Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 16. Nr. Juni 2006
 

6.7. Heilige vs. Unheilige Schrift
Herausgeber | Editor | Éditeur: Martin A. Hainz (Universität Wien)

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Die Wende zum Religiösen und Paul Celans religiöse Dichtung aus der Sicht der Philosophie von Jacques Derrida

Olga Rutecka (KU Leuven)
[BIO]

 

Abstract

Vor einigen Jahrzehnten schien es noch, als sei das Thema Religion abgetan. Doch die Religion oder eigentlich das Religiöse ist jetzt unter den heutigen sozialen und intellektuellen Bedingungen - gekennzeichnet durch Globalisierung und neue Medien, liberale Kultur und Weltbürgertum - äußerst aktuell. Diverse Philosophen von unterschiedlichen Denkschulen (Jacques Derrida, Hilary Putman, Jürgen Habermas, Gianni Vattimo) setz(t)en sich mit dem Phänomen der Rückkehr eines aus dem Kanon der Philosophie verdrängten Denktopos auseinander. Neue Impulse in der Debatte um die Neuzuwendung zum Religiösen sind vor allem Jacques Derrida zu verdanken, der die Antwort auf die Frage lieferte, was es heute heißt, ‘in den Grenzen der bloßen Vernunft’ Religion (nach der Religionskritik) zu denken. Anders als man vermuten könnte, geht es bei der Neuthematisierung der Religion bei Derrida keineswegs um die Neubelebung individueller und kollektiver Religiosität, sondern um eine nicht-identische Wiederkehr schwer abweisbarer Fragen, eine partielle Adaptierung des Religiösen - ohne Schematismen, ohne Dogmen, ohne Religion.

Den Charakter der neu konstatierten Wiederkehr des Religiösen (den Charakter eines Zugehörigseinsohnezuzugehören) gibt zutreffend Derridas Wendung ‘a messianicity without messianism’ (‘Messianisches ohne Messianismus’) wieder. Die nicht-identische Wiederholung des Religiösen, konzipiert als die Dekonstruktion aller traditionelle n Dogmatismen ist die notwendige Voraussetzung für eine Erneuerung des Diskurses mit und über Gott. Die religiöse Rede ist nur noch plausibel , so Derrida, wenn sie sich gleichzeitig als Bekenntnis zu und als Distanzierung von der religiösen Tradition formiert, jenseits einer Opposition von Affirmation und Negation, von Theismus und Atheismus.

Die erneute religiöse Debatte in der Philosophie eröffnet zweifellos einen neuen Zugang zu Paul Celans Gedichten. Derridas Philosophie, die oft irrtümlich mit den Denkbewegungen der Negativen Theologie verglichen wurde, eignet sich auf eine besondere Weise zu einem Einstieg in eine erneute Analyse der religiösen Textur von Celan. Untersucht man dessen Gedichte aus der Perspektive der Philosophie von Derrida, so sieht man, dass seine religiöse Rede sich sowohl von positiv bestimmten als auch von negativen Theologumena distanziert. Der Diskurs mit Gott geschieht bei Celan über einen Umweg, jenseits ‘conservatio’ und ‘negatio’. Jede Zuwendung zu Gott, jedes Hinzeigen auf das Absolute ist zugleich eine Abwendung von der klassischen Theodizee. Somit sind Celans Gedichte ein Ausdruck einer (post)religiösen Dichtung und zugleich ein Argument gegen jede voreilige Kanonisierung untraditioneller Aussagen über Gott wie in der sogenannten "Negative Theologie".

 

1. Die Wende zum Religiösen

Es steht außer Zweifel , das Religiöse wird erneut zum Thema: "religion is back in the ring."(1) Die Religion kehrt zurück: nicht bloß als politisches Thema, als ein Modus von Gewalt, vielmehr als philosophisches Thema. Doch was ist von diesem neu erwachten Interesse am Thema Religion zu halten - einem Interesse, dessen Relevanz im zeitgenössischen philosophischen Diskurs nicht (mehr) zu übersehen ist?

Religion nach der Religionskritik zu denken, so Derrida, bedeutet keineswegs , die Frage nach der Theodizee (neu) auf zugreifen. Religionsmuster wiederholen heißt auf keinen Fall , sie identisch zu reaffirmieren, weshalb die Bezeichnung ‘Rückkehr’ einer vorschnellen und problematischen Thematisierung des Phänomens gleichkommt. Die Formulierung Wiederkehrdes Religiösen ist täuschend, da sie die Illusion weckt, bei dem Begriff ‘Religion’ ginge es (nur) um Versuche, die individuelle und die kollektive Religiosität neu zu beleben. Wider alle Erwartungen impliziert dieses Phänomen nichts Anderes als ein erneutes Interesse an Religion (oder mehr indirekt an den religiösen Traditionen). Eben dort, in der religiösen Vorstellungswelt findet man heutzutage ein semantisches und ein symbolisches Archiv, das sich in Begriffe transponieren lässt, mit denen man die Wirklichkeit verstehen und beschreiben kann. Das mag wohl ein Paradoxon sein, dass gerade die religiösen Traditionen einen Schatz an Interpretationschlüsseln verbergen, die die heutige Welt besser erkunden lassen, währenddessen die modernen Säkularisationstheorien über Gesellschaft und Subjektivität, Sprache und Kommunikation sich als unzureichend erwiesen.(2)

Derridas Wendung ‘a messianicity without messianism’(3) bedeutet, dass die Rückkehr des Religiösen den Charakter einer Doppelbewegung hat: das Messianische (‘messianicity’) hat nicht nur Vorrang vor dem Messianimus (‘messianism’), sondern es wird auch deutlich, dass das Messianische niemals mit einem spezifisch theologischen Vorwissen gelesen werden darf. Wie wüst der Derridasche Messianismus auch sein mag, ein neuer Messianismus ist er nicht. Gemeint wird auch nicht ein bestimmter historischer Messianismus, den man in judeo-christliche oder islamische Begriffe übersetzen könnte.(4) Mit dem Begriff ‘Messianismus’ wird hingegen auf die quasitranszendentale Form des Messianismus, auf einen strukturellen Messianismus verwiesen, da jedem Sprechen eine theologische Dimension eingeschrieben wird.

So kann das, was Derrida in der Wendung ‘Messianizität ohne Messianismus’ (oder ‘Religion ohne Religion’) einzukreisen versucht, nicht so einfach mit den klassischen Denkbewegungen ‘Negativer Theologie’ gleichgesetzt werden, wie das eigentlich oft der Fall war. Gegen diese zu kurz greifenden Äußerungen über sein Werk wandte sich Derrida im Vortrag "Comment ne pas parler: Dénégations"(5), den er 1987 in Jeru salem hielt. Die Religionsphilosophie ist für Derrida, obgleich sie sich vor dem Hintergrund der neuzeitlichen Religionskritik konstituiert, eine Distanznahme sowohl von den negativ als auch von den positiv bestimmten theologischen Denkfiguren. Derridas Konzeption der negativen Theologie (ohne negative Theologie) bringt eine postreligiöse textuelle Tradition zum Audruck, die sich gleichzeitig als Bekenntnis zu und als Distanzierung von der religiösen Tradition formiert und von der prädikativen oder judikativen Rede abgrenzt, indem diese negativ von Gott spricht.

Diesen Widerspruch vermag wohl am besten die von Emmanuel Lévinas stammende Figur Adieu zu illustrieren. Die Polysemie à Dieu/adieu zeigt gleichzeitig Nähezu und Entfernungvon Gott. Jede Zuwendung zu Gott (‘conservatio’) manifestiert sich zugleich als ein Abschied von jedem Dogmatismus und jeder Kanonisierung (‘negatio’). Somit ist jedes Hinweisen auf das Absolute ein Sich-Richten an den Anderen. Zwar scheint dieser Gedanke vollkommen mit Derridas Auffassungen zu kongruieren, doch spielt hier ein wichtiger Unterschied eine nicht zu unterschätzende Rolle. Lévinas betrachtet das Andere als die radikale Differenz zwischen Präsen z und Absenz des Anderen - als die nicht identifizierbare Andersheit des Anderen. Diese Auslegung läuft aber Gefahr, "sich (unausgesprochen) erneut in die metaphysische Kette der Dualismen einzuschreiben."(6) Um dieses Missverständnis auszuschließen, reformuliert Derrida den Gedanken des Anderen, indem er den Anderen als unendlichAnderen des Selben (ohne Bezug zum Selben) deutet - als Differenz zwischen Anderen und Selben, zwischen Totalité und Infini. So verweist die Spur Gottes nicht darauf, was weder (vollkommen) anwesend noch abwesend ist, sondern darauf, was "über die Alternative zwischen einem Theismus und Atheismus"(7) hinausgreift:

Es handelt sich nicht darum, nur das Entgegengesetzte (le contraire) zu denken, das immer noch ihr Komplize ist, sondern sein Denken und seine Sprache für die Begegnung jenseits derklassischen Alternative freizumachen.(8)

Die religiöse Rede vollzieht sich demnach in der Spannung zwe ier Redemodi über Gott: den positiven (‘kataphatischen’) und den negativen (‘apophatischen’) - jenseits einer Opposition von Affirmation und Negation, "jenseits aller positiven Prädikation, jenseits jeglicher Verneinung."(9)

 

2. ‘Performativer Widerspruch’

Die negative Theologie ohne negative Theologie in den Ausführungen Derridas ist eine Form einer Theodizee nach Auschwitz - gegen jeglichen Dogmatismus. Wird die religiöse Rede von vornherein intentional oder teleologisch determiniert, dann bringt sie nicht die Faktizität des Sprechaktes selbst, sondern ein Dogma , eine Gewißheit, ein Urteil, eine Institution hervor. Die Sprache muss sich daher jeder Totalisierung entziehen und den Schematismus der Sprache konterkarieren - die Sprechakte anders setzen. Auch wenn eine performative Äußerung einen kontradiktorischen Eindruck vermittelt, ist sie keineswegs als ein gescheiterter Sprechakt zu betrachten. Ganz im Gegenteil, anders als in der klassischen Sprechakttheorie wird die Möglichkeit des Gelingens und des Scheiterns performativer Äußerungen bei Derrida nicht an der Konventionalität sprachlicher Handlungen bemessen. Performative Äußerungen - so Derrida - sind solche Äußerungen, die sich nicht auf Grund ihres Inhalts und ihrer Struktur feststellen lassen. Die Möglichkeit des Erfolgs und des Fehlschlagens ist dem Sprechen inhärent und nicht äußerlich. Damit eine Äußerung im Sinne einer Performativität gelingen könnte, muss sie als eine zitathafte Äußerung erkennbar und nicht-identisch wiederholbar sein. Dies gilt im Besonderen für die religiöse Rede, die sich zwischen Iterabilität und Mechanizität bewegt.

Die religiöse Rede muss sich von einem Performativ im klassischen Sinn unterscheiden, sonst würde das Religiöse in seiner Mechanizität in die Gefahr der leeren Automation laufen. Jede Setzung eines religiösen Performativs ist eine abgeleitete, eine sekundäre Setzung: "Es gibt nur einen Satz ‘auf einmal’ (...), nur ein einziges, aktuelles ‘Mal’."(10) Dieser primären performativen Äußerung kommt eine absolute Singularität zu, die sie von allen anderen trennt. Alle anderen Setzungen sind Repetitionen nicht-identischer Art (Derrivate, Folge einer Differenz zwischen Ich und Nicht-Ich) und folglich keine intakte Beschaffenheit. Sie sind immer doppelt gesetzt - im Sinne einer Affirmation und einer Negation, jenseits einer Opposition von Theismus und Atheismus.

Jede Aussage, die sich in der Spur Gottes befindet, ist eine Aussage, "die nahe daran ist, in einen Atheismus umzuschlagen."(11) Sie ist niemals vor inhaltlicher Perversion und zweckentfremdender Entstellung gefeit und befindet sich unvermeidlich im Schatten von Perversion, Parodie, Kitsch, Blasphemie und Idolatrie:

Any religious utterance, act, or gesture, stands in the shadow of - more or less, but never totally avoidable - perversion, parody and kitsch, of blasphemy and idolatry.(12)

Mehr noch: nur wenn einem Performativen ein ‘Perverformatives’ eingeschrieben wird, kann man von einer erfolgreichen Performation sprechen. Indem Ordnung und Hierarchie umgekehrt und verschoben werden, wird vermieden, dass die religiöse Tradition bis zum Überdruss zitiert und trivialisiert wird. Da dennoch zum Performativen immer der affirmative Zug gehört - denn jeder Diskursivität unserer performativen Äußerungen ist in ihrer Tiefenstruktur eine theologische Komponente inhärent, wurzelt das Performative nicht in der Negation, sondern in der Affirmation.(13)

Derridas Auffassung des Religiösen trifft auf eine besondere Art und Weise auf die Dichtung von Paul Celan zu und eröffnet bei der Interpretation seiner Gedichte eine neue - theologische - Dimension, auch wenn der Gedanke, "Celan sei trotz seiner Zweifel, ja seiner Blasphemien einer der wenigen großen religiösen Dichter unserer Zeit"(14), auf den ersten Blick paradox erscheint.

 

3. Paul Celans Dichtung - eine theologische Herausforderung

In Paul Celans Dichtung, die - wie der Dichter selbst in seiner Rede anlässlich der Verleihung des Georg-Büchner-Preises 1960 in Darmstadt sagte - mit dem Akut des Heutigen akzentuiert ist und der die Daten ihrer Entstehung eingeschrieben bleiben, werden Problemstellungen der Theologie nach der Schoah artikuliert: Fragen des Glaubens und des Unglaubens. Zwar scheint diese Dichtung in besonderer Weise ein locustheologicus zu sein, doch hat man niemals Celan als einen theologischen Dichter in Betracht gezogen. Religiöse, vor allem christliche Anspielungen werden in seinen Gedichten vorwiegend als Ausdruck des Bruches mit Religion und Glauben interpretiert, in denen die Suche nach einem Halt in der Religion ad absurdum geführt zu sein scheint.(15)

Es wurden bei Celan viele Aspekte erforscht: die Einflüsse von Kabbala und Chassidismus, die Bedeutung von Holocaust und Exil, von christlicher Mystik, von Poetik und Sprachpraxis. Celan wurde vereinnahmt, ohne dass die religiöse Textur in seiner Lyrik wirklich ernst genommen wurde. Untersucht man seine Gedichte aus der Perspektive der Philosophie von Derrida, so sieht man, dass seine theologische Rede weder Verwerfung der Religion (trotz Devalidierung diverser Gottesbeweise) noch Affirmation ritualistischer Praktiken impliziert. Es wäre daher falsch, Celans Dichtung mit den klassischen Denkfiguren negativerTheologie zu identifizieren, auch wenn dieses Fazit auf den ersten Blick plausibel vorkommen mag.

Der Versuch, die Neuzuwendung zum Religiösen in der Philosophie zu durchdenken, bietet daher eine Möglichkeit, den Aspekt der negativenTheologie im lyrischen Œuvre von Paul Celan erneut zu analysieren. Es gilt nachzuweisen, dass die Infragestellung der jüdisch-christlichen Überlieferung und untraditionelle Aussagen über Gott nicht voreilig als negativeTheologie kanonisiert werden dürfen.

 

4. Das verlorene Gebet

Der kontradiktorische Charakter des Religiösen muss insbesondere in der Sprache des Gebets erkennbar sein, da es vor allem im Gespräch mit Gott unmöglich erscheint, eine Trennungslinie zwischen dem Profanen und dem Sakralen zu ziehen. In jedem Rekurs auf Gott, auch in jedem Gebet, so Derrida, muss die Gleichzeitigkeit von Kataphase und Apophase bewahrt werden. Dank der absprechenden Verneinung eröffnen sich Spielräume für eine reine Adresse - für ein reines Sich-Richten an Gott als den ganz Anderen. So sei das Gebet nur noch dann plausibel, wenn es nicht wie die Lobpreisung in die Versuchung einer inhaltlichen Attribution kommt:

Es müβte in jedem Gebet eine Adresse an den anderen geben und ich möchte sagen, auf die Gefahr hin zu schockieren, Gott zum Beispiel. Als Akt, sich an den anderen als Anderen zu adressieren, muβ er gewiβ beten, das heiβt bitten, anflehen, ersuchen. Worum, das zählt wenig, und das reine Gebet bittet den anderen um nichts anderes als es anzuhören, es anzunehmen, für es gegenwärtig zu sein, der andere als solcher, Gabe, Ruf und sogar Ursache des Gebets zu sein.(16)

Das Gebet ist nur denkbar als die Form der reinen Adresse an den Anderen und nicht von dem oder über den Anderen. Somit gleicht das Beten einem Brief, der ohne gesicherte Ankunft versendet wird. Der Ort der Ankunft ist unbekannt, da das Gebet jeder Bestimmung entgehen muss, sonst käme das Gebet dem Versuch der Aneignung des Geheimnisses gleich.

Anders als Augustinus ("wer kann dich anflehen, wenn er dich nicht kennt"(17)), vertritt Derrida die Auffassung, dass jedes Gebet auf jeglichen Wahrheitsanspruch verzichten muss:

Um zu vermeiden zu sprechen, um den Moment zu verzögern, an dem man wirklich wird etwas sagen müssen und vielleicht eingestehen, preisgeben, ein Geheimnis anvertrauen, vervielfältigt man die Abschweifungen.(18)

Während Augustinus seinen Glauben bekennt, fordert Derrida ein Gebet, welches das Geheimnis und das Unwissen verkündet. Daher ist der Rückruf des Anderen, der in solchem religiösen Kontext als Gebet geschieht, die Form der reinen Adresse an den Anderen - ein Senden und zugleich ein Einbehalten der Sendung. Das Gebet fungiert als Ausdruck der Hingabe an ein göttliches Du, dessen Gegenwart nicht mehr erfahren werden kann. Gott ist nicht, wie behauptet worden ist, abwesend oder auch tot. Er bleibt einfach ein Geheimnis, das sich jeglicher Explikation entziehen soll. Der Ausgangspunkt des Gebets ist nicht die Aneignung des Geheimnisses, sondern Gottes Unbestimmbarkeit: "Wie wäre eine Segnung, die sich selbst sicher wäre? Ein Urteil, eine Gewiβheit, ein Dogma?"(19)

 

5. Paul Celans Gedichte als Absage an das traditionelle Gebet

"Nach der Schoah folgten dem Diktum ‘Nach Auschwitz keine Gedichte mehr!’ die Verdikte ‘Nach Auschwitz keine Gebete mehr!’ und ‘Nach Auschwitz kein Gott mehr!’ Doch diese Dikt ate werden durch viele Dichter, unter anderem Paul Celan, widerlegt. Wovon man nicht sprechen kann, davon muss gesprochen werden. Es besteht kein Zweifel, dass das Gebet seit und durch Auschwitz mit einem Stigma behaftet ist und nicht mehr so wie vor Auschwitz sein kann. Auf die Frage, in welcher Sprache noch nach Todeslagern und Sprachmissbrauch zu Gott und über Gott gesprochen werden kann, gibt es keine universelle Antwort, denn [...] wir sind verloren, was immer wir tun; was immer wir sagen, ist unangemessen."(20) Nur eines ist sicher, es gibt keinen Ausdrucks code, der der Sprache nach der Schoah gerecht wäre. Jene Metaphern, die es möglich machten, über Gott zu sprechen, sind nicht mehr vorstellbar. Es sind Wörter aus dem Wörterbuch der Henker, die sich das Recht anmaß ten, im Namen Gottes zu sprechen, um sein eigenes Handeln zu legitimieren. So glaubt auch Jean-François Lyotard, dass nach Auschwitz "das Gebet ebenso wie die Geschichte des Gebets unmöglich sind, dass vielmehr nur noch das Zeugnis ihrer Unmöglichkeit möglich bleibt."(21) Die einzig mögliche Form des Sprechens mit und überGott, die nichts mit der Starrheit der Rituale zu tun hat, ist ein paradoxes Sprechen, eine Art von ultima ratio. So basiert auch Paul Celans religiöse Rede auf einem kontradiktorischen Prinzip - die Lobpreisung des Herrn zeigt sowohl exemplatorische Frömmigkeit als auch äußerste Entsagung.

In Celans Gedichten findet der Leser Strukturen und Formen der Anrede, die an das Gebet erinnern. Auch inhaltlich verweisen viele Gedichte auf die Gebetsform. Das gebetartige Sprechen hat jedoch nichts mit der traditionellen Haltung des Betenden zu tun, denn alle tradierten affirmativen oder positiven Thesen der Metaphysik scheinen einfach zur Blasphemie zu verkommen. Was manchen wie Gotteslästerung in den Ohren klingt, ist oft die Umkehr der Perspektiven - eine performative Kontradiktion. Celan schrieb Gedichte, die wegen der Verkehrung des Sprechens auf den ersten Blick gotteslästerlich zu sein scheinen. Doch nicht seine Gebete, die Auschwitz-Erfahrung aufarbeiten, sind blasphemisch, sondern die Realität selbst. Das berümte Zitat von Adorno paraphrasierend, lässt sich sagen, dass nachAuschwitz ein Gebet - in einer traditionellen Form - zu schreiben, barbarisch ist. Somit ist Auschwitz nicht nur ein Ort, vielmehr jedoch eine gewisse Struktur, welche neue Anforderungen an die Sprache stellt. Die vom Naziregime missbrauchte Sprache ist nicht nur ästhetisch, sondern auch moralisch zu beurteilen. Denn wie sollte die alte, verbrauchte Sprache Tod, Leiden und Gewalt aufnehmen? Wie konnte sie der geschichtlichen Daten "eingedenk bleiben?"(22)

Der Holocaust war ein Geschehen, das in das Unvorstellbare reicht und sich jedem rationalen Diskurs entzieht, weil es in seinem Innersten nicht einholbar und auf einen Begriff zu bringen ist. Mit der Erfahrung eines Geschehens, das nach Ausdruck verlangt und sprachlich nicht zu fassen ist, stellt sich nicht nur die Frage, was angesichts dieses Geschehens überhaupt noch sagbar ist, sondern auch welche Form des Sprechens noch möglich ist. Vor allem bei der religiösen Rede liegt eine Herausforderung an die Lyrik, um über jenes Geheimnis, das Menschen Gott nennen, in einer Sprache und einer Form zu sprechen, die Auschwitz gewachsen wären.

So verstand auch Celan die Notwendigkeit, die klassische Theodizee nach Auschwitz neu durchzubuchstabieren. Seine religiöse Textur ist weder inhalts- noch situationsbedingt. Nicht nur verzichtet Celan radikal auf tradierte Inhalte der religiösen Rede, auch hebt er die Trias von Ort, Zeit und Gegenüber auf, so dass seine Rede über Gott ortlos, subjektlos und wirklichkeitslos ist. Die Zuwendung zu Gott bei Celan ist nichts Anderes als Abschied von kanonischen, dogmatischen und ontotheologischen Interpretationen von Gott: - "Das / Selbe / hat uns / verloren, das / Selbe / hat uns / vergessen, das / Selbe hat uns" (Zu beiden Händen, GW I, 219(23)).

Celans Gebet ist ein Gebet, das nicht betet, aber das Beten möglich macht. Es ist ein Gebet, von dem gesagt wird, es sei an die Vielgötterei verloren: "An / die Vielgötterei / verlor ich ein Wort, das mich suchte: Kaddisch" (Schleuse, GW I, 222). Nur noch die Erinnerung an das Gebet, an die gebetartige Haltung des Gedenkens scheint plausibel zu sein. So ist das Gebet die Form der reinen Adresse an den Anderen - ohne Adressaten, ohne Hoffnung auf Gehör: "Gott, das lasen wir, ist / ein Teil und ein zweiter, zerstreuter: im Tod / all der Gemähten / wächst er sich zu. / Dorthin führt uns der Blick, / mit dieser / Hälfte / haben wir Umgang" (DeinHinübersein, GW I, 218). Gott ist das Unsägliche, dem man nur auf kontradiktorische Weise beizukommen vermag: "du liest, / dies hier, dies: / Dis- / parates" (Huhediblu, GW I, 275).

Neben der Sprache greift Celan auch religiöse Textsorten auf - ein Gebet etwa. Der Dichter kehrt die performative Hierarchie um und entzieht die religiöse Rede einem Performativ im klassischen Sinne - der Herr wird selbst zum Opfer, der Angebetete wird zum Beter, die Leidenden werden zu Angebeteten. So ist die Verschiebung des Verhältnisses Gott-Mensch dem Gedicht Tenebrae eigen: "Bete, Herr, / bete zu uns, / wir sind nah" (GW I, 163). Die erste Strophe dieses Gedichts ist eine deutliche Anspielung auf den Psalm 145, der besagt, dass der Herr allen nahe ist, die zu ihm rufen. Während jedoch der Psalm davon spricht, dass Gott denen nahe ist, die sich auf ihn berufen, spricht das Gedicht davon, dass die Rufenden diejenigen sind, die dem Herrn nahe stehen ("Nah sind wir, Herr, / nahe und greifbar", GW I, 163). Der Richtungswechsel ist nicht zu übersehen - die Nähe der Rufenden ersetzt die Nähe des Herrn. Dort spricht ein Wir aus der Dunkelheit zu einem Herrn, den das Gedicht nicht enthüllt. Das Gedicht fordert zum Gebet auf, gleichzeitig aber evoziert es einen performativen Widerspruch. Nicht der Mensch wird zum Gebet aufgefordert, sondern Gott selbst. So vollzieht das Gebet einen Akt der Zuwendung, in dem der Betende auf die Nähe dessen hofft, zu dem er betet. In Celans Gedicht ist jedoch nicht mehr der Herr nahe, sondern der Mensch. Während in der Bibel Gott dem Menschen entgegenkommt, kommt bei Celan der Mensch Gott entgegen. Die Bewegung der Annäherung geht vom Menschen aus. Die blasphemisch erscheinende Aufforderung, zu den Menschen zu beten, ist eine Umkehrung des Verhältnisses, die durch das Übermaβ des Leidens der Menschen bewirkt wird.

 

6. Psalm

Ein Gebet, das zwischen dem Ja und dem Nein pendelt, ist die einzig mögliche Form des Sprechens über und an Gott nach der Schoah, sonst würden die religiösen Sprechakte zu Erosion oder Geschwätz verdammen. Eines der bekanntesten Gedichte Celans, in dem die Gebetssprache sich notgedrungen "in einem "eigenartigen Zwielicht von Blasphemie und Frömmigkeit"(24) bewegt, ist Psalm (GW I, 225). In diesem Gedicht werden sakrale Vorstellungen in profane überführt, ohne ihren sakralen Charakter zu verlieren. So mutet auch die Verkehrung der herkömmlichen Gebetsformel ‘Gelobt seist du, Herr’ in das ‘Gelobt seist du, Niemand’ auf den ersten Blick gotteslästerlich an:

One can of course think that the substitution of "No one" for God, and the transformation of the substantive (the "common noun") into a proper noun, are ironical - that this is a sort of sarcasm bordering on blasphemous parody. "No one" has never been a name, except in the wily Witz Ulysses used to escape the Cyclops, or in Pessoa. But nothing in the tone of the poem indicates such an irony. Unless, that is, one unterstands irony as itself the figure of despair, a despair here absolute [...](25)

Wie sich jedoch herausstellt, ist diese Wendung überhaupt nicht blasphemisch gemeint, denn eine Hinwendung zu Gott ex negativo stimmt mit der Paradoxie des jüdischen Gottesverhältnisses überein(26), was auch manchen Interpreten nicht entgangen ist.(27)

Ebenso spiegelt die dem Gedicht nahe liegende Assoziierung mit dem ursprünglichen Akt der Erschaffung des ersten Menschen die Widersprüchlichkeit von Frömmigkeit und Blasphemie wider. Der Dichter wiederholt hier eine iterierbare Äußerung, die als Zitat identifizierbar ist, die sich deutlich von der biblischen Vorlage unterscheidet. Der ursprüngliche Schöpfungsakt hat nur einmal stattgefunden und muss seine Singularität bewahren. Jede weitere Repetition dieses Aktes ist (zurecht) eine ‘Wieder-holung’ nicht-identischer Art - ‘niemand knetet uns wieder aus Erde und Lehm’.

Die Beschreibung des schöpferischen Aktes erweckt auch einen blasphemischen Eindruck durch den Perspektivenwechsel des hierarchischen Verhältnisses. Der Schöpfungsakt wird so dargestellt, als ob es sich um ein Werk des Menschen handeln würde (‘Niemand knetet uns wieder aus Erde und Lehm, niemand bespricht unsern Staub./ Niemand’). So schlägt in der Anspielung die Schöpfungsgeschichte in ihr Gegenteil um. Es sieht so aus, als wäre nicht Gott der Schöpfer des Menschen, sondern der Mensch selbst. Diese Umkehrung der Perspektiven wird durch das Leiden der Menschen in der Schoah verursacht: nicht nur der Mensch wird mit Gott identifiziert, sondern auch Gott mit dem Menschen.

Auch eine andere Lesart wäre hier möglich, indem die Theodizeefrage auf die Anthropodizeefrage verlagert wird. Hätte es keine Menschen gegeben, die behaupteten, ‘im Namen Gottes’ zu sprechen und zu handeln, so hätte es die Schoah niemals gegeben. Der Name Gottes wurde missbraucht, um Tod zu schaffen. Wo sich ein Mensch an die Stelle Gottes setzt, wird er zum Unmensch. Kein Mensch kann Gott werden, stattdessen verliert er seine Menschlichkeit - seine Taten sind gottlos und menschlos. In Wahrheit handeln diejenigen, die behaupten im Namen Gottes zu handeln, im Namen eines von Menschenhand gebastelten Götzen. Aus dieser Sicht lässt sich erklären, warum das Subjekt ‘Niemand’ als eine Art ‘Namen’ für Gott fungiert. Gott als ‘Niemand’ zu bezeichnen, bedeutet hier nicht Gott zu verleumden, sondern das Namensverbot zu respektieren, um seinen Namen nicht zu missbrauchen.

Jede prädikative (Gebets-)Sprache ist nach Auschwitz inakzeptabel geworden. Die Tendenz, alles zu attribuieren und zu bejahen, führt in Wahrheit eher noch dahin, alle diese Attribute zu verneinen, weil man "jedes Wesen transzendiert, ohne gleichwohl zu glauben."(28) Nur noch ein Psalmenlob, das im Schatten der Blasphemie steht und nicht in Gefahr gerät, dass "man spricht, um nichts zu sagen"(29), ist legitim. Die Grenze zwischen Lob und Gotteslästerung, zwischen Annäherung und Entzogenheit ist nicht auflösbar (Gelobt seist du, Niemand. / Dir zulieb wollen / wir blühn. / Dir entgegen). Der Ton des Lobpreises ist nur vermittels eines kontradiktorischen Modus plausibel - in der Spannung zwischen Nähe (‘zulieb’) und Widerstand (‘entgegen’). Zwar erscheint das Lob im Celans Gedicht äußerlich als verneinte Rede, doch auf Grund der absprechenden Verneinung trägt es affirmative Züge.

Ein weiteres Argument für die Lesart des Gedichts Psalm als eine affirmative Gott-Rede ist die Form, die durch den Invokationsstil eine des Gebets ist. Hat die Sprache des Gebets in Psalm Veränderungen erfahren, so zeigt sich, dass die Form des Gebets als die einzige akzeptable Manifestation einer immanenten Transzendenz noch denkbar ist:

Whence a second possible objection: this poem may be an anti- or counter-prayer, a sort of "negative" prayer; a prayer whose aim is to show prayer’s inanity. But the prayer form, the invocation, does not show the inanity of the prayer itself.(30)

 

7. Schlusswort

Wie kein anderer Dichter wusste Paul Celan sich von der klassischen religiösen Rede zu distanzieren. Nichtsdestoweniger gilt seine Dichtung als Ausdruck einer Theodizee nach und trotz Auschwitz in Form der negativen Theologie ohne negative Theologie, in Form eines Diskurses über und mit Gott im Sinne der Philosophie von Jacques Derrida. In seinen religiösen Gedichten hantiert Celan ein anderes Sprechen über Gott - ein Sprechen in Kontradiktionen, das sich gleichzeitig durch Nähe zu (‘ferne Nähe’) als auch Entfernung von Gott (‘nahe Ferne’) charakterisiert. Jede Zuwendung zu Gott ist zugleich eine Abwendung von der klassischen Theodizee, wobei die Trennung zwischen dem größtem Respekt und blasphemischer Respektlosigkeit im Diskurs über und mit Gott unendlich vertagt wird.

Zwar muten Paul Celans Gedichte auf den ersten Blick wegen der Infragestellung aller tradierten oder positiven Thesen der Metaphysik blasphemisch an, doch das Performative wurzelt nicht im Negativen, sondern im Affirmativen. Der Diskurs von und mit Gott über einen Umweg, jenseits von Affirmation (‘conservatio’) und Negation (‘negatio’), ist die Bedingung für einen erneuten Diskurs mit Gott. Somit sind Celans Gedichte nicht nur ein Ausdruck einer religiösen Dichtung nachAuschwitz, sondern zugleich auch ein Argument, dass untraditionelle Aussagen über Gott nicht voreilig als negative Theologie kanonisiert werden dürfen. Den bekannten Satz von Wittgenstein paraphrasierend, »Ich bin kein religiöser Mensch, aber ich kann nicht anders: ich sehe jedes Problem von einem religiösen Standpunkt«, könnte man in Bezug auf Celan sagen, dass er ein religiös gesinnter Mensch war und daher nicht anders konnte, als jedes Problem von einem nicht (herkömmlich) religiösen Standpunkt zu betrachten.

© Olga Rutecka (KU Leuven)


ANMERKUNGEN

(1) Wolterstorff, Nicholas: The Religious Turn in Philosophy and Art. In: Nagl, Ludwig (Hg.): Religion nach derReligionskritik. Wien: Akademie Verlag 2003, S. 273-282, hier: S. 273.

(2) Vgl. de Vries, Hent: De terugkeer van ‘de religie’ en de taak van de filosofie. In: Krisis. Tijdschrift voor empirische filosofie 4 (2000), S. 6-11.

(3) Derrida, Jacques: Marx’ Gespenster. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1995.

(4) Ders.: Bemerkungen zu Dekonstruktion und Pragmatismus. In: Mouffle, Chantal (Hg.): Dekonstruktion und Pragmatismus. Demokratie, Wahrheit und Vernunft. Wien: Passagen Verlag 1999, S. 182-183.

(5) Ders.: Comment de pas parler: Dénégations. In: ders.: Psyché: Inventions de l’autre. Paris: Galilée 1987. Englisch unter dem Titel: How to avoid speaking: Denials. In: Budick, Sanford/Iser, Wolfgang (Hg.): Languages of the Unsayable: The Play of Negativity in Literature and LiteraryTheory. New York: Columbia Univ. Press 1989. Deutsch unter dem Titel: Wie nicht sprechen. Verneinungen. Wien: Passagen Verlag 1989.

(6) Valentin, Joachim: Atheismus in der Spur Gottes. Theologie nach Jacques Derrida. Mainz: Matthias Grünewald Verlag 1996, S. 91.

(7) Derrida, Wie nicht sprechen, S. 17.

(8) Ders.: Die Schrift und die Differenz. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1976, S. 146.

(9) Ders., Wie nicht sprechen, S.17.

(10) Lyotard, Jean-François: Der Widerstreit. München: Wilhelm Fink 1989, S. 10.

(11) Derrida, Die Schrift und die Differenz, S. 165.

(12) de Vries, Hent: Philosophy and The Turn to Religion, Baltimore/London: The Johns Hopkins Univ. Press 1999, S. 11.

(13) Derrida, Wie nicht sprechen, S. 14: "Sobald eine Proposition eine negative Form annimmt, genügt es, die sich darin bekundende Negativität bis an ihre Grenze zu treiben, derart, daß sie einer theologischen Apophatik zumindest ähnelt. Jedes Mal, wenn ich sage: X ist nicht dieses noch jenes, noch das Gegenteil von diesem oder jenem, noch die einfache Neutralisierung von diesem und jenem, mit denen es nichtsgemeinsam hat, denen gegenüber es absolut heterogen oder inkommensurabel ist, würde ich schließlich anfangen, von Gott zu sprechen - unter diesem Namen oder unter einem anderen. Der Name Gottes wäre dann der hyperbolische Effekt dieser Negativität beziehungsweise aller in ihrem Diskurs sich daran anschließenden Negativität. Der Name Gottes träfe auf alles zu, was einen Angang, eine Annäherung, eine Bezeichnung nur in indirekter und negativer Weise zuläßt. Jeder negative Satz wäre bereits heimgesucht von Gott oder vom Namen Gottes - wobei der Unterschied zwischen Gott und dem Namen Gottes überhaupt erst den Raum dieses Rätsels öffnet."

(14) Anonymus: Poems, Noems. In: The Times Literary Supplement. London, vom 7. 12. 1967. Deutsch unter dem Titel: Gedichte, Genichte. In: Die Stimme. Tel Aviv, April 1986, S. 11.

(15) Vgl. Janz, Marlies: Vom Engagement der absoluten Poesie: Zur Lyrik und Ästhetik Paul Celans. Frankfurt/M.: Syndikat 1976, S. 139ff.: "Das Theologumenon von der Sprache als Offenbarung Gottes wird umgekehrt: nicht offenbart sich Gott in der Sprache, sondern Sprache bringt Göttliches in gottloser Zeit hervor. Aber anders als Hölderlin faßt Celan dieses Göttliches als radikal Profanes [...] Dem Anspruch, Sprache eines Menschen« zu sein, [...] vermag nach Celan eine Sprache, die sich theologisch begründet, heute nur unter der Voraussetzung zu genügen, daß sie sich selbst als Sprache ad absurdum führt, zum Lallen wird, das seinem Gehalt nach der mystischen Gottesschau diametral entgegengesetzt ist, weil es die Gottesferne dieser/Zeit« zum Ausdruck gibt."
Vgl. Tück, Jan-Heiner: Gelobt seist du, Niemand. Pauls Celans Dichtung - eine theologische Provokation. Frankfurt/M.: Verlag Josef Knecht 2000, S. 126: "Natürlich könnte man auch nach einer verborgenen Theologie im Werk Celans selbst fragen und damit einer heuristischen Bemerkung von Walter Jens nachgehen, der einmal über Celans Dichtung gesagt hat, sie besäße aus dem Abstand betrachtet, den Charakter einer in gleichnishafter Rede vorweggenommenen und bis heute unbeschriebenen Theologie nach Auschwitz«. Aber das Projekt, eine latente Theologie im Celans Werk aufzuweisen, sähe sich leicht dem Verdacht ausgesetzt, mehr Theologie in die Texte hineinzulesen, als ihnen selbst zu entnehmen ist."
Vgl. Pöggeler, Otto: Der Stein hinterm Aug. Studien zu Celans Gedichten. München: Wilhelm Fink Verlag 2000, S. 74ff.: "Ist Celan mit seinen Gedichten ein Poeta theologus? Die Religionsgeschichte hat in ihren großen Schüben in immer wieder anderer Weise Jerusalem so erfahren, daß theologische Aussagen über Jerusalem und seinen Trost möglich wurden. An keine dieser Aussagen schließt der Dichter sich einfachhin an, keine wird nur übergenommen und weitergegeben [...] Celan würde sich kaum in dieser oder jener Form als gläubig« bezeichnet haben; was den Gottesbezug angeht, so kam er allenfalls zu einem Hadern mit Gott."
Vgl. Günzel, Elke: Das wandernde Zitat. Paul Celan im jüdischen Kontext. Würzburg: Verlag Königshausen & Neumann 1995, S. 296: "Celans Lyrik ist keine religiöse, keine atheistische und keine nihilistische Dichtung."

(16) Derrida, Wie nicht sprechen, S. 76.

(17) Augustinus: Bekenntnisse. Stuttgart: Reclam 2000, S. 33.

(18) Derrida, Wie nicht sprechen, S. 32.

(19) Ders.: Schibboleth: für Paul Celan. Graz/Wien: Böhlau Verlag 1986, S. 91.

(20) Schuster, Ekkehard/Boschert-Kimmig, Reinhold (Hg.): Trotzdem hoffen: mit Johann Baptist Metz und ElieWiesel im Gespräch. Mainz: Matthias-Grünewald-Verlag 1993, S. 95.

(21) Lyotard, Jean-François: Heidegger und die Juden. Wien: Passagen Verlag 1988, S. 60.

(22) Celan, Paul: Der Meridian. Rede anläßlich der Verleihung des Georg-Büchner-Preises. In: ders.: Gesammelte Werke in 5 Bänden. Bd. III. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1983, S. 196.

(23) Im Folgenden wird nach allen aus den "Gesammelten Werken" zitierten Gedichten in Klammern der Gedichtband und die jeweilige Stelle angegeben.

(24) Schwarz, Peter Paul: Totengedächtnis und dialogische Polarität in der Lyrik Paul Celans. Beihefte zur Zeitschrift Wirkendes Wort«. Düsseldorf: Pädagogischer Verlag Schwann 1966, S. 53.

(25) Lacoue-Labarthe, Philippe: Poetry as experience. Stanford: Stanford University Press 1999, S. 72.

(26) Das Nichts der Mystiker ist "keineswegs eine bloße Negation; nur von uns aus entzieht es sich allen Bestimmungen, weil es der intektuellen Erkenntnis entrückt ist. In Wirklichkeit aber hat dieses Nichts [...] ein unendlich höheres Sein als alles andere Sein in der Welt. Es ist »ein Nichts‹‹ voll mystischer Fülle, wenn es auch in keine menschliche Bestimmung gefaßt werden kann." (in: Scholem, Gershom: Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1967, S. 27). Vgl. Boman, Thorleif: Das hebräische Denken im Vergleich mit dem griechischen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1977, S. 43ff: "Das wahrhaft Seiende ist für den Hebräer das Wort, dabar, das alle hebräischen Realitiäten umfaßt: Wort, Tat, Sache. Das Nicht-Seiende, das Nichts, heißt demgemäß Nicht-Wort, lo dabar. Das Nicht-Seiende, die Nichtigkeit, hat aber auch für den Hebräer eine gewisse Existenz."

(27) Nach Joachim Schulze sei der Ausdruck Niemand, der an den Stellen steht, wo sonst Gott genannt wird, "mit einiger Wahrscheinlichkeit als der Gott des Mystikers identifiziert" (in: Schulze, Joachim: Celan und die Mystiker. Bonn: Bouvier 1976, S. 23). Positiv bewertet auch Peter Horst Neumann die Personifikation Niemand: "In der Verneigung einer Wiedererschaffung erscheint im selben Augenblick auch die Negation dieser Verneigung als Gewißheit. Die Schöpfung könnte noch einmal von neuem anheben. Gestalt würde dann zum zweiten Mal geformt, Staub noch einmal besprochen. Der es vermag, ist der ‘Niemand’" (in: Neumann, Peter Horst: ZurLyrik Paul Celans. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1968, S. 54).

(28) Derrida, Wie nicht sprechen, S. 40.

(29) Ebd., S. 13.

(30) Lacoue-Labarthe, Poetry as experience, S. 72.


6.7. Heilige vs. Unheilige Schrift

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For quotation purposes:
Olga Rutecka (KU Leuven): Die Wende zum Religiösen und Paul Celans religiöse Dichtung aus der Sicht der Philosophie von Jacques Derrida. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 16/2005. WWW: http://www.inst.at/trans/16Nr/06_7/rutecka16.htm

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