Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 16. Nr. Mai 2006
 

7.2. Dominierende Innovationsdiskurse zwischen gesellschaftlicher Relevanz und Ignoranz
Dominating Innovation Discourses between Social Relevance and Ignorance

Herausgeber | Editors | Éditeur: Jens Aderhold (Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg/ISInova Berlin) / René John (Universität Hohenheim/ISInova Berlin)

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Nachhaltigkeit der Ernährung als Innovation. Das Beispiel der Außer-Haus-Verpflegung

Jana Rückert-John (Universität Hohenheim, Stuttgart)
[BIO]

 

1. Ernährung als Feld der Innovationsbeobachtung

Mit meinem Beitrag wende ich mich einem Themenfeld zu, welches Relevanz für jedermann hat. Nimmt man nur die bekannte These Ludwig Feuerbachs "Man ist, was man isst", dann kommt hierin zum Ausdruck, dass Ernährung in vielen Dimensionen menschlichen Lebens wirkt: körperliche, psychische, soziale, wirtschaftliche und politische. Ernährung ist zugleich ein Feld, welches stetigen Veränderungen und Wandel unterliegt und somit interessant für Innovationsbeobachtungen erscheint. Dies wird zum Beispiel an Trends in der Ernährung deutlich, wie der Flexibilisierung von Essenszeiten, der Minimierung des Kochaufwandes durch Fertig- und Halbfertigprodukte oder der technologischen Ausstattung der Haushalte und nicht zuletzt der Zunahme unsicherheitsreduzierender Ernährungspraktiken im Zuge von Lebensmittelskandalen wie BSE, MKS, Vogelgrippe und jüngst den sogenannten "Gammelfleischskandalen". Veränderungsprozesse im Feld der Ernährung werden heute auch vor dem Hintergrund des Leitbildes nachhaltiger oder auch zukunftsfähiger Entwicklung(1) thematisiert, welches Ende der 1980er Jahre durch den Brundtland-Bericht vorgestellt wurde und in den 1990er Jahren durch verschiedene nationale Pläne in Deutschland Aufmerksamkeit erlangte. Die Nachhaltigkeitsrelevanz von Ernährung wird vor allem in ökologischer und gesundheitlicher, aber auch sozialer und ökonomischer Hinsicht deutlich. Ernährung ist somit ein Feld stetiger Veränderung, welches heute unter verschärfter gesellschaftlicher Beobachtung steht.

Während sich derartige Problematisierungen von Ernährung stark auf die Privathaushalte und den individualisierten Konsumenten konzentrieren, fällt daneben die Vernachlässigung des für die Ernährung wichtigen Bereichs der Außer-Haus-Verpflegung (AHV)(2) auf, in dem immerhin 30 Prozent des gesamten Lebensmittelumsatzes getätigt werden (Roehl 2003). Mit der Betrachtung dieses Bereiches von Ernährung gelangen Organisationen als soziale Systeme und deren Wandel in den Blick. Potenziale dieses Konsumbereiches lassen sich vor dem Hintergrund einer zunehmenden Bedeutung der Außer-Haus-Verpflegung und ihrer Größenordnung als sogenannte Großverbraucher ausmachen. Der Außer-Haus-Verpflegung kommt somit beim Wandel der Ernährung große Bedeutung zu, die kaum reflektiert wird.

Im Folgenden sollen Veränderungsprozesse im Bereich der außerhäuslichen Ernährung als Innovation betrachtet und hierbei die Frage verfolgt werden, wie sich Ernährungskonzepte unter gesellschaftlichem Irritationsdruck - wie er in der Debatte nachhaltiger Ernährung zum Ausdruck kommt - verändern.(3) Hierzu sollen - ausgehend von der These Innovation als evolutionärer Wandel - wesentliche theoretische Vorannahmen zum strukturellen Wandel in Organisationen vorgestellt werden. Danach wird anhand eines Fallbeispiels - eines anthroposophischen Krankenhauses - der Fragestellung empirisch nachgegangen.

 

2. Innovation als evolutionärer Wandel

Empirische Innovationsstudien stehen immer vor dem Problem, deutlich machen zu müssen, worin die Qualität ihres Gegenstandes besteht, der es rechtfertigt, von Innovation zu sprechen. Dieses Problem kann auf zweierlei Art bewältigt werden. Indem man sich an der hergebrachten Definition im Untersuchungsfeld orientiert, kann das Problem schon als erledigt gelten, man forscht über Innovation, ohne recht sagen zu können, was das sei, sondern darauf verweisen, dass jenes, was man im Fokus habe, eben Innovation ist. Wer in dieses tautologische Karussell nicht einsteigen will, bereitet sich in der Regel viel Arbeit. Denn die Frage, was nun Innovation sei, fordert zunächst die Tugenden des Archäologen.

Einigermaßen schnell lässt sich mit Schumpeter (1987a, 1987b) ein Anfang für die Begriffsgeschichte abstecken. Innovation erscheint hier wie der Phönix aus der Asche, wenn diese unternehmerische Neu-Schöpfung die Zerstörung des Alten voraussetzt. Mit Schumpeter gelangt man jedoch auf den breiten Pfad ökonomisch verwertbarer, technischer Neuerungen, wo die Probleme der Gewinnung von Marktvorteilen, die Diffusion der Neuerung und das erneute Marktgleichgewicht zu sehen sind. Die Innovationsforschung hat dem im Laufe ihrer Geschichte eine Menge differenzierender Innovationsbegriffe zu Seite gestellt, ohne aber das Wesen der Innovationen zu klären, das in den konkreten Studien vorlag. Diese Unterscheidungen waren brauchbar für die Beschreibung von unternehmeri­schen Marktpositionen oder Organisationsstrukturen. Innovationen wurden nach Prozess und Produkt, Basis und Verbesserung oder Technik und Soziales. Für sozialwissenschaftliche Analysen reicht das allerdings nicht aus, erst recht, seit man sehen kann, dass die sozialen Zusammenhänge hinsichtlich Innovation wesentlich komplexer sind (Sauer, Lang 1999).

Reichert (1994) zeigt nachdrücklich, dass diese Unterscheidungen gerade für die begründete Empirie wenig hilfreich sind. Allein das Kriterium der Neuheit bietet hinreichende Unterscheidbarkeit. Der temporäre Aspekt eine Phänomens scheint so die Begründung dafür zu liefern, es als Innovation zu bezeichnen. Innovation synonym mit Neuheit zu gebrauchen, scheint insofern plausibel, als man zeigen kann, dass sowohl Innovation als auch Neuheit bevorzugte Werte der modernen Gesellschaft sind (Luhmann 1978). Ein Einwand muss an dieser Stelle jedoch schon gemacht werden: Ist Innovation dann vielleicht als Begriff überflüssig? Offensichtlich nicht, denn gegenüber bloßer Neuheit deutet der kommunikative Gebrauch der Innovationssemantik darauf hin, dass diese einen über Neuheit hinausgehenden Mehrwert hat. Das soll an dieser Stelle jedoch nicht weiter vertieft werden, sondern für die empirische Untersuchung reicht es festzustellen, dass Innovation zunächst als Neuheit beobachtet werden kann.

Diese Feststellung legt nahe, sich auf Phänomene zu konzentrieren, die quantitativ wesentlich häufiger vorkommen, aber qualitativ wesentlich weniger folgenreich sein müssen, als zum Beispiel in Politik als auch in der Wirtschaft üblicherweise angenommen.(4) Diese Aussage lässt sich dann auch in der These bündeln, dass Innovation in der Gesellschaft gleichzeitig hinsichtlich ihrer Qualität überschätzt und hinsichtlich ihrer Quantität unterschätzt werde.

Nimmt man das Kriterium der Neuheit als empirische Unterscheidungsgrundlage ernst, muss man jedoch eine damit einhergehende Zeitparadoxie bearbeiten. Die Neuheit ist nur in ihrer jeweiligen Gegenwart eine solche, denn Neuheit war noch nicht eine solche in der Vergangenheit und wird es in der Zukunft nicht sein. Damit erscheint Neuheit wie schon Gegenwart als eine ontologische Unmöglichkeit, sie sind nicht zu beobachten. Vielmehr unterbrechen sie als Grenze zwischen Vergangenheit und Zukunft den kontinuierlichen Zeitverlauf. Dieses Problem veranlasst John (2005) das Phänomen der Innovation als Neuheit in ein weiteres Differenzierungsschema zu überführen, und zwar dem einer sozialen Wand­lungstheorie, der Theorie sozio-kultureller Evolution im Anschluss an Luhmann (1998).(5)

 

3. Empirische Beobachtung strukturellen Wandels in Organisationen

Die Phänomene Organisation und organisationaler Wandel sollen hier demzufolge aus einer systemisch-konstruktivistischen Perspektive betrachtet werden. Organisationaler Wandel wird in der neueren Systemtheorie nach Luhmann als evolutionär verstanden und mit Hilfe des Schemas von Variation, Selektion und Restabilisierung beobachtet. Er ist immer ein struktureller Wandel (Luhmann 2000).(6) Damit geraten Entscheidungsprämissen (entscheid­bare und unentscheidbare, selbstreferentielle und fremdreferentielle) als organisationale Strukturen in den Blick. Hierzu zählen Programme, Personen und Kommunikationswege, die sich in Stellen bündeln. Die empirische Beobachtung von Redundanzgeht demzufolge von den relevanten Stellen in der Organisation aus. Die Stellen lassen sich hinsichtlich ihrer Aufgaben (Programme), ihrer personalen Entscheidungsprämissen sowie ihrer Kommunikati­onswege beschreiben. Bei den Programmen kann zwischen Zweck- und Konditionalprogram­mierungen unterschieden werden. Besonderes Augenmerk gilt hierbei den Formen organisa­tionalen Lernens, bei Konditionalprogrammen durch sogenannte "Ausfüllungsnormen" und Regel-Ausnahme-Schemen, bei Zweckprogrammen durch Veränderungen der Kausalannah­men (Zweck-Mittel) und Kondensierung von Erfahrungen. Bei den personalen Entschei­dungsprämissen geht es zum einen um persönliche Merkmale der Organisationsmitglieder, die dazu führen, dass Begrenzungen durch ihre Rolle selektiver als vorgesehen gehandhabt werden. Beobachtet werden soll, inwieweit bestimmte Motive (in Unterscheidung zum Charakter) der Mitglieder der Einflussnahme durch die Organisation ausgesetzt sind. Zum anderen sollen Prämissen bei Personalentscheidungen (Einstellung, Entlassung, Versetzung) Berücksichtigung finden. Eine dritte Entscheidungsprämisse ist mit den Kommunikationswe­gen verbunden. Unter den Prämissen von Verantwortlichkeit und Arbeitsteilung lassen sich exklusive und fachliche Zuständigkeiten für jede Stelle identifizieren, aus denen sich wieder­um Kommunikationswege bestimmen. Neben den entscheidbaren Entscheidungsprämissen sind bei der Beobachtung der organisationalen Strukturen die unentscheidbaren Entschei­dungsprämissen, nämlich die Organisationskulturen, zu berücksichtigen. Hierbei geht es vor allem um die Beobachtung gesellschaftlicher Werte als Letztkomponenten von Organisations­kulturen, die nicht direkt kommuniziert werden, jedoch häufig Hemmnisse im Wandlungspro­zess darstellen. Neben der System-Perspektive müssen ebenfalls die Umwelt-Beziehungen mit in den Blick genommen werden. Diese fremdreferentiell konstruierten Entscheidungsprä­missen können mit Hilfe der analytischen Kategorie "kognitiver Routinen" beobachtet werden.

Die genannten Entscheidungsprämissen sind für die Organisation jedoch nur insofern interessant und ein Thema als sie problematisch oder unsicher erscheinen. Sie werden dann als Abweichung von den Erwartungsstrukturen beobachtbar. Mit der Beobachtung von Redundanz gerät dann Varietät in den Blick oder evolutionstheoretisch die zu selektierende Variation. In der empirischen Analyse geht es somit um die Unterscheidung von Entschei­dungsprämissen als Struktur einerseits und der Abweichung von dieser andererseits. Um die Selektion von Entscheidungen als neue Entscheidungsprämissen und evolutionäre Sequenz näher zu beschreiben, soll der Blick vor allem auf Störungen und Probleme bei der Anwen­dung bisheriger Entscheidungsprämissen thematisiert werden. Auch hier gerät die Umwelt als Anlass von Irritationen in den Blick. Es ist dann interessant, die sich durchsetzende Entschei­dung als neue Entscheidungsprämisse - also die Problemlösung - zu betrachten. Die Frage, die sich bei der Beobachtung von Selektion zudem stellt, ist die nach den symbolisch genera­lisierten Kommunikationsmedien und anderen kommunikativen Sinnanschlüssen, die die Annahme der Entscheidung als Entscheidungsprämisse ermöglicht haben. Da Selektionen zum Ansteigen von Komplexität führen, muss die Organisation hierauf mit Restabilisierung reagieren. Über das Ergebnis evolutionärer Veränderungen entscheidet erst die Restabilisie­rung, die deshalb ebenfalls in den empirischen Blick genommen werden muss. Die empirische Beobachtung muss klären, wie die neuen Entscheidungsprämissen in der Organisation einge­passt bzw. durchgesetzt werden und das System sich im Verhältnis zu seiner Umwelt neu ausbalanciert. Hierbei ist auch zu untersuchen, mit welchen möglichen Folgeirritationen die Restabilisierung verbunden ist, die wiederum Folgeevolutionen in der Organisation auslöst.

 

4. Fallbeispiel: Klinik mit anthroposophischer Philosophie

Beim hier betrachteten Fall handelt es sich um ein gemeinnütziges Gemeinschaftskranken­haus, das 1975 eröffnet wurde und dessen Träger ein Förderverein ist. Die Klinik, die etwa 560 Mitarbeiter beschäftigt, besteht aus verschiedenen Fachabteilungen. Insgesamt verfügt die Klinik über 229 Patientenbetten. Als Einrichtung mit anthroposophischem Hintergrund(7) legt die Klinik Wert auf eine ganzheitliche medizinische Versorgung der Patienten. Das schließt nicht nur alternative Heilverfahren und Methoden, wie zum Beispiel die Kunsttherapie, mit ein, sondern auch eine gesunde und ausgewogene Ernährung. Seit Gründung der Klinik wird auf die Verwendung von Produkten aus ökologischem Landbau, speziell auch aus biologisch-dynamischem Anbau, Wert gelegt. Der Anteil an ökologischen Lebensmitteln am Gesamtwa­reneinsatz schwankt saisonal bedingt und liegt bei durchschnittlich 40 Prozent. Das Personal­budget der Klinikküche umfasst 20 Stellen. Die Küche gibt täglich cirka 240 Portionen Früh­stück, 520 Mittagessen sowie 200 Abendessen aus und versorgt damit die Patienten, die Klinikmitarbeiter sowie mehrere Außenstellen.

Ziele und Motive des Ernährungsprogramms

Das alternative Ernährungsprogramm ist verankert in der Klinik als Organisation und ihrer anthroposophischen Philosophie. Das Ziel einer gesunden Ernährung, die für die Patienten auch als Bestandteil der Therapie verstanden wird, ist der Zwecksetzung eines Krankenhau­ses, Kranke zu heilen, zugeordnet. Eine gesunde Ernährung wird mit Verweis auf die anthro­posophische Philosophie nicht nur auf die Gesundung bzw. Gesunderhaltung des Menschen bezogen, sondern auch auf die der Natur in Form von Umweltschutz. Die dritte Dimension des Ernährungsverständnisses, neben Gesundheit und Umweltschutz, bildet die Ernährungs­kultur. Den Zwecksetzungen liegt ein umfassender Ernährungsbegriff zugrunde, der nicht nur den Konsum, sondern auch vorgelagerte Prozesse der Produktion und Verarbeitung in den Blick nimmt. Entscheidende Motive für eine alternative Ernährung sind in der anthroposophi­schen Philosophie zu sehen. Über den Begriff der "Natürlichkeit" und dazu in Differenz ge­stellte umwelt- und gesundheitsschädliche sowie kulturell verarmte Ernährungsweisen konsti­tuiert sich das Ernährungsprogramm. Die Umsetzung der Zwecksetzungen des Ernährungs­programms gründet sich auf Strukturen in Form von Entscheidungsprämissen, die immer schon Ergebnis eines Wandlungsprozesses sind. Sie sichern die Redundanz, die tägliche Praxis der Ernährung in der Klinik. Ausgehend von den Zwecksetzungen lassen sich Aufga­benfelder, zuständige Personen und Kommunikationswege ableiten. Im Folgenden soll auf Entscheidungsprämissen der Produktauswahl und -finanzierung sowie der Belieferung näher vorgestellt werden, da diese durch Umstrukturierungen in der Klinik aktuell Veränderungen unterworfen sind.(8)

Entscheidungsprämissen als organisationale Strukturen

Um eine gesunde Ernährung zu sichern, geht es um Aufgaben der Produktauswahl und der Finanzierung des Ernährungsprogramms, die im wesentlichen dem Küchenleiter obliegen. Mit Zweck- und Konditionalprogrammierungen werden Regeln und Ausnahmen festgelegt, die den Entscheidungsspielraum des Küchenleiters bei Produktauswahl und Finanzierung ein­grenzen und damit auch Unsicherheiten reduzieren. Bei der Produktauswahl kommt es vor allem auf die Kriterien ökologischer Produktionsweise, regionaler Herkunft und saisonalen Anbaus an. Bei der Finanzierung der alternativen Ernährung, die durch die Prämissen ’reali­stischer Essenspreise’ und verfügbarer Tagessätze der Krankenkassen in ihren Möglichkeiten eingeschränkt ist, kommen verschiedene Entscheidungsprämissen in Form von Strategien zur Anwendung: Verwendung regionaler und saisonaler Produkte, Konservierung von Produkten, nachfragerechte Portionsgrößen und Preisvorteile durch Abnahmegarantien gegenüber den Lieferanten.

Deutlich erkennbar wird bei diesen beiden Aufgabenbereichen die Verknüpfung und hierar­chische Ordnung der programmatischen Entscheidungsprämissen. Die ökonomischen Ent­scheidungsprämissen ’realistischer Essenspreise’ und verfügbarer Tagessätze der Krankenkas­sen scheinen prioritär und letztlich richtungsweisend für Produktauswahl und -einkauf. So wird vor diesem Hintergrund der 100-Prozent-Öko-Einsatz als Mittel zur Zweckerreichung des alternativen Ernährungsprogramms "in einem normalen Krankenhaus" als "schwierig" (P 1/818-819)(9) eingeschätzt. Der Küchenleiter gelangt zu der Einschätzung, dass "100 Pro­zent Öko ... vielleicht gar nicht das Ziel sein muss" (P 1/839-840).

Neben den ökonomischen Entscheidungsprämissen sind es auch die der medizinischen Pro­gramme der Klinik, die einen übergeordneten Stellenwert einnehmen und damit die Einfüh­rung von Ausnahmeregelungen und zusätzlichen Kriterien bei der Produktauswahl und der Finanzierung begründen. So gilt beispielsweise als zusätzliche Regelung für die Verwendung regionaler Produkte die Nachfrage nach spezieller Krankenkost: "Aber im Krankenhausbe­reich, wo man auch mal Orangen braucht oder [wir] bestimmte Produkte brauchen für be­stimmte Patienten, da ist man schon froh, wenn man es in dieser Qualität beziehen kann" (P 1/534-537).

Das Thema der Produktauswahl schließt unmittelbar an das der Belieferung durch Direkt­vermarkter und Lieferanten an, womit fremdreferentielle Entscheidungsprämissen angespro­chen sind. Die Unterhaltung der Lieferantenbeziehungen ist ebenfalls eine Aufgabe, die der Stelle des Küchenleiters zugeschrieben ist. Hierbei geht es vor allem um die Erwartung eines Verständnisses für Einschränkungen durch organisationsspezifische Entscheidungsprämissen: "Dass [man] einfach das Verständnis, ... die Problematik sieht, die der Landwirt hat, der Landwirt aber genauso wieder die Problematik von uns sieht. Was heißt: großküchengerecht, von der Sortierung bis zur Verpackung und so weiter" (P 1/431-436). Aus Organisationsper­spektive geht es hierbei speziell um die Erwartung der Sicherung einer großküchengerechten Produktqualität durch den Lieferanten. Diese Erwartungsstrukturen werden als Ergebnis und Voraussetzung von Lernen beschrieben. Sie äußern sich in einer konsensualen Preisfindung, in gegenseitiger Achtung und im Vertrauen der Kooperationspartner. Als Ergebnis eines Kon­ditionierungsprozesses und der Entwicklung des Öko-Marktes scheint die Sicherung einer großküchengerechten Produktqualität heute unproblematisch zu sein: "Wenn einer Öko-Qua­lität für die Großküche sucht, bekommt er es" (P 1/767). Mit gleichzeitigem Verweis auf finanzielle Entscheidungsprämissen werden die der großküchengerechten Produktqualität relativiert und wiederum der übergeordnete Charakter der erstgenannten herausgestellt: "Die Frage ist der Preis" (P 1/767).

Entscheidungsprämissen unter Druck

Die programmatischen Entscheidungsprämissen der Produktauswahl und Finanzierung gera­ten in Zeiten knapper Kassen unter Druck; der Einsatz von Öko-Produkten scheint zu teuer, das Programm nicht mehr finanzierbar. Der Küchenleiter schlussfolgert hieraus: "Wenn wir das so beibehalten wollen, dann müssen wir den Preis erhöhen, dann können wir es nicht zu diesem Preis machen" (P 1/699-700). Eine Preiserhöhung scheint hier als einzige realistische Alternative, um das Programm aufrechtzuerhalten. Diese ökonomische Problemlösung wird argumentativ auch mit Verweis auf eine entsprechende Nachfrage gestützt: "... und wenn wir das jetzt als Aushängeschild benutzen wollen, die ganze Geschichte, oder weil viele Leute hierher kommen und ..., dass man das wirklich so macht ..." (P 1/306-309). Die Nachfrage des Angebots rechtfertigt offensichtlich diese Strategie. Zusätzlich angetrieben wird diese Problemlösung auch von der "neuen Krankenhausgesetzgebung", die eine "gewinnbringen­de" oder "sich selbsttragende" Wirtschaftsweise im Unterschied zur Subventionierung der Krankenhäuser anstrebt (P 1/375-380). Die Lösung wird vom Gesetzgeber zumeist im "Ein­sparen" und "Reduzieren" gesehen (P 1/242). Folgeprobleme der neuen Gesetzgebung sieht der Küchenleiter in einer Standardisierung der Krankenhausleistungen, bei der die Individua­lität des Patienten unzureichende Berücksichtigung findet. Infolge der Gesetzgebung wird in der Praxis der Kliniken die Strategie verfolgt, "dass sie nur solche Fälle nehmen, wo sie sagen, ja, da können wir das Risiko abwägen, der bleibt höchstens acht Tage. Weil, wenn er länger bleibt, muss es das Haus bezahlen" (P 1/1041-1046). Als Lösung für das Patientenproblem hat sich eine Auswahl anhand des Kriteriums einer vermutlich kurzen Auf­enthaltsdauer von maximal acht Tagen durchgesetzt. Neben dem Rückgang der Verweildauer in der Klinik ist eine weitere, diametrale Begleiterscheinung dieser Krankenhauspolitik, dass die Patientenzahlen im ambulanten Bereich zunehmen. Unklar ist zum Zeitpunkt der Inter­views noch, wie sich diese Entwicklung auf die Essensversorgung in der Klinik auswirken wird. Vor dem Hintergrund sich verändernder Rahmenbedingungen ist die Klinik nun gehalten, neue "Wege" zu finden. Eine zwingende Notwendigkeit hierfür sieht der Küchenleiter in der Klinik-Philosophie: "Weil es gehört auch irgendwo dazu; wenn ich eine anthroposophische Medizin betreibe, passt es eigentlich nicht rein, dass man dann von Nestle oder von Maggi die Fertigprodukte da anbietet" (P 1a/341-344). Die Aufrechterhaltung des Anspruches an Öko-Qualität wird hier mit Verweis auf die Klinik-Philosophie begründet.

Selektion neuer Entscheidungsprämissen

Die skizzierten Bedingungen in Politik und Wirtschaft haben die Klinik veranlasst, eine Organisationsberatung mit der Erarbeitung alternativer Finanzierungsstrategien zu beauftra­gen. Auf der Grundlage dieser Ergebnisse wurde von der Klinik für den Bereich der Ernäh­rung entschieden, eine sogenannte "Bio-Linie" neben der bereits bestehenden "normalen Fleischlinie" und der "vegetarischen Linie" ab Juni 2003 einzuführen (P 1a/313-315). Damit wird jetzt im Unterschied zum vorherigen Modell nicht mehr für alle Esser Öko-Kost ange­boten; das Angebot wird ausdifferenziert und spezialisiert. Es wird zukünftig ein komplettes "Bio-Menü" geben, welches für einen Festpreis - durchschnittlich höher als bisher - und auf Vorbestellung angeboten wird. Dieses wird aus Zutaten zu 100 Prozent aus ökologischem Landbau bestehen. Hierbei handelt es sich um ein "kompaktes Menü" im Unterschied zu den anderen zwei Linien, bei denen nach wie vor eine Komponentenwahl möglich ist (P 1a/217). Zunächst sollte das "Bio-Menü" in einer Probephase(10) bei den Klinikangestellten von drei bis vier Monaten getestet werden (P 3/283).

Noch nicht endgültig geklärt war zum Zeitpunkt des Interviews, wie die Finanzierung der Mehrkosten erfolgen soll. Für die Klinikangestellten ist das Selbsttragen der Kosten geplant, bei Privatpatienten eine Kostenübernahme durch die Krankenversicherung. Da für die "nor­malen Kassenpatienten" aufgrund des festen Tagessatzes nicht von einer Übernahme der zu­sätzlichen Kosten durch die Krankenkassen ausgegangen werden kann, erwägt der Küchen­leiter, "dass man irgendwie diesen Tagessatz [der Krankenkassen] ..., dass man da versucht, noch etwas wegzukriegen oder etwas abzuzwacken" (P 1/384-388). Eine Umschichtung des Krankenkassentagessatzes wird als Möglichkeit gesehen, die höheren Kosten zu kompensie­ren. Nicht thematisiert wird jedoch, dass bei einem festen Tagessatz die Aufwertung der Er­nährung nur durch eine Abwertung eines anderen Kostenbereichs möglich ist. Die Diätassi­stentin schlägt hingegen eine weitere Variante vor: "Wenn es der normale Patient möchte, muss er was drauf zahlen" (P 3/294-295). Hierbei geht es nicht um eine Umschichtung des Krankenkassentagessatzes, sondern wie im Falle der Klinikangestellten, um eine Selbst­beteiligung.

Folgeprobleme

Die bislang favorisierte Lösung, eine Unterscheidung von Privatpatienten und "normalen" Patienten, erscheint dem Küchenleiter problematisch: "Es wird in die Richtung gehen, was mir zwar nicht so passt, weil wir dann ein Erste-Klasse-Essen und ein Zweite-Klasse-Essen hätten. Erste Klasse wäre Öko, zweite Klasse wäre dann Standard. Und da sind wir uns noch nicht ganz einig, wie wir das lösen" (P 1/334-337). Eine Distinktion und Privilegierung von Privatpatienten, die er bereits anhand von Beispielen anderer Kliniken negativ konnotiert vorgestellt hat, scheint hinter der angestrebten Lösung zu stehen. Öko-Essen bildet hierbei ein Distinktionsmerkmal der sogenannten ersten Klasse. Die Lösung eines Zwei-Klassen-Essens wird vom Küchenleiter einerseits abgelehnt, andererseits scheint sie jedoch als Begleiterschei­nung auf dem Weg hin zur Wirtschaftlichkeit der Klinik in Kauf genommen. Auch hier scheinen ökonomische Entscheidungsprämissen prioritär.

Neben der Differenzierung der Patienten erachtet der Küchenleiter an der anvisierten Lösung ihre Zukunftsfähigkeit als problematisch, "weil man sagt, ob man jetzt aus der kurzsichtigen Haltung mehr kaputtmacht, wie man für die Zukunft vielleicht, da sind die Anforderungen in drei Jahren wieder ganz andere. Und da wollen wir die Weichen richtig stellen" (P 1/348-351). Die Ausdifferenzierung des Essenangebots und die Einführung eines "Öko-Menüs" wird als "kurzsichtige" Lösung mit vorrangig ökonomischer Intension gesehen, wohinter andere Prämissen des Ernährungsprogramms drohen zurückzutreten. Dies scheint seine Zu­kunftsfähigkeit in Frage zu stellen. So wird von der Diätassistentin beispielsweise die Auf­rechterhaltung des Qualitätsanspruchs eingefordert. Für sie ist wichtig, dass die Essensqualität nicht vom Preis bestimmt werden darf: "Das heißt nicht, das eine ist jetzt wirklich das Kruschtessen und das andere ist nur das Bio-Essen" (P 3/353), "also kein Abfallprodukt" (P 3/369). Programmatisch formuliert sie den Anspruch: "wir müssen auch gucken, wenn Patienten eben nicht diesen Geldbeutel haben, dass die genau so zufrieden sind wie welche, die wahnsinnige Wertlegung eben auf diese Bio-Produkte haben und eben auch das Geld dazu haben" (P 3/358-360). Sie plädiert dafür, das Bio-Essen als Zusatzangebot zu sehen und nicht als Distinktionsmerkmal (P 3/370).

Restabilisierung neuer Entscheidungsprämissen

Die Problemlösung wird in der Organisation gesichert, indem sie in bestehende Strukturen eingepasst und zur Umwelt neu ausbalanciert wird. So hat die Ausdifferenzierung des Essens­angebots auch Veränderungen der Entscheidungsprämissen der Produktauswahl zur Folge. Das "Standard"-Essen, worunter das Fleischgericht und das Vegetarische gefasst werden, wird im Unterschied zum Öko-Essen wie folgt definiert: "Man würde schon darauf gucken, dass man keine Geschmacksverstärker [verwendet], dass man bestimmte Dinge schon einhält. Und auch im Salatbereich, wenn es finanzierbar ist im Sommer, wenn die Haupterntezeit ist, dass man diese Dinge dann auffüllt und sagt, dann nehmen wir das auch dazu" (P 1/341-345). Den kleinsten gemeinsamen Nenner beider Angebote macht der Küchenleiter im Ver­zicht auf Geschmacksverstärker und in der Verwendung saisonaler, preisgünstiger Öko-Pro­dukte aus. Damit wird die programmatische Entscheidungsprämisse, eine Auswahl von Öko-Produkten für alle Gerichte zu verwenden, aufgegeben. Wichtig scheint hier die Aufrechter­haltung des Qualitätsanspruches, der sich hier zum Beispiel in der Nichtverwendung von Ge­schmacksverstärkern äußert. Eine klare Unterscheidung trifft er jedoch bei TK-Produkten: "Aber Standard würde auch heißen, dass man zur Not ein gefrorenes Hähnchen nimmt, Hähnchenschlegel oder Hähnchenbrust, oder was es da alles gibt" (P 1/345-347). Waren TK-Produkte vormals nur in Öko-Qualität vorstellbar, sollen diese jetzt auch in kon­ventioneller Qualität Verwendung finden.

Auch die Kommunikation mit den Angestellten und Patienten muss jetzt mit den veränderten Bedingungen und Prämissen abgestimmt werden. So kommt es nun für beide Zielgruppen gleichermaßen darauf an, eine Mehrpreisakzeptanz für das Öko-Angebot herzustellen. Als förderlich erachtet der leitende Arzt Prozesse einer "Bewusstseinsbildung", die er vor allem im Zusammenhang mit Lebensmittelskandalen erkennt: "Die ganzen Skandalgeschichten, von BSE angefangen, Geflügelpest, Salmonellen, Hühnereier und so zeigen ja, dass eine erhöhte Sensibilität da ist. Aber das wird dann auch schnell wieder vergessen. Die ganze BSE-Geschichte sackt schon wieder ab" (P2/619-622). Einerseits erkennt er die Begrenztheit, durch derartige Skandale Sinnanschlüsse herzustellen, andererseits jedoch auch, dass hier­durch bereits strukturelle Folgen zu beobachten sind: "Wenn man auf die letzten 10 Jahre schaut, dann ist der Anteil größer geworden der ökologischen Landwirtschaft und der öko­logisch hergestellten Lebensmittel am Gesamtkonsum. Es haben tatsächlich viele Supermarkt­ketten ökologische Produkte eingeführt" (P 2/644-646). Eine steigende Nachfrage nach Öko-Produkten ist für den leitenden Arzt Anzeichen für eine Akzeptanz und Verbreitung alternati­ver Ernährungsweisen, die Sinnanschlüsse für eine Mehrpreisakzeptanz der Öko-Angebote in der Klinik eröffnen. Neben der Beförderung einer Mehrpreisakzeptanz erachtet es die Diät­assistentin für besonders wichtig, dass die Patienten über die Umstrukturierungsmaßnahmen und das hiermit verbundene neue Angebot umfassend informiert werden. Hierzu wird gegen­wärtig ein Flyer entworfen, in dem auch der Mehrpreis kommuniziert wird. Zusätzlich zu diesem Medium werden die Diätassistentinnen auf den Stationen die Vermittlung des Anlie­gens übernehmen (P 3/316). "Also, da lege ich eigentlich immer Wert, dass die Patienten einfach auch vom Personal mit eine gescheite und eine klare Aussage haben" (P 3/305-306).

Die zum damaligen Zeitpunkt geplanten Umstrukturierungen in der Klinik, die nicht nur den Ernährungsbereich betreffen, waren auch verbunden mit einem Wechsel des Geschäftsführers. Diese Situation kennzeichnet der Küchenleiter auch als "Scheideweg, wo eigentlich keiner im Moment so konkret jetzt sagen könnte, das wird jetzt die Zukunft sein" (P 1a/248-249). Eine wichtige Unterscheidung, die der Küchenleiter als erstes einführt: "Er ist auch nicht so - er ist kein Anthroposoph in dem Sinn" (P 1a/431). Die mit dem Geschäftsführerwechsel verbundenen Vorteile sieht der Küchenleiter darin, dass er "sich dann auch ein bisschen leichter[tut]wie jemand, der immer nur der Ideologie verbunden ist zu stark und dann da Rücksicht nimmt und dort Rücksicht nimmt. Und so einer, der kommt halt dann und sagt jetzt, die Entscheidungen werden jetzt getroffen" (P 1a/434-436). Von einem nicht-anthroposophi­schen Geschäftsführer wird erwartet, dass relevante programmatische Entscheidungsprämis­sen nicht in der Ideologie, sondern - entsprechend der thematisierten gesetzlichen und politi­schen Veränderungen - in der Ökonomie begründet sind. Mit dem Geschäftsführerwechsel habe sich die Klinik bewusst gegen die bisherige Praxis entschieden: "Weil sonst hat man immer vierzig Arbeitskreise gehabt, sage ich jetzt mal übertrieben formuliert. Unterm Strich ist nicht viel dabei herausgekommen. Jeder hat debattiert und debattiert und Entscheidungen sind dann keine gefallen" (P 1a/439-442). Die mit der anthroposophischen Philosophie asso­ziierten basisdemokratischen Entscheidungsstrukturen werden als schwerfällig und ineffizient gekennzeichnet. Trotz allem wurden auf dieser Grundlage auch Erfolge erzielt: "Die Furchen hat man gezogen, man hat den Samen eingebracht, man hat gegossen, es ist was gewachsen und nicht nur kleine Pflänzchen, es sind schon Stämme da, die also schwer zum Absägen sind im Moment. Also da muss einer schon sehr viel tun, wer die da absägen will" (P 1/976-980). Zukunftsszenarien müssen nach Ansicht des Küchenleiters auf bestehenden Strukturen aufbauen und können diese nicht unberücksichtigt lassen.

 

5. Fazit

Der in der Außer-Haus-Verpflegung organisierte Wandel der Ernährung wurde beispielhaft als folgenreicher Strukturwandel beschrieben. Damit konnte ein empiriefähiger Innovations­begriff jenseits des dominanten Diskurses gewonnen werden. Zum Fokus des Innovationspro­blems werden dann die strukturellen Anschlüsse. So stellen im konkreten Fall die Marktpreise von Öko-Produkten, aber vielmehr noch der gesellschaftliche Druck des ‚Fitmachens für den Gesundheitsmarkt’ Anlässe für Umstrukturierungen des bisherigen Ernährungsprogramms in der Klinik dar. Es konnte gezeigt werden, dass die Ausdifferenzierung des Speisenangebots folgenreich ist, wenn bestehende Entscheidungsprämissen der Produktauswahl, aber vor allem auch der Finanzierung auf ihre Adäquanz geprüft und verändert werden müssen. Zum Zeitpunkt der Interviews war noch nicht geklärt, wie unter den gegebenen Rahmenbedingun­gen, zum Beispiel der Bezuschussung durch die Krankenkassen, eine Finanzierung der höhe­ren Kosten möglich ist. Die Reichweite der Strukturveränderungen wird auch daran deutlich, dass Routinen der Gästekommunikation geprüft und erweitert werden müssen, womit deutlich wird, dass organisationaler Wandel auch immer mit einer Komplexitätszunahme verbunden ist. Hiermit sind auch zusätzliche Aufgaben des Personals verbunden. Im übergeordneten Kontext der Strukturveränderungen in der Klinik kam es sogar zu personalen Veränderungen in der Geschäftsleitung. Dass strukturelle Veränderungen auch immer wieder Anlass für neue Irritationen bieten, wodurch der evolutionäre Prozess erneut in Gang kommt, wird an den artikulierten Folgeproblemen des Zwei-Klassen-Essens und der Kurzfristigkeit der Lösung deutlich. Mit Rückschluss auf Innovation machen diese Befunde deutlich, dass Innovationen keine kurzfristig angelegten, sondern langwierige und nicht abgeschlossene Strukturverände­rungen sind. Hierin gleicht der Innovationsbegriff dem der Nachhaltigkeit, der ebenfalls das Problem des Anschlusses zwischen sozialen, ökonomischen und ökologischen Belangen thematisiert. Diese Parallelität weiter zu verfolgen, scheint für die Aufklärung beider wirkmächtiger Begriffe lohnenswert.

© Jana Rückert-John (Universität Hohenheim, Stuttgart)


ANMERKUNGEN

(1) Nachhaltige Entwicklung wird verstanden als "eine Entwicklung, die die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt, ohne zu riskieren, dass künftige Generationen ihre eigenen Bedürfnisse nicht befriedigen können" (Hauff 1987).

(2) Dieser Bereich differenziert sich in Gemeinschafts- oder auch Sozialverpflegung (z.B. Mensen, Schulen, Kindergärten, Krankenhäuser) und die Individualverpflegung, worunter hauptsächlich die Gastronomie verstanden wird.

(3) Empirisch stützt sich die Fragestellung auf Ergebnisse von Fallstudien zum Einsatz von Öko-Produkten in der Außer-Haus-Verpflegung, die im Rahmen eines Forschungsprojektes im Auftrag des Verbraucherschutzministe­riums durchgeführt wurden (Rückert-John et al. 2005). Als zentrales Kriterium für die Auswahl der Fallbeispiele (Kindergarten, Krankenhaus, Hochschulmensa, Betriebskantine, Caterer und zwei Restaurants) galt zunächst der langjährige und erfolgreiche Einsatz von Lebensmitteln aus ökologischer Produktion, die als nachhaltige Produk­te angenommen werden. Im Rahmen der Fallanalysen wurden jeweils vier qualitative Leitfadeninterviews mit Entscheidungsträgern der Einrichtungen durchgeführt.

(4) Zumindest suggerieren das die politischen Bemühungen der letzten Jahre in Deutschland mit dem Innovationsjahr 2004 und dem im Mai 2006 in Aktion tretenden "Rat für Innovation und Wachstum".

(5) Im Übrigen lässt sich zeigen, dass die nicht-teleologische Evolutionstheorie in den Sozialwissenschaften sich in den letzten Jahrzehnten wachsender Popularität erfreut (z.B. England 1995, Preyer 1998).

(6) Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf das Luhmannsche Verständnis von Organisation und strukturellen Wandel (Luhmann 2000).

(7) Anthroposophie: [griechisch] die, von Rudolf Steiner 1902 begründete, gegen Mechanisierung und Verflachung des modernen Lebens gerichtete Weltanschauungs- und Erkenntnislehre. Orientiert an Gnosis, Kabbala, indischer Philosophie und Goethe sieht die Anthroposophie die Welt in stufenweiser Entwicklung begriffen, die der Mensch einfühlend und erkennend nachzuvollziehen hat, um "höhere" seelische Fähigkeiten zu entwickeln (Brockhaus 2002).

(8) Neben diesen Themen wurden zudem Entscheidungsprämissen im Bereich der Mitarbeiter und der Gäste untersucht, auf die hier jedoch nicht näher eingegangen werden soll.

(9) In der Klammer ist jeweils ein Kürzel für die interviewten Probanden und die Zeilennummer der Textstelle im Interviewtranskript vermerkt.

(10) Der aktuellen Internetseite der Klinik ist zu entnehmen, dass das "Bio-Menü" die Probephase durchstanden hat und als "dritte Linie" aufgenommen wurde.


LITERATUR

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Hauff, Volker (Hg.) (1987): Unsere gemeinsame Zukunft. Der Brundtland-Bericht der Weltkommission für Umwelt und Entwicklung. Greven.

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Rückert-John, Jana; Hugger, Christine; Bansbach, Pamela (2005): Der Einsatz von Öko-Produkten in der Außer-Haus-Verpflegung (AHV): Status Quo, Hemmnisse und Erfolgsfaktoren, Entwicklungschancen sowie politischer Handlungsbedarf. Hg. Geschäftsstelle Bundesprogramm Ökologischer Landbau in der Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung (BLE), Bonn.

Sauer, Dieter; Lang, Christa (Hg.) (1999): Paradoxien der Innovation. Perspektiven sozialwissenschaftlicher Innovationsforschung. Frankfurt am Main/New York.

Schumpeter, Joseph (1987a): Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung. Berlin.

Schumpeter, Joseph (1987b): Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie. Tübingen.


7.2. Dominierende Innovationsdiskurse zwischen gesellschaftlicher Relevanz und Ignoranz
Dominating Innovation Discourses between Social Relevance and Ignorance

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For quotation purposes:
Jana Rückert-John (Universität Hohenheim, Stuttgart): Nachhaltigkeit der Ernährung als Innovation. Das Beispiel der Außer-Haus-Verpflegung. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 16/2005. WWW: http://www.inst.at/trans/16Nr/07_2/rueckert-john16.htm

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