Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 16. Nr. Mai 2006
 

8.2. Weltbürgertum und Globalisierung
Herausgeberin | Editor | Éditeur: Anette Horn (Johannesburg)

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Die Problematik von Herders Humanitätsbegriff zwischen Partikularismus und Universalismus

Anette Horn (University of the Witwatersrand, Johannesburg)
[BIO]

 

Herder gilt im Allgemeinen als Gegner des Kosmopolitismus, den er als Ausdruck einer einheitlichen Staatsmaschine wertet, die im Gegensatz zu seinem organologischen Denken steht. Dennoch verbindet er einen Partikularismus, der auf die regionalen kulturellen Unterschiede abzielt, mit dem Universalismus seines Humanitätsideals. Die Frage ist nun, wie sich dieser Gegensatz auflösen läßt und ob sein Humanitätsideal angesichts der Globalisierung, die eher ein kosmopolitisches Ideal erfordert, das mit der zunehmenden Verstädterung, Industrialisierung und Kommerzialisierung zusammenhängt, noch haltbar ist.

Frederick M. Barnard stellt fest, daß man vom 18. Jahrhundert behaupten könne, "es habe den beiden Hauptgedanken der humanistischen Tradition, nämlich der Säkularisierung des Wissens und der Anerkennung der Rechte des Individuums, Nachdruck verliehen". (1964: 21.) Damit macht Barnard auf den Nexus der Befreiung der Wissenschaften von der religiösen Autorität und der Befreiung des Menschen von der politischen Willkür eines absolutistischen Staates aufmerksam. In den Briefen zur Beförderung der Humanität, die selber vom Systemzwang eines orthodoxen Denkens frei sind, formuliert Herder das Recht des Individuums auf die Kritik jeglicher Autorität in einem Gespräch zwischen einem Anhänger Friedrichs und einem Josephs.

Wichtig an diesem Gedankenaustausch erscheint die dialogische Form, die grundsätzlich offen für weitere Fragen und Einwände bleibt und die Wahrheit als eine dialektische Beziehung zwischen den Gegensätzen sieht, die nie zu einem endgültigen Schluß kommt. Damit gibt Herder allein schon durch seinen Denk- und Schreibstil den Totalitätsanspruch der Aufklärung auf, ohne dadurch jedoch auf die universelle Anwendbarkeit seiner Ideen zu verzichten, denn dieses offene Denken schließt ja potentiell jeden Gesprächspartner als gleichberechtigt ein. Die Grundlage dieses Polylogs wäre jedoch ein gemeinsames Vernunftgesetz, das es jedem Gesprächspartner erlaubt, das Gesagte von einem rationalen Standpunkt zu überprüfen. Wie kommt dieser vernünftige Konsens jedoch zustande? Stehen ihm nicht individuelle und kulturelle Unterschiede sowohl in der eigenen als auch in der fremden Kultur, entgegen? In seiner Anerkennung regionaler Differenzen und Autonomie sieht Herder nämlich ein politisches Zentrum, das die Differenzen im Namen der Einheit aufhebt, nicht als wünschenswertes Ziel.

Die kulturelle und individuelle Mannigfaltigkeit beruht jedoch auf einem natürlichen Gefühl, das als Humanität beschrieben werden könnte. Herder schreibt: "Dies sind Maximen, die im Herzen jedes Menschen von selbst entspringen müssen; das Gefühl gibt sie, wenn man nur etwas nachdenkt; man hat keinen großen Kursus in Moral nötig, um sie zu lernen." (Ebd.) Damit setzt sich Herder entschieden von einer rationalistischen Ethik, wie Kant sie lehrte, ab. Die Ethik ist kein abstraktes Gesetz, das aus Pflicht befolgt wird, sondern etwas Freiwilliges und Natürliches, das dem Gefühl entspringt. Diese Auffassung hängt eng mit Herders Begriff der Besonnenheit zusammen, die er von dem der Reflexion abgrenzt, den er den Moralisten zuschreibt. Diese Besonnenheit gründet auf der Empfindung, die sich im etymologischen Sinn von Ein-findung herleitet. Die Ein-findung setzt ein Verhältnis zwischen Innen und Außen voraus, in dem das Affektierende das Affektierte beeinflußt, aber indem sich das Ich dieses Affektierenden inne wird und es dadurch erst wahrnimmt, was auch das Innere verändert, indem sich etwas in ihm an einem anderen Ort ein-findet. (Vgl. Heizmann, 43.)

Nach Herders Anthropologie ist die Menschenliebe ein grundlegendes Bedürfnis, das selbst dem von ihm Abweichenden nie ganz fremd ist. Er leitet diese Menschenliebe und Humanität von der physio-psychologischen Ähnlichkeit der Menschen ab: "Die ganze Haushaltung des menschlichen Geschlechts ist eingerichtet, um Menschenliebe einzuflößen. Die Ähnlichkeit der Menschen untereinander; die Gleichheit ihres Loses und das unentbehrliche Bedürfnis, das einer vom andern hat; Unglücksfälle, die die Bande des Bedürfnisses noch stärker anziehen; die natürliche Neigung, die man zu seinesgleichen hat; unsre Selbsterhaltung, die uns Humanität predigt; die ganze Natur scheint sich zu vereinigen, um uns eine Pflicht einzuprägen, die unser Glück macht und täglich neue Annehmlichkeiten auf unser Leben verbreitet." (Herder 1971: Bd.1, 36.)

Vor dem Hintergrund dieser Menschenliebe ist die Unterdrückung eines Volkes (Herder vermeidet den pejorativen Begriff der Rasse) durch das andere nicht gerechtfertigt und wird sich schließlich an den Unterdrückern rächen, wie Herder hellsichtig in Bezug auf den Kolonialismus feststellt: "Was endlich ist von der Cultur zu sagen, die von Spaniern, Portugiesen, Engländern und Holländern nach Ost- und Westindien, unter die Neger nach Afrika … gebracht ist? Schreien nicht alle diese Länder … um Rache, da sie auf eine unübersehliche Zeit in ein fortgehend-wachsendes Verderben gestürzt sind … daß vielmehr wenn ein Europäischer Gesammtgeist anderswo als in Büchern lebte, wir uns des Verbrechensbeleidigter Menschheit fast vor allen Völkern der Erde schämen müßten". (Zit. nach Barnard, 125.)

Herder war weder Rassist noch Evolutionist, der die Entstehung des Menschen vom Affen ableitete, und sah deshalb auch keinen qualitativen Unterschied zwischen den verschiedenen Völkern, als er schrieb: "Weder der Pongo noch der longimanus ist dein Bruder; aber wohl der Amerikaner, der Neger. Ihn also sollst du nicht unterdrükken, nicht morden, nicht stehlen: denn er ist ein Mensch wie du bist; mit dem Affen darfst du keine Brüderschaft eingehen." (Herder 1971:109.)

Somit dürfen sich auch die Europäer keines kulturellen Vorteils gegenüber anderen Völkern rühmen, da dieses Etikett bisher nur einigen Individuen vorbehalten bleibe, die sich aktiv um sie bemüht hätten. Herder fragt: "Wie wenige sind in einem kultivierten Volke kultiviert? Und worin ist dieser Vorzug zu setzen? Und wie fern trägt er zu ihrer Glückseligkeit bei? zur Glückseligkeit einzelner Menschen nämlich, denn daß Abstraktum ganzer Staaten glücklich sein könne, wenn alle einzelne Glieder in ihm leiden, ist Widerspruch oder vielmehr nur ein Scheinwort, das sich auf den ersten Blick als ein solches bloßgibt." (Herder 1971:100.)

Als eine solche Rache könnte man die Betonung der Ethnizität und der Religion im gegenwärtigen politischen Kontext betrachten, wo der Universalitätsanspruch und der Humanismus der Aufklärung als ideologische Verbrämung eines brutalen Imperialismus und Kolonialismus entlarvt werden. Dennoch halten anti- und postkoloniale Theoretiker wie Frantz Fanon und Edward Said an einem durch den antikolonialen Kampf, in dem die koloniale mit der anti-kolonialen Gewalt konfrontiert wird, geläuterten Humanismuskonzept fest, denn die gewaltsame Auseinandersetzung bildet nur eine Phase in einem historischen Prozeß, der mit der Aufklärung einsetzte und dessen Ziel eine Gesellschaft ist, in der die allgemeinen Menschenrechte nicht nur in der Theorie, sondern auch in der Praxis anerkannt werden. Das geht aber nur, wenn die europäIschen Kolonisatoren nicht nur eine Absage an die Gewalt von den Kolonisierten verlangen, sondern die Gewalt als blinden Fleck ihrer kolonisierenden Mission, die sie auch immer als eine zivilisierende verstanden, erkennen. Auf diesen blinden Fleck ihres eigenen Diskurses können sie aber nur die Kolonisierten, notfalls mit Gewalt, aufmerksam machen. Dann erst kann ein Polylog beginnen, der von dem von Herder als allgemein postulierten Humanitätsbegriff ausgeht, der das Ideal einer globalen Friedenskultur zu verwirklichen versucht.

In den Briefen zur Beförderung der Humanität hat Herder bereits die Kommunikation als Grundlage einer humanen Kultur betont. Dafür sei es nötig, die Gedanken größerer Menschen aus allen Zeiten und Kulturen zu lesen, um den Leitfaden zu erkennen, der sich durch ihre Schriften zieht. Herder begründet das so: "Je reiner die Gedanken der Menschen sind, desto mehr stimmen sie zusammen; die wahre unsichtbare Kirche durch alle Zeiten, durch alle Länder ist nur eine." (Herder 1971: Bd.1, 8.) Daß Herder von diesem herrschaftsfreien Diskurs keinen ausschließt, geht aus folgender Bemerkung hervor: "Kein Parteigeist soll unser Auge benebeln, keine Schmeichelei unser Angesicht schänden. Unter uns ist, wie jener Apostel sagte, kein Jude noch Grieche, kein Knecht noch Freier, kein Mann noch Weib; wir sind eins und einer." (Ebd.) Ein Bund der Humanität gehe aus einer Lesegesellschaft hervor, die sich Rechenschaft über das Gelesene gegeben hat. Das Lesen allein führt noch nicht zur Humanität, denn es kann angesichts des wachsenden Büchermarkts vielfältig und zerrissen sein, sondern es muß erst durch die Besonnenheit geläutert werden. Herder nennt den Bund, der aus diesem besonnenen Lesen hervorgeht, "vielleicht wahrer, wenigstens unanmaßender und stiller, als je einer geschlossen ward". (Ebd, 9.) Es geht Herder dabei aber nicht nur um die Klarheit des Gedankens, sondern auch darum, daß sie zu einer Maxime wird, nach der man handeln kann. Das Handeln wäre somit erst der Prüfstein für die Wahrheit und Tauglichkeit des Denkens. Sonst bleibt es nur eine Wortspielerei.

Für Herder ist der amerikanische Staat, der sich auf eine demokratische Konstitution gründet, in der die Menschenrechte aller garantiert sind, exemplarisch für andere Staaten. So schreibt er: "denn das Philadelphia, für welches diese Gesellschaft gestiftet ist, kann überall liegen". (Ebd., 12.) Mit der Gesellschaft sind Foren gemeint, in denen nicht nur Gelehrte, sondern auch andere am allgemeinen Wohl interessierte Menschen Dinge besprechen können, die die Öffentlichkeit angehen. Von dieser Öffentlichkeit sind auch die Armen nicht ausgeschlossen, indem er ihnen "Wege des Fleißes mit überwiegender Vernunft eröffnet". (Ebd., 10.) Diese Maxime, die heute leicht als Paternalismus belächelt werden könnte, trifft jedoch auf jeden Beruf zu: "Franklins Grundsätze gehen allenthalben darauf, gesunde Vernunft, Überlegung, Rechnung, allgemeine Billigkeit und wechselseitige Ordnung ins kleinst und größeste Geschäft der Menschen einzuführen, den Geist der Unduldsamkeit, Härte, Trägheit von ihnen zu verbannen, sie aufmerksam auf ihren Beruf, sie in einer milde fortgehenden, unangestrengten Art geschäftig, fleißig, vorsichtig und tätig zu machen, indem er zeigt, daß jede dieser Übungen sich selbst belohnet, jede Vernachlässigung derselben im Großen und Kleinen sich selbst strafe." (Ebd., 10.) Die Armen könnten auch auf diese Weise zu ihrem Recht kommen: "Er nimmt sich der Armen an, nicht anders aber als daß er ihnen Wege des Fleißes mit überwiegender Vernunft eröffnet." (Rbd., 10.) Daraus ließe sich ableiten, daß er die Armut als selbstverschuldet ansieht. Überhaupt erscheint sein Menschenbild zu idealistisch und optimistisch, als daß es heute, nach den Klassenkämpfen und Revolutionen, ohne weiteres angewendet werden könnte. So berücksichtigt er z.B. nicht die strukturellen Ursachen der Armut, die in der Profitmaximierung des Kapitalismus liegen, ja, man könnte so weit gehen, wie der Herder-Forscher Barnard argumentiert, daß Herders Konzept der Humanität weder auf den Adel, noch auf den "Pöbel", sondern nur auf den ökonomisch produktiven Mittelstand zutrifft.

Während der Adel jedoch als Klasse historisch überflüssig geworden ist, hat sich der "Pöbel" vom Proletariat des 19. und 20. Jahrhunderts zur Masse der Angestellten und Arbeitslosen der dritten Welt im Zeichen der Globalisierung des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts entwickelt. Die strukturelle Armut äußert sich somit in der Spaltung in eine erste und dritte Welt. Die Arbeiter in "sweat-shops" in China und die Arbeitslosen in Johannesburg oder Bombay auf "Fleiß" und "Vernunft" als Ausweg aus ihrer Situation zu verweisen, wäre vor diesem Hintergrund völlig fehl am Platze und würde höchstens ein höhnisches Gelächter hervorrufen. Dennoch bleibt der Hinweis auf ihre Menschrechte nach wie vor aktuell, nur müßten sie anders definiert und durch eine politische Organisiation unterstützt werden, um Aussicht auf Erfolg zu haben. Die Globalisierungsgegner, die bei den Treffen des IMF und der World-Bank demonstrieren, wären ein Beispiel eines solchen politisch organisierten Widerstands.

Ob sich die Gewinner der Globalisierung, die Chefinnen und Chefs der multi-nationalen Konzerne, allerdings durch Hinweise auf die "Menschenrechte" der Arbeiterinnen und Arbeiter im Namen der "Menschenliebe" und "Vernunft" bewegen ließen, ist ebenso fraglich. Diese humanistischen Werte werden meist erst dann heraufbeschworen, wenn das Eigentum der Privilegierten durch Gewalt bedroht wird und es zu Lamenti über die Gründe solcher Zerstörungswut kommt, die dann im Mangel an Bildung in der humanistisch-christlichen Tradition gesucht wird. Die Doppelmoral hinter solchen Argumenten ist offensichtlich: Gewalt ist nur von der ersten oder freiheitlich-demokratischen Welt erlaubt, wenn ihre ökonomischen Interessen in der dritten Welt bedroht sind, aber umgekehrt wird die Gewalt gegen solche gewaltsamen Eingriffe in die Autonomie der Staaten der dritten Welt als Terrorismus verurteilt. Damit soll jedoch kein einfaches Freund-Feind Schema aufgestellt werden, wenn man an die nukleare Aufrüstung Pakistans und Indiens denkt oder die endlosen Bürgerkriege in Afrika. Stattdessen sollte man eher von einer globalen Vernetzung der Eliten sprechen, die ihre Herrschaftsmethoden voneinander abgeschaut haben.

Heißt das, daß man heute Herder zum alten Eisen legen und stattdessen lieber Noam Chomsky, Edward Said, Naomi Klein und Arundhati Roy lesen sollte? Ich möchte vorschlagen, daß es gar nicht so sehr um ein entweder-oder, sondern um ein sowohl-als auch Denken geht, denn diese Autorinnen und Autoren stehen in der besten aufklärerischen Tradition, allerdings ohne deren romantische Züge, da sie durch die historischen Erfahrungen der Zwischenzeit eines Besseren belehrt worden sind. Trotzdem gehen sie von der aufklärerischen Prämisse aus, daß sich die gegenwärtige Situation nicht durch zynische Verweise auf die raubtierhafte "Natur" des Menschen zurückführen lasse, sondern daß die Bedingungen geschaffen werden müssen, unter denen ethisches Handeln möglich ist, für die es immer schon Beispiele gegeben hat. Selbst in extremen Situationen haben Einzelne, manchmal Viele, Sorge für andere und Würde gezeigt.

Wie steht es jedoch um den Begriff des Kosmopolitismus bei Herder? Es heißt, daß er, im Gegensatz zu Schiller und Wieland, kein Kosmopolit war, weil der Kosmopolitismus seiner Meinung nach im Konflikt zu den regionalen Traditionen stand, die er im Namen einer diversen Kultur bewahren wollte. Frederick Barnard (1964: 38) schreibt: "Er fürchtete, Zentralismus würde unvermeidlich Einförmigkeit mit sich bringen und so das zerstören, was nach seiner Auffassung das Wertvollste im sozialen und politischen Leben war: die besonderen Sitten und die verschiedenen ortsgebundenen Traditionen der einzelnen Teile des Reiches." Diese Traditionen wollte er unter den Oberbegriff des Universalismus bringen, der ja, wie wir gesehen haben, aus seinem Postulat einer gemeinsamen Menschlichkeit hervorging. Heißt das aber nicht, daß er die "Tradition" statisch sieht, die es ja nie als reine gab, da immer schon ein Austausch zwischen den Regionen und der Stadt stattfand, die wiederum durch den weltweiten Handel im Austausch mit anderen Weltteilen stand.

Es läßt sich nicht leugnen, daß in der Stadt als dem Zentrum des Kosmopolitismus die regionalen Unterschiede zugunsten einer Einheit aufgehoben wurden, die eine raschere Integration der "Fremden" in die Stadt ermöglichte. Oft geschah diese Integration jedoch im Zeichen einer nationalen und religiösen Einheit, der sich alle "Fremden" anzupassen hatten. Man denke etwa an die Ausgrenzung der Juden in den Ghettos der europäischen Städte. Hier wurde keine Toleranz geübt, die einen der Grundpfeiler der Humanität der Aufklärung bildet, obwohl Friedrich der Große um diese Zeit versuchte, die Juden der deutschen Gesellschaft zu assimilieren, was zwar von einigen Juden befürwortet, doch von anderen als Bedrohung ihrer Kultur und Religion angesehen wurde. Der Begriff der Toleranz darf somit nicht als Zwang zur Assimilierung verstanden werden, sondern muß die Wahl jedes und jeder Einzelnen zulassen, sich für oder gegen die dominante Kultur zu entscheiden. Umgekehrt müssten auch die Mitglieder der dominanten Kultur die Rechte der Minderheiten respektieren, ihre Kultur ohne Sanktionen auszuüben.

Das klingt in der Theorie zwar gut, aber wie verhält es sich mit der Praxis? Der Begriff der dominanten und der Minderheitskultur ist an sich schon problematisch, weist er doch auf einen Machtunterschied hin, in dem die verschiedenen Kulturen nicht gleichberechtigt sind. Dieses Machtverhältnis beruht auf einem Wissensunterschied, da die Minderheitskultur meist sehr viel mehr über die dominante Kultur weiß als umgekehrt. Das impliziert, daß der Kosmopolitismus auch um ein Verständnis der anderen Kulturen bemüht sein muß, was die Kenntnis mehrerer Sprachen voraussetzt. Diese Voraussetzung müßte bereits in der Schule geschaffen werden.

Nun versucht die Aufklärung jedoch, von dem/der Einzelnen ausgehend, eine Erziehung anzustreben, die von einem "fast messianischen Glauben an die Macht der Erziehung ebenso wie die Macht des Glaubens selbst [getragen ist]; einen Glauben daran, daß es möglich sei, eine Gesellschaft zu schaffen, in der es keine soziale Schranken gebe und in der der Mensch nach höchstmöglicher Sittlichkeit strebe." (Barnard, 26.) Barnard weist darauf hin, daß Lessings Botschaft "ein Echo in Herders eigenem Glauben an Erziehung und in den Anschauungen vieler späterer Reformer" fand. (Ebd.)

Ist dieser Glaube heute naiv, da nach dem Zerfall sozialer und politischer Utopien politische Konflikte wieder im Namen der Religion ausgetragen werden, und daß sich diese Situation noch verschärft, statt nachzulassen? Ist das vermeintliche Monopol des Westens auf solche Werte wie Freiheit und Demokratie nicht arrogant, wenn er zugleich diese Werte angeblich rückständigen und diktatorischen Staaten mit Gewalt aufzwingt und sie somit ihrer politischen Freiheit beraubt? Auch wenn man diese politischen Systeme nicht gutheißen will, weil sie z.B. die Rechte von Frauen verletzen, führt der Eingriff Amerikas und seiner Verbündeten im Irak zu einer repressiven Theokratie, in der das Scharia-Gesetz, das Ehen mit neunjährigen Mädchen zuläßt, wieder eingeführt werden soll, da die Demokratie als von außen oktroyiertes System gesehen wird. So verkehren sich selbst die besten Intentionen in ihr Gegenteil, wenn die Betroffenen sie nicht wollen und vor allem, wenn sie sie als Vorwand für ökonomische Interessen durchschauen, wie das im ölreichen Irak der Fall ist.

Eine kosmopolitische Kultur, die den Anspruch auf universale Humanität ernstnimmt, würde sich dadurch auszeichnen, daß sie auch den politisch Verfolgten Asyl gewährt und ihnen somit das Gastrecht zuspricht. Wenn allerdings dieses Gastrecht mißbraucht wird, sollte man vielleicht nicht allzu schnell mit dem Finger auf die "Fremden" zeigen, sondern nach der eigenen Praxis im Ausland, aus dem die "Fremden" kommen, fragen. Bomben richten denselben Schaden im In- wie im Ausland an, mit dem Unterschied allerdings, daß die Selbstmordattentäter nicht ihr Gastland regieren wollen. Das sollte den westlichen Politikerinnen und Politikern zu denken geben.

Vor diesem Hintergrund wäre die Globalisierung mit dem teleologischen Fortschrittsbegriff der Aufklärung vergleichbar, die in der europäischen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts den Höhepunkt einer linearen Progression zur Perfektion sah. Herder lehnte diesen Fortschrittsbegriff zugunsten einer Gleichzeitigkeit ungleichzeitiger Entwicklungsstufen unter verschiedenen Völkern ab, den er unter den Begriff des 'Fortgangs' faßt, wie Susan Pickford schreibt: "The notion 'Fortgang' translates the idea of successivity rather than progression between peoples with an equal capacity for happiness, thus avoiding a value judgement." (2005:241f.) Eine solche Kulturauffassung, die die Glückseligkeit eines Volkes als Maßstab nimmt, würde andere Völker aber auch nicht durch ökonomische Eingriffe zu ihrem Glück zwingen wollen. Die Frage ist jedoch, ob es noch solche autonomen Völker gibt oder ob sie durch den Kolonialismus nicht auf unwiderrufbare Weise zerstört wurden. Die Antwort darauf würde implizieren, daß die Kolonialmächte für die Wiedergutmachung dieses Zerstörungsprozesses mitverantwortlich sind, nur daß sie dabei erst einmal ihren Dialogpartnern zuhören müßten.

In seiner Studie The Society of Individuals führt Norbert Elias den produktiven Begriff des "cultural drag" (kulturelle Verschleppung) ein, um zu zeigen, wie Rückstände früherer Zivilisationsstufen noch in höheren Zivilisationsstufen fortwirken. So spricht er z.B. vom Übergang einer Stammesgesellschaft zum Nationalstaat und von diesem zu einer globalen Gesellschaft, der Menschheit, die bereits in solchen Institutionen wie den Vereinigten Nationen und der Weltbank existiert, aber die noch nicht in einer globalen Ethik der Menschenrechte verwirklicht ist, die allen Individuen das Recht auf Bewegungsfreiheit und Unversehrbarkeit der Person zugesteht. Elias meint aus einer soziologischen Perspektive, daß die in viele Staaten zersplitterte Menschheit als soziale Einheit heute anstelle der individuellen Staaten zunehmend den Bezugsrahmen in den sich entwickelnden Prozessen und strukturellen Veränderungen bildet. (1991:163.) Er fügt jedoch die Bedingung hinzu, daß solche Prozesse und strukturelle Veränderungen ohne globale Bezugsrahmen weder adäquat diagnostiziert noch erklärt werden können.

Was demnach in der Globalisierung zu beobachten ist, ist eine zunehmende Integration der Staaten zu transnationalen sozialen Einheiten, die jedoch noch nicht von Individuen genügend emotional besetzt sind, um wirksam zu sein. Eine Kultur der Menschenrechte und des Weltfriedens wäre ein möglicher Ausgangspunkt für eine solche emotionale Investition in die Menschheit als globaler Einheit, die jedoch auch ein Individuum voraussetzt, das zu einem solchen globalen, vernetzten Denken bereit ist. Obwohl Herder in die Richtung eines solches Menschheitskonzepts hingewiesen hat, scheint er es nicht auf der Ebene des Staates anzusiedeln, der ein rationales politisches Zentrum für die verschiedenen regionalen Traditionen wäre, das sie jedoch auch aufheben würde. Dennoch investiert er den Menschheitsbegriff bereits emotional, obwohl er auch theoretisch durchdacht werden muß, um nicht an Glaubwürdigkeit in einer hoch differenzierten globalen Gesellschaft oder Menschheit einzubüßen, das ein in hohem Maße selbstregulierendes Individuum voraussetzt.

© Anette Horn (Johannesburg)


LITERATUR

Barnard, Frederick M. 1964. Zwischen Aufklärung und politischer Romantik. Eine Studie über Herders soziologisch-politisches Denken. Berlin: Erich Schmidt-Verlag.

Elias, Norbert 1991. The Society of Individuals. Oxford: Basil Blackwell.

Heizmann, Bertold 1981. Ursprünglichkeit und Reflexion. Die poetische Ästhetik des jungen Herder im Zusammenhang der Geschichtsphilosophie und Anthropologie des 18. Jahrhunderts. Frankfurt am Main: Peter Lang.

Herder, Johann Gottfried 1971. Briefe zur Beförderung der Humanität. Herausgegeben von Heinz Stolpe in Zusammenarbeit mit Hans-Joachim Kruse und Dietrich Simon, Bd. 1-2, Berlin und Weimar: Aufbau.

Herder, Johann Gottfried 1953. Werke in zwei Bänden. München: Carl Hanser.

Pickford, Susan 2005. "Does the End of Herder's Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit Represent a Conclusion?" In: German Life and Letters, Vol. LVIII, No. 3, July 2005, S. 235-247.


8.2. Weltbürgertum und Globalisierung

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For quotation purposes:
Anette Horn (University of the Witwatersrand, Johannesburg): Die Problematik von Herders Humanitätsbegriff zwischen Partikularismus und Universalismus. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 16/2005. WWW: http://www.inst.at/trans/16Nr/08_2/horn16.htm

Webmeister: Peter R. Horn     last change: 27.5.2006     INST