Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 16. Nr. Juli 2006
 

4.1. Innovation in Städten und Regionen - das Fallbeispiel Centrope und der globale Kontext
Herausgeber | Editor | Éditeur: Manfred Schrenk (www.corp.at)

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Re/Produktion von Stadtbildern und Identitätsräumen zwischen Vergangenem und Gegenwärtigem, Fremdem und Eigenem. Zu Ahmet Hamdi Tanpınars Text "Fünf Städte"

Nergis Pamukoglu-Das (Ege Universität, Izmir, Türkei)
[BIO]

 

"Fünf Städte" werden in dem gleichnamigen Text von Ahmet Hamdi Tanpınar (1901-1962), bedeutendster Autor der sogenannten modernen türkischen Literatur des 20. Jahrhunderts, als Schauplätze von Identitätsprozessen beschrieben. Im buchstäblichen Sinne gemeint, sind es Orte des Schauens und der Anschauung, der inneren Versenkung und des Ahnens; was gesehen, gezeigt, aufgezeigt wird, ist das Sichtbarwerden von Begriffen in Bildern und umgekehrt von Bildern in Begriffen, die der Identitätsfrage entspringen.

Von den Städten als Schauplätze spricht denn auch Ahmet Hamdi Tanpınar im Vorwort zu seinem Text, indem er deren thematischen Schwerpunkt betont: "Das eigentliche Thema von ‘Beş Şehir’ ist die Schwermut, die man den in unserem Leben verlorengegangenen Dingen nachempfindet, und die Sehnsucht, die angesichts des Neuen erwächst. Beide sich zunächst scheinbar widersprechende Gefühle können wir im Ausdruck ‘Liebe’ zusammenfassen. Die Städte, die zu Schauplätzen dieser Zuneigung wurden, gehören zu den besonderen Erlebnissen meines Lebens."(1)

Unvereinbare Gefühle, Affekte, die um die Identitätsfrage kreisen, werden in Begriffe übertragen und somit im Ausdruck vereint, der Ausdruck wiederum wird am Schau-Platz greifbar. Die Städte ermöglichen die Schau auf Übergänge zwischen Bild und Begriff, gleichzeitig auch die Beschreibung von Subjektpositionen, insofern sie die Orte sind, an denen dieser Prozess stattfindet. Hier werden Momente im Entstehen von Bildern und Begriffen sichtbar, die stets die folgende wiederum im Vorwort formulierte Fragestellung berühren: "Wer waren wir einst, wer sind wir heute, und wohin führt unser Weg?" (S. X)

Was der Autor Ahmet Hamdi Tanpınar im Vorwort über die Funktion der Städte, diese im Übergang von Gefühl - Begriff - Stadt präsentierend aussagt, soll nun im Text untersucht werden. Den roten Faden bildet hierbei die Frage nach der Bedeutung der Schwermut als kulturelle Vorstellung im Übergangsprozess von Bild und Begriff, der sich abspielt zwischen Ich und Stadt.

Bei seiner Wanderung durch die Städte richtet sich das Auge des beobachtenden und erzählenden Ich des Textes auf die Lebensweise, den Alltag, die Stimmen und Klänge, die Architektur, auf historische Orte, Ereignisse und Persönlichkeiten, zugleich beschreibt es seine Gedanken, Wahrnehmungen und Empfindungen, welche dabei ausgelöst werden und zu Erinnerungen und Assoziationen führen.

Der Blick des Ich wird dabei vom Kulturwandel, der mit dem Verwestlichungsprozess bzw. mit dem -programm im 19. Jh. eingeführt wurde und von der darin gipfelnden Identitätsfrage geleitet, da der genannte Prozess die auf dichotomischer Struktur beruhende Trennung von osmanischer und westlicher Kultur, von Eigenem und Fremden markiert.(2) Auch in den ersten Jahrzehnten nach der Proklamation der Republik im Jahre 1923, ist aber diese Trennung weiterhin zu beobachten, insofern sich der Text von Tanpınar, 1946 zum ersten Mal publiziert, gerade auf die ersten fünfundzwanzig Jahre der republikanischen Ära bezieht. Tanpınar als einer der bedeutendsten Vertreter der Literatur der republikanischen Zeit legt dem heutigen Leser nicht nur den Blick auf die jüngste Vergangenheit der Türkei frei, sondern auch den damaligen Blick auf die Vergangenheit.

So wandert der Ich-Erzähler des Textes nicht nur durch die Städte, sondern gleichzeitig in die Vergangenheit, und zwar je nach den Städten in verschiedene Epochen: Fünf Städte, und zwar fünf Hauptstädte aus unterschiedlichen Herrscherzeiten. Der Reihe nach werden Ankara, Hauptstadt der Türkischen Republik, Erzurum, Hauptstadt der saltukischen Ära, Konya, Hauptstadt der seldschukischen Ära, schließlich Bursa und Istanbul, Hauptstädte des osmanischen Reiches beschrieben.

Die Gemeinsamkeit besteht in der Wahrnehmung dessen, was das Vergangene immer wieder anwesend macht, sein Verlust. Die Vergangenheit ist gegenwärtig, jedoch als etwas, das schon längst verloren gegangen ist: sei es als ein historisches Gebäude im Verfall, ein abgebranntes altes Haus in einem alten Stadtviertel, ein plötzlich auftauchendes Grabmal aus vergangenen Jahrhunderten mitten in der Stadt, eine Inschrift in arabischer Schriftform auf einem Brunnen oder die Landschaft mit den Minaretten und Kuppeln von historischen Moscheen. So zeugt die momentane Präsenz des Vergangenen in der Gegenwart gerade von ihrer Absenz und verweist mit dem stets bruchstückhaften Auftauchen auf sein Fehlen, wodurch eine sich durch Reproduktion erhaltende Leerstelle entsteht. Gegen Ende des letzten Abschnitts des Textes, der sich mit Istanbul befasst, wird diese Leere beim Namen genannt :

"Vielleicht zieht uns das vergangene Leben am Bosporus mehr als andere an, weil das Gesuchte heute verschollen ist. Aber fühlten wir uns nicht auf andere Weise reich, wenn die Schlösser wie das Nestabat, das Humayunabat oder Ferahabat oder das von Kandilli (...) noch immer existierten? Nie aber hätten wir voller Erregung verspürt, daß sie verschwunden sind. Wir hätten uns eher damit begnügt, ab und zu vorbeizuschauen, wie bei alten Verwandten, die wir, da sie einer anderen Generation angehören und eine uns fremde Mentalität besitzen, nur von Feiertag zu Feiertag besuchen. Und leider wären wir auch recht rasch der goldverzierten Zimmerdecken, der Silbersachen und nostalgischen Andenken überdrüssig geworden. Hand aufs Herz, wir lieben dieses alte Zeug nicht um seinetwillen. Es ist vielmehr die von ihm hinterlassene Leere, die uns anzieht. Wir vermissen dadurch etwas in uns, von dem wir glauben, es sei in unseren heftigen inneren Kämpfen abhanden gekommen, egal ob seine Spuren noch vorhanden sind oder nicht." (S. 322, 323)

Nicht als etwas Abgelebtes und Abgeschlossenes, aber die Gegenwart prägendes und insofern Aufzubewahrendes wird das Vergangene wahrgenommen, im Gegenteil als Verlorenes, das sich durch seinen Verlust immer wieder ankündigt und in die Gegenwart einbricht, wird es sichtbar. Die in diesen Bruchstellen auftauchende Leere läßt denn auch den Affekt von Schwermut, einen Zustand von unabgeschlossener Trauer entstehen. Unabgeschlossen, da die sich wiederholende und wiedergeholte Leere in der Wahrnehmung des Ich den Verlust erinnert und die Schwermut ständig von neuem reproduziert.

Bei dieser empfundenen Leere und Schwermut in bezug auf das Vergangene handelt es sich, wie es auch im Zitat anklingt, um die Voraussetzung für die Konstituierung einer Subjektposition, und zwar hier und jetzt. Anders gesagt, wird erst über die Leere, den Verlust und die Schwermut die Herstellung eines Verhältnisses zur Vergangenheit und dadurch auch zur Gegenwart möglich. Insofern wird die Überwindung dieser Situation nicht erzielt, sondern es geht geradezu um ihre Dauerhaftigkeit, die wiederum an die Jetzt-Zeit gebunden ist. Nur im Blick aus der Jetzt-Zeit auf die Vergangenheit wird die Wahrnehmung von Schwermut und Sehnsucht, zum Raum der Identitätsformierung:

So wird im Text auf die Frage "Warum zieht uns das Vergangene wie ein Brunnen an?" (S. 321) folgenderweise geantwortet.

"Ich bin mir sehr wohl bewußt, daß das von mir Vermißte nicht die Menschen von damals sind, daß ich keine Sehnsucht nach der Zeit fühle, in der sie lebten. (...) Die Süleymaniye-Moschee als neuerrichtetes Bauwerk zu betrachten hieße nämlich, dieses uns wohlbekannte Bauwerk seiner bis heute bestehenden majestätischen Würde zu berauben. (...) Ihre Schönheit erfahren wir aber tiefer durch ein Ich, das, nach vier Jahrhunderten historischer Erfahrungen, zwischen zwei unterschiedlichen Wertsystemen heute von Tag zu Tag etwas bestimmtere Formen annimmt. Die Süleymaniye-Moschee oder die Trauerode auf Süleyman den Prächtigen ohne Yayha Kemal, Mallarme, Debussy und Proust wären bedeutungsärmer, als wir vermuteten." (S. 321,322. H. v. M.)

Die Wahrnehmung des Vergangenen erhält ihre "tiefere" Bedeutung aus der kulturellen Zwischenlage, in der sich das Ich befindet. Trotz der in der Aussage formulierten zwei verschiedenen Wertesysteme, vergangenes osmanisches Reich/die neu geründete Türkische Republik - Traditionelles/Modernes - östliche/westliche Kultur, sind aber im Blick des Ich die beiden Kulturen nicht mehr genau zu trennen. Das Ich schaut mit einem sozusagen beide Kulturen vermischenden Auge auf die Vergangenheit, denn der kulturelle Hintergrund, der seine Sicht prägt, besteht aus der Zusammenführung der eigenen Kultur/Literatur und angeeigneten fremden/westlichen Kultur/Literatur. Nur vor diesem kulturellen Hintergrund entsteht die genannte "tiefe" Bedeutung. Mallarme, Debussy und Proust formen die Blickperspektive genauso wie Yayha Kemal Beyatlı, auch ein sehr bedeutender Dichter der türkischen Literatur, unter dessen starkem Einfluß Tanpınar als Autor und Student der Fachrichtung für Türkologie der Universität Istanbul stand, wo Yayha Kemal Beyatlı lehrte.

Und unter dieser Perspektive verlieren Begriffe hinsichtlich von Einteilungen, Zuordnungen und Zuschreibungen ihre Grundlage, sind nicht mehr zu setzen. Vergangenheit und Gegenwart, Eigenes und Fremdes erscheinen in verschiedenen, variierenden Zusammensetzungen, die in der Beschreibung ineinander übergehen und sich dann wieder trennen: das Fremde der eigenen Vergangenheit, weil verloren gegangen, aber auch das Fremde, das gegenwärtig ist, das einverleibte Fremde in der Gegenwart und der Vergangenheit. Je nach Stand- und Blickpunkt des Subjektes verändern sich Wahrnehmungen, Gefühle, Gedanken, Bilder und Zuschreibungen.

Schwermut und Sehnsucht aber entstehen und prägen all die Übergänge zwischen Innen und Außen, Vergangenem und Gegenwärtigem, Eigenem und Fremden, insofern an jedem Ort, in jeder Anschauung letztlich auch ein Mangel, ein Fehlen miteinbezogen ist, wodurch ein unvollständiges Bild wahrgenommen wird, das nach Ganzheit strebt. In Istanbul verkörpert sich dieser Zustand oder aber Istanbul verkörpert diesen Zustand: "Deshalb ist es mehr als natürlich" - so Ahmet Hamdi Tanpınar -, "daß sich der Istanbuler von seinem alltäglichen Aufenthaltsort aus nach etwas anderen sehnt." (S. 177) Durch eine Wahrnehmung eines Kinderliedes oder Windhauchs, eine Erinnerung oder einen Traum kann das Sich-Sehnen nach dem Anderen ausgelöst werden, das einmal das Neue/westliche Kultur, dann wieder das Alte/osmanische Kultur sein kann:

"In Istanbul wollen Sie, während Sie gerade irgendeiner Tätigkeit nachgehen, mit einem Schlag in Nisantasi sein; und dort angekommen, müßten Sie dringend nach Eyüp oder Üsküdar aufbrechen. Und manchmal, da sie an alles auf einmal denken und den Wunsch verspüren, überall zugleich zu sein, verharren Sie da, wo Sie sich gerade befinden." (S. 177)

Und an jedem Ort, ändern sich mit der "stündlich sich wandelnden" (S. 178) Landschaft auch die Gedanken, Gefühle, "Phantasien" und "Wunschvorstellungen" des Einzelnen, so daß man zu einem ganz anderen Mensch wird(3):

"Die Gedanken an den Mauern der Beyazit- oder Beylerbeyi-Moschee ähneln nicht denen am Kai von Tarabya, unter den quasi an oberflächlichen Jubel und Trubel erinnernden Abendlichtern, die etwas in uns befremdlich berühren. Dort dringt alles ständig in unser Innerstes ein und gerinnt zum Nährboden für unsere Sehnsucht." (S. 179)

Aber auch das Fehlen dessen, was zum Mangel führt, läßt wiederum etwas Befremdendes entstehen, so in alten Stadtvierteln:

"Hier mangelt es uns an dieser fundamentalen Sehnsucht. Denn um jene kleine Moschee herum, deren architektonische Wohlgeformtheit wir durchaus bezweifeln, finden wir das alte und von altersher ansässige Istanbul. (...) Dadurch vermittelt es uns das Gefühl, aus einer anderen Welt zu stammen, so daß es uns nähersteht, selbst wenn es weniger anziehend wäre." (S. 180)

"Berührt" in Tarabya ein vom Stadviertel ausgehendes befremdliches Gefühl das Ich, so ist es in dem alten Stadtviertel aufgrund der empfundenen Nähe zur Vergangenheit, also des Mangels am Mangel, das Subjekt, welches sich einer anderen, fremden Welt angehörig fühlt.

Was aber geschieht zwischen Ich und Stadt in dieser unaufhörlichen Re/Produktion der Identitätsformierung in Verbindung zur Landschaft? Welche Bedeutung hat die Wahrnehmung von Schwermut und Sehnsucht?

Zwischen dem Ich und der Stadt hängen sozusagen Schwermut und Sehnsucht als ein Übersetzungort, wo zwischen Wahrnehmung und Sprache, Anschauung und Erkenntnis, Bild und Begriff die Übertragungen stattfinden, wo Metaphern entstehen und sich wieder auflösen, um andere Metaphern zu bilden. Innere Erlebnisse, die ausgelöst werden durch Wahrnehmungen von Musik, Liedern oder einer Erinnerung an ein Gedicht, ein Erlebnis, einen Traum oder auch von Namen, werden im Anblick der Landschaft veräußerlicht, oder die Stadtbilder veranlassen die Entstehung von Gefühlen und Empfindungen, welche dann in beiden Fällen übertragen werden in sprachliche Bilder.

So beginnt zum Beispiel der Abschnitt über Istanbul mit einer Kindheitserinnerung an eine alte Frau in einer arabischen Stadt, die erkrankt ist und aus deren Mund im Fieber voller Sehnsucht die Namen der Gewässer von Istanbul als heilende Zauberworte fallen. (vgl. S. 173f) Mit der Wahrnehmung der magischen Namen verwandelt sich das Zimmer in ein mit klarem Wasser gefülltes, grünlich schimmerndes Becken, in das die Worte nun wie Juwelen fallen und zu verschiedensten Vorstellungen des Ich führen, als hörte es "von überall Wassermusik, das Klirren silberner Pokale und kristallner Gläser und das Flattern der Tauben" (S. 174), oder Wasserstellen in Istanbul, die Wasserträger werden erinnert, aus deren "feuchte(n) Säcke(n) so etwas wie ölige Kühle sickerte" (S. 174), oder "das sintflutartige Grün des Stadtteils Bentler" (ebd.) erscheint, bis "dieses dämmrige Zimmer (...) tatsächlcih zu einem Wasserbecken (wurde), in welchem die Kranke, ich und die Umstehenden wie seltsame Fische schwammen." (S. 174)

Hier sind es die Namen, die durch ihre magische Wirkung und Kraft das Zimmer über Metaphern schließlich in einen "tatsächlichen" Metaphern-Raum verwandeln, wo Worte Juwelen sind.

In Bursa, der Stadt, die aus Wasser besteht (vgl. S. 145), ist es die Wahrnehmung vom Rauschen der fließenden Wasser, der "Wassermusik" (S. 147), welche die Jetzt-Zeit, nämlich "jeden Moment des Tages wie in einem Zauberspiegel reflektieren." (S. 146)

In diesem fortwährenden Prozess der Produktion, Auflösung und Reproduktion von Metaphern erscheinen sie fast nur noch in Übergängen zwischen Bild und Begriff, wo sie in verschiedensten Variationen einander ablösend neue Zusammensetzungen bilden. Zum Beispiel "löst" sich in Erzurum die abendliche Berglandschaft zunächst in ein "Lichtermeer auf", wird dann zu "Märchenmusik" und dann zu einem "Kristallspiegel" (S. 85), die Zeit zu "einer kristallenen Kugel, die plötzlich geborsten, sich wie ein Strom über das ganze Land ergießt" (S. 135), die Vergangenheit ein "goldenes, silbernes oder kristallnes Duftgefäß" (S. 139), Wasser wird zu "Wassermusik", zum "Zauberspiegel", Volkslieder zu einem "verzauberten Spiegel", der einen Eindruck von Erzurum und der Fremde vermittelt (S. 65), die Vergangenheit wiederum zu einem "Liederkelch".

Die Bildung und das Auftauchen der Metaphern in Übergängen ist durch eine Schnelligkeit gekennzeichnet, die der mit wandelnden Landschaften sich je neu formierenden Identitätsstrukur entspricht und sie ergänzt, indem sie die oben genannte Leere ausfüllt.

So führt auch Nurdan Gürbilek in ihrer Studie mit dem Titel "Blinder Spiegel, Verlorener Orient. Literatur und Unruhe"(4), in der sie den Verwestlichungsprozess in der Türkei im literarischen Diskurs als Figur einer kulturell bedingten Unruhe untersucht, die Feststellung in bezug auf Ahmet Hamdi Tanpınars Texte vor, daß hier der Verlust des Vergangenen und die Sehnsucht nach ihr auf der Ebene des literarischen Diskurses eine Ganzheitlichkeit bzw. Vollständigkeit, sozusagen als Ersatz erzielt(5). In diesem Sinne spricht sie von einer "Verlust-Ästhetik"(6), welche durch die Metaphernbildung als Versuch im Übersetzen den Mangel in der Ich-Erfahrung zu vervollständigen, gekennzeichnet ist.

Was aber die Wahrnehmung vom Verlust zu einer "Verlust-Ästhetik" überträgt, ist wohl der Aspekt der Schwermut und in Verbindung damit die Sehnsucht, zu denen die Verortungs-Problematik aufgrund der beschriebenen komplizierten kulturellen Zwischenlage führt.

Zugleich ist aber diese mit Tanpınar gesprochen "melancholische Sehnsucht" (S. 324) die Lösung dieser Problematik: "Das worauf es ankommt," - so der Text - "ist die Sehnsucht in deinem Inneren; bemühe dich, sie nicht zu ersticken." (S. 323) Denn sie ist in den Landschaftsbildern nicht nur verräumlicht, sondern bildet einen Raum der Übertragung, wo während des Flanierens durch die Stadt die inneren Erlebnisse des Ich eine Gestalt erhalten oder andere Bilder entstehen, die übersetzt werden in sprachliche Bilder bis sich die Landschaft, der Schauplatz wandelt und der Prozess von neuem beginnt. Bei diesem Prozess handelt es sich zwar um Reproduktionen, aber dennoch erscheinen insofern andere Formen im Verhältnis von Vergangenheit und Gegenwart, Eigenem und Fremden, als sie durch eine andere Landschaft ausgelöst werden, an einem neuen Schauplatz stattfinden und verschiedene Identitätsräume, melancholische Subjektpositionen schaffen. Verschieden, weil zwischen Bild und Landschaft, Ich und Stadt, Inhalt und Ausdruck Schwermut und Sehnsucht hängen.

© Nergis Pamukoglu-Das (Ege Universität, Izmir, Türkei)


ANMERKUNGEN

(1) Ahmet Hamdi Tanpınar: Fünf Städte. Übersetzt von Walter Menzel. Veröffentlichung des Minisreriums für Kultur der Türkischen Republik, Ankara 1996, S. IX. Im weiteren werden Zitate direkt im Text mit Seitenzahlen angegeben. (A.H. Tanpınar: Bes Sehir, Istanbul: Dergah Yayinlari, 2005).

(2) Vgl. Jale Parla: Babalar ve Oğullar. Tanzimat Romanının Epistemolojik Temelleri, Istanbul: İletisim Yayinlari, 2004. In dieser Studie geht Jale Parla auf die Verbindung zwischen dem Verwestlichungsprozess und dem literarischen Diskurs am Leitfaden des Romans als Gattung ein, und zeigt dabei anhand von exemplarischen literarischen Texten die Funktion des literarischen Diskurses als Raum dieses Kulturwandels auf.

(3) Vgl. Tanpınar: Fünf Städte, S. 178,179.

(4) Nurdan Gürbilek: KÖR AYNA, KAYÝP ÞARK. EDEBÝYAT VE ENDÝÞE ( Blinder Spiegel, Verlorener Orient. Literatur und Unruhe), Istanbul: Metis Yayinlari, 2004.

(5) Vgl. ebd., S. 132, 133.

(6) Ebd., S. 133.


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Nergis Pamukoglu-Das (Ege Universität, Izmir, Türkei): Re/Produktion von Stadtbildern und Identitätsräumen zwischen Vergangenem und Gegenwärtigem, Fremdem und Eigenem. Zu Ahmet Hamdi Tanpınars Text "Fünf Städte". In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 16/2005. WWW: http://www.inst.at/trans/16Nr/04_1/pamukoglu-das16.htm

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