Trans | Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften | 16. Nr. | August 2006 | |
9.5. Recycling Culture. Ancient and Sacral Texts in (Post)Modern Literature and Art |
Eva Fülöp (Karoli University of the Reformed Church)
Magisch-realistischer Roman - wenn wir diesen Begriff hören, fällt uns freilich das Werk Hundert Jahre Einsamkeit von Gabriel García Márquez ein. Magisch und realistisch - wir lassen uns diese Wörter schmecken und inzwischen denken wir an die Buendias, an Macondo, an jene Welt der Magie, die in der Zeitlosigkeit erstarrte. Oder vielleicht fallen uns ähnlich exotische Phänomene ein, wie der bunte Wirbel der Schmetterlinge, Verwandte gerade aus dem Jenseits zurückgekehrt oder andere Wunder. Es scheint aber, dass wir nach einigen Phrasen stecken bleiben und das, was dieser Begriff eigentlich bedeutet, uns zunächst verborgen bleibt.
Bloß einige Jahre ist es her, als 1998 die hervorragende Monographie von Tamás Bényei erschien: Apokryphe Schriften - mit dem Untertitel Über magisch-realistische Romane(1). Diese Arbeit bietet nicht nur einen geschichtlichen Überblick, sondern charakterisiert mit einzigartig feinem Gefühl die Eigentümlichkeiten der magisch-realistischen Schriftart und deren wichtigste Vertreter. Diese Monographie betrachtet den magischen Realismus nicht als eine Gattung, vielmehr als eine Schriftart, als postmodernen Stil und untersucht nur Werke ausländischer Autoren. Hier möchte ich aber ungarische, also in Ungarn und jenseits der Grenze Ungarns schaffende Autoren unter die Lupe nehmen und sie mit magisch-realistischen Romanen vergleichen. Meine Untersuchungsmethode folgt jedoch die von Tamás Bényei registrierte Stilcharakteristik.
Alle drei Autoren verfassten einen Familienroman: die Genealogie, die Suche nach dem Ursprung ist nicht nur für realistische Romane kennzeichnend, sondern ebenso auch für die Magisch-Realistische. Mit seinem schöpferischen Blick verfolgt der Wojwodianer Nándor Gion in seiner Romantetralogie die Geschichte einer schwäbisch-ungarischen Familie von den 80er Jahren bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges. Wir können aber dieses Werk keineswegs als ein solches betrachten, das den Ursprung fetischisiert- nur stellenweise trifft das zu, aber auch in den Fällen bleiben die Zither spielenden Vorfahren der Hauptfigur eigentlich unbetont.
Im Jahre 1973 erschien der Soldat mit der Blume (Virágos katona), zwei Jahre später der Rosenhonig (Rózsaméz) - diese zwei Romane wurden zusammen unter dem Titel Er spielte auch für Schächer (Latroknak is játszott(2)) publiziert. Dann 1997, nach etwa 20 Jahren, folgte der neue Teil des Romans (Dieser Tag ist unser / Ez a nap a miénk(3)) und postum ist der Band Er fand Gold (Aranyat talált(4)) im Jahre 2002 erschienen. Obwohl so viele Jahren inzwischen vergangen sind, bilden diese vier Romane sowohl vom Niveau her als auch sprachlich ein vollkommenes Ganzes. Der vereinfachte Sprachgebrauch ist am ehesten mit dem klaren Stil von Károly Kós verwandt, in seiner Purität erinnert er an die schlichte Darstellungsweise eines Märchens. Die Trilogie selbst ist eine Ich-Erzählung (mit der Ausnahme des Rosenhonigs): István Gallai Rojtos, der Zitherspieler mit der schönen Sprache, erzählt die eigene Geschichte und die der Verwandten, Bekannten und Dorfbewohner.
Dieses Werk Gions wurde von vielen Kritikern wegen seiner realistischen Darstellungsweise hoch gepriesen, wegen der Darstellung des Dorfes in Bácska, die der Autor mit historischer Treue und sozialer Sensibilität vollendete. Und tatsächlich: mit einem vortrefflichem Fingerspitzengefühl zaubert Gion uns das Dorf Szenttamás vor, wo verschiedene Nationalitäten - Ungaren, Serben, Schwaben und Zigeuner - manchmal zusammenleben, manchmal auch gegen einander. Was die historische Treue betrifft, fällt uns wieder nichts in die Augen: die geschichtlich gesehen farbige und reiche Periode zwischen 1898 und den 40er Jahren tut sich uns auf in einer Weise, die damals für die Alltagsmenschen wahrheitsgetreu gewesen sein könnte.
Wir können aber dieses Werk doch nicht für realistisch halten - im herkömmlichen Sinne des Wortes. Gion äußerte sich in einem Interview darüber, dass der Begriff ’Realismus’ für ihn auf vielerlei Art zu deuten ist. Er legte die Meinung dar, dass es keine Zukunft gibt für jene Art des Realismus der 50er der 60er Jahren. "Mit einer ganz plötzlichen Wendung entfernte ich mich von dem ganzen Realismus, und begann ganz andere Richtungen zu erforschen. Ja ich verwendete diese sogar, um dann mit einer neuen Wendung zu einem neuen Realismus zurückzukehren, der mit seiner Härte und zugleich seinen bunten Farben eher perspektivisch und kaum mehr realistisch erschien - wie er auch heute noch erscheint..."(5)
Sándor Olasz wies auf diesen Gedanken im Einklang mit dem Werk von Márquez hin, jene Erkenntnis also, dass diese Art des Realismus, diese andere Art der Darstellungsweise eine Überschreitung bedeutet, über die Grenzen der Wahrscheinlichkeit. Aber nicht im Sinne der Romantik, wo man sich von der Realität entfernen wollte - hier möchte man sie dadurch noch besser verstehen. "Die Prosa von Gion möchte nicht um jeden Preis die Realität simulieren, [...] Mythos und Legende wurden bei ihm die Ausdrucksformen seines Weltbildes." (6) Dieses Prinzip ist zwar mit dem Roman Hundert Jahre Einsamkeit verwandt, doch ruft Gion damit eine spezifisch ungarische Variante der magisch-realistischen Romans ins Leben. "Diese Welt hat schon die Tragödie in sich, aber nicht die Kraft, Mythos zu schaffen. Sein Aussagegehalt ist an Ort und Zeit gebunden: die sich in ihre Schwierigkeiten verwickelten Diasporen sehen nicht das Allgemeine und das Menschliche in ihrem Schicksal." (7) Die Welt Gions wird nicht zu einem, alle Völker umfassenden Symbol, wie bei Márquez - obwohl Sage- und Märchenmotive und epische Elemente anwesend sind und sogar die naturalistischen Geschehnisse über einen mythischen Schweif verfügen (im Sinne von László Németh). Dennoch bietet diese epische Welt eine bescheidenere Deutung der Realität, als die der Hundert Jahre Einsamkeit .(8) Gion bewahrte die nobelsten Elemente der ungarischen epischen Tradition und schuf damit eine neue Form der Mythenbildung.
In dem Roman von István Szilágyi Steine fallen in versiegenden Brunnen (Kő hull apadó kútba(9)) wird ein kleines siebenbürgisches Dorf, Jajdon, mit einer detaillierten soziografischen Darstellung lebendig gemacht. Die Hauptfigur des Romans, Szendy Ilka, eine in Wohlstand lebende Bürgerin, tötet ihren Liebhaber, Gönczi Dénes, als er nach Amerika gehen will. Er hat eine Familie, und arbeitet als Bauer bei Ilka. Sie wirft den Leichnam in einen Brunnen, und fängt an, manisch zum Brunnen Steine zu tragen, damit die Spuren des Verbrechens verschwinden. Verbrechen und Strafe, das Verlieren des Gleichgewichts und der Zerfall einer Person erscheinen so, dass die detaillierten soziologischen Beschreibungen durch Träumen und Visionen immer wieder unterbrochen werden.
Das Hauptwerk des vor einigen Zeiten verstorbenen und unwürdigerweise vergessenen Schriftstellers, Holdosi József, Die Strasse der Zigeuner (Kányák(10)) ist im Jänner 1979 erschienen. Im gleichen Jahr wurde der Roman Termelési regény (Produktionsroman) von Péter Esterházy herausgegeben, der eine Wende in der damaligen ungarischen Prosa bedeutete. Leider wurde der Roman von Holdosi durch den von Esterházy verdunkelt, so dass es nicht in den ungarischen Kanon hineingelangt ist. Dieses Werk wurde nicht ohne Würde mit dem magischen Realismus von García Márquez identifiziert, dessen Wirkung in diesem Werk offensichtlich zu spüren ist. Holdosi József schrieb ungarisch - über Zigeuner, über seine eigene Familie. Dieses verzwickte Thema hätte sich alleine als genügend erwiesen, um aus dem Kanon herauszubleiben.
Alle drei Werke spielen in dem Rahmen einer kleinen, abgetrennten Gemeinschaft. Die von Gion ist ein kleines Dorf, Szenttamás aus Bácska, die von Szilágyi, Jajdon, die Kesselstadt, und die von Holdosi ist nur eine einzige Strasse in einem ungarischen Dorf, eine von Zigeunern bewohnte Strasse.
Die Welt des Zigeunertums ist nicht die unsere - sie verfügt über eine eigene Zeit, einen eigenen Raum und eine eigene Dimension. Genauso, wie Macondo. Und zwar diese Strasse von Holdosi kann man als richtiges Abbild von Macondo betrachten. Und es ist interessant, dass die Zigeuner im Macondo die Vertreter der Zivilisation sind (mit herausnehmbaren Gebiss, mit Magneten und Lupen), hier sind sie eine gänzlich unentwickelte Gemeinschaft. Holdosi stellt in seinem Roman eine andere mögliche, parallele Welt dar, welche von unserer Welt nur durch eine Planke getrennt ist. Eine Planke, auf deren einer Seite wir leben, und auf der anderen Seite die Zigeuner - in einer für uns völlig unbekannten, von Mythen, Legenden und Magie bestimmten Gemeinschaft. Ein Held im Werk Die Strasse der Zigeuner fand eines Tages in seiner Kindheit "ein Stück bunte Kreide neben der langen Planke, die am Ende der Strasse vom Haus der alten Naca bis hin zum Eingang des Dorfes durchging. Er wusste, dass es nicht wahr ist, und wusste, dass die Planke nur am Ende der Welt endet. Eines Tages machte er sich auf dem Weg, aber er gelang während eines ganzen Tages nicht bis ans Ende."(11)
Diese Getrenntheit, diese Isolierung bedeutete aber nicht nur die Separation des Zigeunertums von den Ungaren - hier müssen wir eher an die Situation der Familie Kánya denken. Der Zigeunerbursche heiratete ein Bauermädchen, was die Familie sowohl von der Gemeinschaft des Dorfes als auch von den anderen Zigeunern des Dorfes abgrenzte. So ermöglichte diese Herkunft, dass sie das Zigeunertum zugleich von außen und von innen sehen und betrachten konnten. Die Isolation bedeutet gleichzeitig auserwählt und ausgestoßen zu sein, und das äußerte sich bei den Nachfolgern in der Form eigenartiger Empfindsamkeit und einer Neigung zur Kunst.
Péter, der begabte Maler, leidet kontinuierlich an Visionen - er spricht ständig mit dem "Zigeunerchristus", und er grübelt ständig über die Chancen der Erlösung seiner Rasse nach. Eine alte Zigeunerin macht ihn darauf aufmerksam, dass ein Erlöser der Zigeuner nicht existiert, und auch nie existierte - das Zigeunertum kann sich nie verleugnen, es kann nie etwas anders sein, als es selbst.
Diesen Eindruck der Unerlösbarkeit vermittelt auch das Dorf Jajdon: die Stadt ist in eine Grube gebaut, in einen Talkessel. Der Friedhof ist aber auf den Berg gebaut. Deshalb führt der einzige Weg nach außen bzw. nach oben paradoxer Weise zum Friedhof. Das persönliche Schicksal von Szendy Ilka ist ein Beispiel dafür - es gibt für sie, als die typischste Repräsentantin des versteiften, alten Standes, keine Ausbruchsmöglichkeit. "Diese Lebensform besteht nur in Klischees, ohne Inhalt und Perspektiven, die biologische Zeit übernahm die Herrschaft von der geschichtlichen Zeit."(12)
Die andere mythisch-märchenhafte Figur des Romans, Ernő, der zweite Sohn aus der Familie Kánya, macht sich auf die Suche nach der uralten Musik der Zigeuner, aber auch er ist nicht von Erfolg begleitet. Der dritte Junge, der gut manövrierende Jenő, erscheint als die einzige Chance des Fortbestands der Zigeuner überhaupt. Er kommt sogar in das "Feental", in ein von Wallach-Zigeunern bewohnten Paradies auf Erden, wo Instinkte, Liebe und die ungezwungene Freiheit der Liebe herrschen. Aber er wird gleich den Buendias ausgetrieben.
Amerika, das neue Land, das Paradies, die Heimat der Möglichkeiten hätte die Erlösung für den Liebhaber von Szendy Ilka bedeuten können - er hat aber nicht einmal die Gelegenheit auf die Reise zu gehen.
Von den drei Texten ist hauptsächlich Die Strasse der Zigeuner reich an übernatürlichen Elementen, was "wirklich in allen magisch-realistischen Texten anwesend ist, aber einerseits ist das nur eine von den zahlreichen Eigentümlichkeiten (notwendige, aber nicht genügende Voraussetzung), andererseits behandeln magisch-realistische Texte die übernatürlichen Elemente auf äußerst verschiedener Weise.(...)"
"Das Übernatürliche wird alltäglich und umgekehrt. »Die unglaublichen, abnormen Geschehnisse passieren leicht, mit der größten Natürlichkeit (...) als ob sie immer dort gewesen wären. Ihre Abnormität normalisierte sich seit der Zeit, als die magisch-realistische Welt vorgestellt wurde.«"(13) Solche sind die alles zerstörenden Käfer im Werk von Holdosi, die Kraft des Rosenhonigs bei Gion Nándor, oder die Erscheinung des Fürsten Rákóczi, der aus dem Bild in Szendy Ilka’s Schlafzimmer heraustritt.
"Die magisch-realistischen Romane sind reich an solchen Elementen, die wir magischen Akt nennen."(14) Solche sind zum Beispiel Namensmagie, Liebesmagie, schwarze Magie, Prophezeiung, Alchemie, Flüche und es kommen auch Hexen, Zauberer und andere magische Elemente darin vor.
Auf der Familie Kánya ruht ein Fluch, weil der Vater seine Zigeuner-Liebhaberin verließ und ein Bauermädchen heiratete - jedes Mal, wenn ein Kánya stirbt, verdirbt auch eine Kronenschlange. "Die Fragezeichen formende Kronenschlange ist ein doppeltes Sinnbild - die Nachfragung nach dem Geheimnis des Banns der Familie Kánya und auch nach der Zukunft des ganzen Zigeunertums."(15) Die Alten erscheinen als Hellseher und Allwissende.
Mari, die Frau von Gönczy Dénes, lässt sich zwar auf dem Markt wahrsagen, aber von den magischen Akten sind in diesem Werk eher diejenigen wichtig, die durch die kontinuierlichen Wiederholungen magisch werden. Derartig ist das Steinetragen der Hauptfigur in den Brunnen - sie will manisch den Brunnen so verschwinden lassen, dass sie mit jedem einzelnen Stein nicht nur die Spuren verschwinden lässt, sondern auch den Gedanken der Tat - und das geschieht so, dass manchmal auch Szendy Ilka daran glaubt, dass Gönczy Dénes einmal aus Amerika zurückkehren kann.
Das Motiv der Wiederholung erscheint im Werk Die Strasse der Zigeuner in der Allegorie des Steinhauses, und in dem Märchenmotiv des vergeudeten Schatzes. Das mehrmals erscheinende Steinhaus könnte für sie das normale Leben, die Ansiedlung bedeuten, bringt aber nur Verfall. Sie bauen ein Steinhaus, dessen Feier in einer mehrtägigen Orgie mit Typhus und mit mehreren Todesfällen endet. Nach dem Vorbeigehen des Typhus zerstören sie das Steinhaus, das dieses Unheil verursacht hat.
"Zu frühzeitig warst du, Haus, gehörtest nicht hierher, wir brauchten dich nicht, verflucht warst du, es ist besser so"(16), sagt Jenő in dem Roman.
Diese Übertreibung oder "Exzesse", wie es Bényei nennt, ist auch charakteristisch für den von uns behandelten Romantyp. Der Rahmen der normalen Existenz wird überschritten - so kann die Magie, die als Akt angesehen wird, eine Metapher der Überschreitung eines Verbotes sein.
In Gions Werk fehlen die typischen Elemente der südamerikanischen Romane wie Liebesmagie oder schwarze Magie, Wahrsagen, Alchemie. Aber es gibt hier Szentigaz, den Kartenhellseher, der Rojtos Gallai des Teufels Gesangsbuch zu benutzen lehrt. Aber in den meisten Fällen kommen die magischen Tätigkeiten mit Hilfe der Sprache zustande, d.h. die magischen Akten sind im Allgemeinen sprachliche Akte.
Die Rede, das Märchen hat eine bedeutsame Rolle in dem Roman. Der Hauptfigur glaubt an die Kraft der Rede - sei es die Wirkung der Rede, die das Herz oder auch den Schoss der Frauen öffnet, sei es das, dass sie Leben retten kann. Die Rede hilft auch dann, als Rojtos Gallai Spionage betreibt und geschickt Vorwände erfindet. Oder denken wir an das Märchen über den Rosenhonig! Wie andächtig hören die Kinder und auch die Erwachsene dieser Geschichte über das vermeintlich glücksbringende Wundermittel zu!
"Die Narratologie ist in diesen Werken ein magischer Akt, und dieser magische Realismus bildet die Grundlage für die magische Pragmatik. Die Magie (wie im Falle der magischen Formeln) ist nicht nur auf der Ebene der Geschichte anwesend, sondern auf der Ebene der Äußerung, und in diesem Sinne ist sie nichts anderes, als die Grundmetapher des als Akt gemeinten Sprachgebrauches: entweder als Zaubertrick oder als eine Tätigkeit, von der das Sein des Erzählers abhängt. (...) Die Sprache ist hier in erster Linie keine Rede über die Realität, sondern eine Tätigkeit, die eben diese Realität beeinflussen und "magisch" durchpoetisieren möchte."(17)
Der Roman Steine fallen in versiegenden Brunnen ist mit den magisch-realistischen Romanen in sprachlicher Hinsicht am engsten verwandt.
In diesen Romanen verändert der magisch-realistische Erzähler die Welt lieber zu einer Konspiration, damit er diese Welt bloß nicht als unverständlich betrachten muss. Nach der Meinung von Lévi-Strauss ist der Ursache des magischen Denkens die Tatsache, dass es in der Welt nicht genügend Bedeutungen gibt; er schreibt: "das magische Bewusstsein wird von gefühlsbasierten Interpretationen und Obertönen überflossen, um somit die Mangelgefühl auslösende Realität zu ergänzen."(18)
Die Magie stellt eine Sprache sicher, womit man die Elemente der Realität in ein semantisches System einfügen kann; so z. B. erklärt der Schamane die Krankheiten nicht mit Viren, sondern er interpretiert sie als Relation zwischen Symbolen und symbolisierten Dingen; und diese Erklärung, die sich in der Psyche des Kranken abspielt, ist überzeugender, als die wissenschaftliche Erklärung, die immer außerhalb bleibt.
Genau dies geschieht im Fall von Szendy Ilka. Der Roman beginnt mit dem Mord selbst, und von diesem Zeitpunkt schreiten wir gleichzeitig vor- und rückwärts in die Zeit. Diese Tatführung in zwei Richtungen bietet zahlreiche narrativische Möglichkeiten - "Die natürliche und zivilisierte, die Linien der inneren und seelischen Landschaften werden immer verschwommener, wenn wir in dem Roman vorwärts schreiten. Ein unnachahmlicher, einmaliger Text mit eigenartiger Modalität kommt hier zustande, eine Einheit der darstellenden und beschwörenden, realen und magischen Sprache."(19) Gespräche, Träume, Zukunftsvisionen, in der Zeit weg von einander liegende Bewusstseinsinhalte, die Montage der inneren und äußeren Landschaften ergeben den Raum und die Zeit der erzählten Handlungen. Die mythisch werdenden Schlüsselwörter und Symbole - Spiegel, Brunnen, Mörserton, Zugpfiff, geschlossenes Tor und Fenster, Grube - heben den Text auf eine transzendentale Ebene.
Während meiner Arbeit bin ich zu der Feststellung gekommen, dass alle drei Romane ebenso aus sprachlicher Hinsicht als auch aus bildlicher Hinsicht würdige Nachfolger der Marquezschen Tradition sind.
© Eva Fülöp (Karoli University of the Reformed Church)
ANMERKUNGEN
(1) Tamás Bényei: Apokrif iratok - a mágikus realista regényekről. - Debrecen: Kossuth Könyvkiadó, 1997.
(2) Nándor, Gion: Latroknak is játszott. - Budapest: Magvető Könyvkiadó, 1982.
(3) Nándor, Gion: Ez a nap a miénk. - Budapest: Osiris Kiadó, 1997.
(4) Nándor, Gion: Aranyat talált. - Budapest: Osiris Kiadó, 2002.
(5) Das Interview mit Nándor Gion wird zitiert von Sándor Olasz in: A történetmondás öröme. - Forrás, 30/4., 1998. November. p. 17-22. Alle Zitaten dieses Textes wurden vom Verfasser [F. É.] übersetzt.
(6) Sándor, Olasz: A történetmondás öröme.
(7) Das Schreiben von György Ferdinandy wird zitiert von Olasz in: A történetmondás öröme.
(8) Károly, Alexa: A száz év magány - Erdélyből. Szilágyi István regényéről. - In: A szerecsen komornyik.Budapest: Kortárs Kiadó, 1999, p.137-140.
(9) István, Szilágyi: Kő hull apadó kútba. - Bukarest: Kriterion Kiadó, 1975.
(10) József, Holdosi: Kányák. - Budapest: Szépirodalmi Könyvkiadó, 1979.
(11) József, Holdosi: Kányák. p.9.
(12) Károly, Alexa: A száz év magány Erdélyből. p. 139.
(13) Bényei: Apokrif iratok. p.69.
(14) Bényei: Apokrif iratok. p.63.
(15) Tibor, Balogh: A koronás kígyó legendája.
(16) Holdosi: Kányák. p. 115.
(17) Bényei, p. 102.
(18) Bényei, p. 97.
(19) Károly, Alexa: A száz év magány Erdélyből. p. 140.
9.5. Recycling Culture. Ancient and Sacral Texts in (Post)Modern Literature and Art
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