht Verwirrung über die Referenzialität der Beschreibung: Schaut sich die Ich-Figur Joseph oder das Gemälde von Bacon an? "alles vermummt", meint das Ich, was auf die fließenden, verborgenen Körpergrenzen auf dem Gemälde hinweisen kann ("kaum wahrzunehmen, wo ist das Bein wo ist der Fuß"), aber eben auch metatextuell auf die verunsicherte Bezugsebene. Auch "alles ausgekörpert" wirkt als knapper, aber vielsagender Kommentar auf verschiedenen Ebenen. Er spielt zunächst auf die ‘ausgekörperte’ Darstellung der Körperlichkeit bei Bacon an - damit meine ich die Auflösung der funktionellen, organischen Körperlichkeit seiner Figuren(11) -, aber auch auf Joseph, dessen immer wieder betonte schriftzeichenhafte Existenz die Entkörperung ‘verkörpert’, und auf die auch vom Ich selbst angestrebte Entkörperung als Überwindung der organischen Körperlichkeit.

Im zweiten Teil des Zitats wird möglicherweise ein anderes Bild von Bacon zitiert. Mehrere seiner Bilder zeigen Figuren an Waschbecken oder auf Toiletten. Hier dürfte Bacons Bild mit dem Titel Figure standing at a washbasin (1976) gemeint sein. In einer spastisch verrenkten Haltung beugt sich eine Figur über ein Waschbecken, mit den Händen die Wasserhähne umklammernd. Mit Deleuze gelesen kann dieses Bild als Versuch gedeutet werden, im Aussguss zu verschwinden, um so der organischen Körperlichkeit zu entfliehen und sich in eine materielle Struktur aufzulösen.(12) Diese Deutung wird von der Rhetorik der Ich-Figur unterstützt: Indem sie den "Sprudel des Waschbassins" als "Strudel Entblößtheit" metaphorisierend wiederholt, weist sie auf die gewaltsam den Körper auflösende Kraft des Wassers hin: Der Körper wird seiner organischen Körperlichkeit entblößt. Die letzten Satzteile scheinen das Resultat eines solchen Auflösungsvorgangs auszudrücken. Das Gesicht des Ich ist "zerscherbt". Dies kann als Metapher für das gerunzelte, durchfurchte Gesicht eines alten Menschen gelesen werden, bringt aber vor allem den grundlegenden und gewaltsamen Charakter der Einwirkung der Zeit zum Ausdruck. Der Körper wird hier buchstäblich zur Materie, an der die gewaltige Kraft der Zeit sichtbar und fühlbar, i.e. mit den Fingern ablesbar ist. Ich verweise hier auf die am Anfang des Beitrags zitierte Stelle über das Gesicht zurück, dem die Zeit zugesetzt hat. Sie könnte jetzt auch als eine Beschreibung eines Gesichts auf einem Bacongemälde gedeutet werden.

Noch eine andere, eher metatextuell ausgerichtete Annäherung lässt sich vornehmen. Die zitierte Stelle aus brütt (209) fängt mit einer Beschreibung von Joseph durch das Ich an, vermischt diese Ebene mit der Beschreibung eines Selbstporträts von Bacon und geht am Ende in eine Selbstbeschreibung des Ich über. So entsteht in diesen wenigen Zeilen ein wahrer Spiegelpalast von Selbstbildnissen: Joseph spiegelt sich im Selbstporträt Bacons, das seinerseits eine Spiegelung des realen Malers ist, und das Ich spiegelt sich in Joseph und über ihn im Selbstporträt Bacons. In der Waschbeckenszene fehlt der Spiegel nicht: Da sich im Becken Wasser befindet - es gibt ja einen "Sprudel" -, wird dieses zum Spiegel für die vornübergebeugte Figur. Das zerscherbte Gesicht am Ende erscheint als logische Folge dieser mehrfachen Spiegelung. Dem Ich offenbart sich kein einheitliches, zu Identifikation einladendes Spiegelbild, sondern ein aus mehreren Bruchstücken collagiertes, artifizielles Gebilde. Genauer: Die Collage, die noch die unvereinbar scheinenden Bruchstücke als ein einziges Bild präsentieren würde, fällt hier in Zeichensplitter auseinander, die aber von den Händen des schreibenden Ich gehalten werden: "in meinen Händen ruht mein zerscherbtes Gesicht". So endet die mehrfach gebrochene Spiegelung der Ich-Figur mit einem Kommentar über die Schreibarbeit derselben. Die Hände des Ich, die man hier als Schreibinstrumente verstehen kann(13), schreiben die Scherben, die Splitter; auch dieser geschriebene Textspiegel ist zersplittert. Der Klebstoff, der die Textsplitter zusammenhält ("in meinen klebrigen Händen"), ist kein idealistisches Formgesetz des Selbstporträts, sondern die zwischen den Splittern ein Netz von klebrigen Bezügen spinnende Schreibbewegung.

 

4. Schlussfolgerung: das gefaltete, entfaltete Subjekt bei Friederike Mayröcker

Die Wiederholung, Aneignung und Verwandlung von Fremdmaterial, sei es der auf der Straße aufgelesenen Eindrücke und Fundstücke, sei es des Werks anderer Künstler und Autoren, kennzeichnen Mayröckers Textsubjekt, das sich in dieser Dynamik zwar als nicht identifizierbar, uneinholbar, aber auch als äußerst energisch und experimentierfreudig erweist. In seinem Experiment ist das Subjekt alles andere als selbstbestimmt oder souverän; im Gegenteil, es ist von körperlichen Beschränkungen und Verletzbarkeit (in brütt vor allem infolge des hohen Alters) geprägt. Es versteht aber seine beschränkte Materialität als Chance, als Möglichkeit, ein ‘Experiment’ oder eine Übung durchzuführen, die Körper und Geist verwandelt, die den "faltenverschnürten Leib" aufknüpft. Das Aufknüpfen der Verschnürung durch die ästhetische Erfahrung und Anverwandlung zum Beispiel der Gemälde von Bacon hat keinen glatten Leib, kein Verschwinden der Falten zur Folge. Im Affekt, im Affiziertwerden löst sich die eine Falte auf und wird die nächste gebildet. Denn die Bewegungen des Faltens und Entfaltens bedingen einander. Die entfaltende Bewegung produziert zugleich eine neue Falte. Wenn das Entfalten (hier des alten Körpers) sich als eine Öffnung der Falte durch die affektive Einwirkung der Welt gestaltet, so bewirkt diese Bewegung sofort eine doppelt orientierte Faltung. Im Entfalten öffnet sich die Falte für die affektive Einwirkung des Außen, was sofort eine neue Inflexion, ein Umfalten und einen Einschluss der Außenwelt ins Innere zeitigt. Diese Faltung des Selbst ist zugleich auch eine faltende Anordnung der Außenwelt: Die Welt existiert als gefalteter Einschluss im Selbst. Gilles Deleuze folgert daraus, dass das Subjekt nicht in der Welt ist, sondern die Welt im Subjekt, oder: Die Welt besteht nur als Einschluss im Subjekt.(14) In Anlehnung an Leibniz veranschaulicht Deleuze diese Dynamik mit gefaltetem Papier: Das Kontinuum der Falten ist wie ein Stoff oder ein Papierblatt, "comme une étoffe ou une feuille de papier qui se divise en plis à l’infini ou se décompose en mouvements courbes"(15). Der Vergleich ist nicht nur im Hinblick auf die Lektüre Mayröckers, sondern auch im Hinblick auf einen materiell-ästhetischen Subjektbegriff im Allgemeinen relevant, weil er das Falten als "art des textures"(16) vorstellt: als Manipulation einer elastischen, flexibelen, vervielfältigbaren Stofflichkeit, die haptische Räumlichkeiten bilden kann, in denen sich das unaufhörliche Werden des Subjekts vollzieht.

© Inge Arteel (Freie Universität Brüssel - FWO, Belgien)


ANMERKUNGEN

(1) Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Mille plateaux. Capitalisme et schizophrénie. Paris 1980.

(2) Deleuze/Guattari 1980, 185f.

(3) Ebd., 187. Ablehnende Äußerungen über die Psychoanalyse finden sich in Deleuzes Texten überall. Vgl. das ebenfalls mit Guattari verfasste Buch L’anti-Œdipe (Paris 1972) und den Teil "Psychanalyse morte analysez" in Deleuze, Gilles/Parnet, Claire: Dialogues. Paris 1996 (1977), 95-147. Hier heißt es u.a.: "Contre la psychanalyse nous n’avons dit que deux choses : elle casse toutes les productions de désir, elle écrase toutes les formations d’énoncés. […] L’inconscient est conçu comme un négatif, c’est l’ennemi. […] Des désirs, il y en a toujours trop, pour la psychanalyse. […] On vous apprendra le Manque, la Culture et la Loi." (95)

(4) Vgl. Deleuze/Guattari 1980, 197f. Es sei hier kurz auf einen mit Deleuzes organlosem Körper Ähnlichkeiten aufweisenden Körperentwurf hingewiesen, der in Bezug auf Mayröckers Texte interessant ist. Die kanadische Theoretikerin Elspeth Probyn denkt den Körper nicht als festen oder festzuschreibenden Ort, sondern als Durchgangsort für Diskurse und Bilder. Folglich gerät der Körper ständig in schräge, ihn verzerrende Bewegung. Deswegen schlägt Probyn für den Körper statt location den Begriff loca-motion vor: den Körper "als verrückte Bewegung oder Bewegung einer Verrückten". Probyn, Elspeth: "Queer Belongings. Eine Politik des Aufbruchs". In: Angerer Marie-Luise (Hg.): The Body of Gender. Körper. Geschlechter. Identitäten . Wien 1995, 53-68. Hier 60.

(5) Deleuze/Guattari 1980, 198.

(6) Ebd., 199.

(7) Foucault, Michel: "L’écriture de soi" (1983). In: Ders.: Dits et écrits 1954-1988. IV: 1980-1988. Paris 1994, 415-430.

(8) In den Worten Judith Butlers: "To offer an account of how the subject constituted through the address of the Other becomes then a subject capable of addressing others." In: Butler, Judith: Excitable Speech. A Politics of the Performative. New York 1997, 26.

(9) Meine Betrachtung von Bacons Gemälden und das Ausfindigmachen von Ähnlichkeiten mit brütt sind maßgeblich von Gilles Deleuzes Buch über den Maler angeregt worden. In Francis Bacon. Logique de la sensation (Paris 1984² (1981)) meint Deleuze über die Verbindung von menschlichen und tierischen Zügen in Bacons Figuren Folgendes: "Au lieu de correspondances formelles, ce que la peinture de Bacon constitue, c’est une zone d’indiscernabilité, d’indécidabilité, entre l’homme et l’animal. L’homme devient animal, mais il ne le devient pas sans que l’animal en même temps ne devienne esprit, esprit de l’homme, esprit physique de l’homme présenté dans le miroir comme Euménide ou Destin. Ce n’est jamais combinaison de formes, c’est plutôt le fait commun : le fait commun de l’homme et de l’animal. Au point que la Figure la plus isolée de Bacon est déjà une Figure accouplée, l’homme accouplé de son animal dans une tauromachie latente." (19f.) Vgl. dazu folgende Beschreibung des Kopfes des Ich in brütt, aus welcher Deleuzes "zone d’indiscernabilité" zu sprechen scheint: "in meinem Kopf 1 Vibrieren, eigentlich in meinen Ohren, die, eng an den Kopf gepreßt, das konnte ich fühlen, mir vermittelten, es sei 1 Tierkopf, es sei mir 1 Tierkopf gewachsen, mit dicht an den Schädel gepreßten Ohren, und lauschend, […] und wie sich eins ins andere verschlingt und verflicht" (133f.).

(10) Der vollständige Titel lautet: Three Portraits: Posthumous Portrait of George Dyer, Self Portrait, Portrait of Lucian Freud.

(11) Vgl. auch hier Deleuze über den organlosen, auf seine materielle Struktur zurückfallenden Körper bei Bacon: "tout le corps tend à s’échapper, et la Figure tend à rejoindre la structure matérielle." Deleuze 1984, 23.

(12) Vgl. Deleuzes Paraphrase des Waschbeckengemäldes: "accroché à l’ovale du lavabo, collé par les mains aux robinets, le corps-figure fait sur soi-même un effort intense immobile, pour s’échapper tout entier par le trou de vidange. […] Toute la série des spasmes chez Bacon est de ce type, amour, vomissement, excrément, toujours le corps qui tente de s’échapper par un de ses organes, pour rejoindre l’aplat, la structure matérielle. […] Et le cri, le cri de Bacon, c’est l’opération par laquelle le corps tout entier s’échappe par la bouche." Deleuze 1984, 16f. Deleuze zieht Parallelen zwischen dem Loch des Ausgusses und der Mundhöhle, was an die Lektüre des Fragments über den Hustenanfall erinnert (brütt 146f.).

(13) Diese Deutung wird vom Adjektiv "klebrig" unterstützt ("in meinen klebrigen Händen"). Die Hände kleben wahrscheinlich mit Honig, einer Substanz, die in brütt als die Imagination und die Schreibarbeit stimulierend wirksam wird. Kurz vor dem analysierten Zitat heißt es: "ich klebe fest, bin auf der Honigspur, sage ich zu Blum, mein Bewußtsein kreist ausschließlich um das Schreibenkönnen" (207).

(14) Deleuze, Gilles: Le pli. Leibniz et le baroque. Paris 1988, 36f.

(15) Ebd., 9.

(16) Ebd., 165.


2.1. WIEDERHOLUNG ALS ERNEUERUNG: Innovationsstrategien der Wiederholung in der Gegenwartsliteratur

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