Trans | Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften | 16. Nr. | Mai 2006 | |
14.6. Die Rolle von Wissenschaft und Forschung bei der Herausbildung eines neuen Selbstbewußtseins in den jungen Demokratien in Europa |
Vessela Beltscheva (Veliko Tirnovo, Bulgarien)
[BIO]
Nach der Wende 1989 war die bulgarische Gesellschaft unvorbereitet auf die neuen Tendenzen, das Phänomen der Globalisierung wurde damals durchaus negativ aufgenommen, besonders in Richtung Kultur und Ausbildung. Aber der Postkommunismus entdeckte Europa und bezüglich der zunehmenden Internationalisierung des politischen, sozialen und wirtschaftlichen Lebens in Bulgarien zeigt sich immer mehr der Bedarf nach fremdsprachlich mit modernen Methoden ausgebildeten jungen Menschen.
Traditionellerweise stellt der Spracherwerb das primäre Lernziel im Fremdsprachenunterricht (FSU) dar, aber infolge des Europäisierungsprozesses und der allgemeinen Mobilität kam es zu der Notwendigkeit interkulturelle Bildung und interkulturelle Erziehung im Fremdsprachenunterricht zu erzielen.
Was hat eigentlich zu der Problematisierung des Begriffs "Interkulturalität" in der gegenwärtigen Bildung und Erziehung geführt? Diese Frage lässt sich mit der Globalisierungstendenz beantworten, im Sinne eines Horst Steinmetz:
Globalisierung im allgemeinen Sinne bezeichnet den fortschreitenden Prozess einer umfassenden Abhängigkeit der über alle Erdteile zerstreuten Ereignisse, eine weltweite Gleichzeitigkeit, aber auch bis zu einem gewissen Grade eine weltweite Gleichörtlichkeit, die jedes Geschehen beinahe sofort in Beziehungen zu allen anderen setzen, die aber auch jedes Geschehen in Abhängigkeit von allen anderen situieren. Was geschieht, hat oder kann globalen Einfluss haben und ist gleichzeitig durch Globalität mitgeprägt.
(Steinmetz 2000: 192, zit. nach Biechele 2004: 67)
Die Abkehr von einem traditionellen zugunsten eines interkulturellen Ansatzes im FSU bezieht die subjektive Interpretation der Kultur(en) ein und wird auch zu einer Herausforderung an die Fremdsprachenlehrer: heute sollen die Lehrer nicht nur Fremdsprachenkenntnisse vermitteln, sondern auch das ewige Zusammenspiel von Fremdem und Eigenem, von Bekanntem und Unbekanntem. Im Mittelpunkt des FSUs steht heute die Fähigkeit "mit Menschen aus anderen Kulturen, die als unterschiedlich von der eigenen wahrgenommen werden, zu kommunizieren", sowie die Fähigkeit, "unterschiedliche kulturelle Wertsysteme in Beziehung zu setzen (vergleichen, nicht gleichsetzen), andere soziale Erscheinungen innerhalb des fremden kulturellen Systems ohne ethnozentrische Wertung zu interpretieren [um] mit Missverständnissen, Brüchen und Widersprüchen [...] umgehen zu können (Krumm 2003:141 zit. nach Marx 2004: 164). Diesbezüglich versucht man in letzter Zeit den Schwerpunkt auf die Arbeit mit entsprechenden Texten im Fremdsprachenunterricht zu legen um kulturspezifische Gedanken zu ermitteln, kulturelle Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu entdecken. In diesem Sinne zeichnet sich die Literatur, die im weitesten Sinne keine kulturellen Grenzen kennt, besonders geeignet für die aktuellen Ziele des Fremdsprachenunterrichts.
In den Mittelpunkt meines Beitrages stelle ich die Frage nach dem Potenzial von Märchen - als international verbreitete Volksliteratur - für die interkulturellen Lernprozesse, und zwar, welche Rolle können Märchen bei der Annäherung an die fremde Kultur spielen.
Wichtig ist es zu wissen, dass Märchen eine Welterfahrung ermöglichen, indem sie globale Themen wie Armut und Reichtum, Recht und Unrecht, Treue und Verrat, Gut und Böse auf für das jeweilige Land traditionelle Weise vermitteln. Man darf aber nicht vergessen, dass der Blick auf die fremde Kultur oftmals durch die eigene Kultur geprägt worden ist, gerade weil im Anderen das Eigene oft so leicht zu finden ist. In dem Sinne bauen Märchen eine kulturübergreifende, zugleich aber auch eine kulturverbindende Brücke. Zu beachten ist, dass im Vergleich zu anderen Texten, die speziell für die Lernenden verfasst wurden, Märchen nicht extra für den Fremdsprachenunterricht "gemacht" wurden, sondern "tatsächlich innerhalb der anderen Kultur" entstanden sind und damit "ein echtes Stück fremde Weltsicht" enthalten (vgl. hierzu Badstübner-Kizik 2004: 15). Dieses Stück fremder Weltsicht kann aber erst durch gezielte Fragen fruchtbar werden, sonst bleibt es tief im Märchen versteckt.
Wenn man Märchen verschiedener europäischer Völker vergleicht, wird man bald feststellen, dass dieselben Grundformen immer wiederkehren. Die meisten Unterschiede bestehen vor allem in der Beschreibung der Details, beispielsweise wird die Braut in den bulgarischen Märchen nicht in einem fremden Reich gesucht, sondern in einem Nachbardorf (in Bulgarien spielte früher die Nachbarschaft eine große Rolle, der Nachbar war der, der geholfen hat, aber auch der, der die meisten Konflikte verursacht hat). Viele Abweichungen gibt es auch in der Beschreibung der Figuren und des Handlungsablaufs in den verschiedenen Varianten eines Märchens, die meistens kulturell und regional bedingt sind. In diesem Zusammenhang sind beispielsweise für das deutsche Märchen der dunkle, einsame Wald sowie auch die riesengroßen Schlösser typischer Schauplatz märchenhaften Geschehens, während für das bulgarische Volksmärchen das Dorf, das Feld, die kleinen Dorfhäuser beliebte Schauplätze sind.
Die bulgarischen Volksmärchen beschreiben den Alltag der Bauern, ihr Leben. Sie sind sozusagen sehr sozial orientiert. Charakteristisch ist auch der Realitätsbezug des bulgarischen Volksmärchens - ein Beweis dafür ist das Fehlen von Wundern, das Fehlen übertriebener menschlicher Eigenschaften und Tugenden, sowie das fehlende Idealisieren des Helden. Das persönliche Benennen des Helden (mit Eigennamen) fehlt oder ist eher selten. Hervorgehoben sind die Verhältnisse in der Familie, wobei die Familienmitglieder sehr allgemein angesprochen werden: Mann und Frau, Bruder und Schwester, ein bzw. mehrere Kinder, ein Hirt, ein Hölzer, ein Jäger etc. Die Hauptthemen sind mit den Verhältnissen innerhalb der Familie verbunden, wie beispielsweise die Vermählung der Frau. Die zukünftige Gemahlin soll über zwei wichtige Eigenschaften verfügen: Klugheit und Tüchtigkeit. Selbst der Zar sucht für seinen Sohn nicht eine Königstochter, sondern ein kluges Mädchen, das seinem Mann in schwierigen Lebenssituationen hilft. Oftmals wird die Intelligenz der Frau mit schwierigen Fragen und Rätseln erprobt. Dem klugen Mädchen wird auch oft die verwöhnte Tochter entgegengesetzt - sie wird ausgelacht und verspottet, doch am Ende des Märchens wird sie zu einer tüchtigen und ordentlichen Hausfrau umerzogen. Thematisiert werden auch die Beziehungen Schwiegermutter und Schwiegertochter (das Märchen von Mara Pepeljaschka)(1), die oft erniedrigt und von der Familie isoliert wird, sowie der schlechte Sohn, der sich um seinen Vater nicht kümmert (Učenijat sin i neučenijat tatko), faule und dumme Mütter, deren Kinder verhungern (Glupavata žena, Motovila-vila).
Ein beliebtes Thema sind auch Intrigen in der Familie. Die Gestalt der alten Intrigantin - oftmals eine Nachbarin - kommt in vielen bulgarischen Volksmärchen vor. Die Intrigen sind mit Unglück, Trennung, oft auch Mord in der Familie verbunden. In diesem Zusammenhang wird auch die Frage nach der Treue hervorgehoben, wobei die Frau als untreu und als moralisch verfallen dargestellt wird. Die untreue Frau wird als geldgierig, tückisch und rachesüchtig dargestellt.
Da Märchen nach dem Prinzip des Kontrasts gebaut worden sind, sieht man eine starke Polarisierung in der Darstellung der weiblichen Figuren: der negativen Gestalt der geldgierigen, untreuen Frau, die nur Intrigen schürt, wird die Gestalt des keuschen einfachen Mädchens aus dem Volke entgegengesetzt, das tüchtig, treu und sehr klug ist. Mit der Idealisierung des einfachen Mädchens bzw. Jungen wird die Idee expliziert, dass alles, was aus dem einfachen Volke stammt, eine höhere Moral besitzt. Das ist eine Art satyrische Gegenreaktion gegen die Unterdrückung und gegen die Erniedrigung des Volkes durch die Reichen. Oft wird menschliche Armut thematisiert und zwar auf beeidruckender Art und Weise: es werden Geschichten von verwitweten Frauen erzählt, deren Kinder verhungern oder kein Dach über Kopf haben, sowie Geschichten von Menschen, die vor Hunger sterben bzw. zu Verbrecher werden nur um überleben zu können. Als Folge der Armut und des Elends entsteht der Traum von schönen Häusern, von Verwandlung des Wassers in Wein, der Asche in Brot usw.(siehe z. B. folgende Märchen: Dobrinite na dârvarja Dobri, Djado Trak i zmejat, Vârti-puh).
Die Hoffnung auf ein besseres Leben hat die Volksmassen immer zusammengehalten. Der Humor, die Satire, die für das bulgarische Volksmärchen typisch sind, sind gegen die Machthabenden, gegen den Unterdrücker gerichtet. Kritisiert werden Minister, Bürgermeister sowie Geistliche: sie werden als geldgierig, geizig, zügellos, tückisch und dumm dargestellt. Sie haben keine Moral, sind oftmals Verführer, Diebe und Intriganten. Durch das Märchen konnte das Volk sie bloßstellen und verspotten: das war eine Art Rache und eine Suche nach moralischer und sozialer Rechtfertigung.
Die Dummheit als menschliche Eigenschaft wird auch oft thematisiert. Sehr groß ist die Zahl der bulgarischen Volksmärchen, die Tölpel als Hauptpersonen haben. Diese zählen zur negativen Märchenpersonage, wie etwa die Reichen, die Geistlichen, die Minister. Das Volksmärchen setzt als positive Helden nicht nur die Klugen und die Weisen, sondern auch die Schlauen entgegen.
In Märchen ist der Unterschied zwischen positiven und negativen Helden ganz deutlich zu sehen. Zu den ersten gehören die klugen, gescheiten und weisen Märchenhelden und zu den zweiten die dummen und faulen. In jedem Märchen trifft man sowohl positive als auch negative Personage - oftmals erscheinen sie als Verwandte: zwei Brüder (der eine ist klug, der andere dumm), dumme Mütter und Töchter und ein kluger Vater, dumme Frauen, die in komische Situationen geraten usw. Auf diese Weise verglichen, kontrastieren im Märchen die Klugheit und die Dummheit noch mehr.
Bei der Bloßstellung der Dummheit spielt der Humor, die Ironie eine ganz wichtige Rolle. Die Hoffnungslosigkeit und die Skepsis werden mit Hilfe der Ironie überwunden.
Da Moral und Ethik in den zwischenmenschlichen Beziehungen der Bulgaren immer eine große Rolle gespielt haben, wird die Frage nach der Moral in den Märchen nicht nur thematisiert, sondern durchaus mit konkreten Beispielen argumentiert. Die Frage nach der Moral wurde oft mit der Religion, mit dem Glauben an Gott verbunden: der liebe Gott belohnt die guten Menschen und bestraft die bösen. Trotz der Wunderkraft, die Gott besitzt, wird Er als ein einfacher Mensch dargestellt, der denkt, handelt und redet. Der religiöse Anfang spielt kaum eine Rolle. Das Gute, das Er tut, die Ratschläge, die Er gibt, sind eigentlich eine Versinnbildlichung der menschlichen Lebenserfahrung.
Wie bereits erwähnt, kommt dem Bauern aus ärmlichen Verhältnissen eine besondere Rolle zu, denn dieser stammt aus dem Milieu des einfachen Volkes, in dem die Märchen verbreitet waren. Aus dem Grunde sind viele Ausgangssituationen gerade im Haus eines Bauernehepaares verortet. Viele Märchenmotive sind mit der bulgarischen Tradition und mit den bulgarischen Lebensgewohnheiten eng verbunden, beispielsweise das patriarchalische System und die passive Rolle der Frau in der Familie. Viele Märchenmotive sind mit der alten bulgarischen Lebensweise zu erklären. So hängt beispielsweise die Suche nach einer Braut in einem Nachbardorf mit dem Brauch zusammen, ein Mädchen aus einer anderen Sippe zu heiraten.
Das idealisierte Bild des jüngsten Bruders, des Waisen- und des Stiefkindes hängt mit dem patriarchalischen Familienbild im bulgarischen Volksmärchen zusammen. Anfangs ungerecht behandelt und verspottet, gelangen sie durch Eigenschaften wie Klugheit und Herzensgüte zu Glück und Erfolg. Auffällig ist also die Familienzentriertheit des bulgarischen Volksmärchens. Ob das Ausgangsmilieu der Zarenhof oder die arme Bauernfamilie ist, immer spielt die Familiensituation eine entscheidende Rolle für den Verlauf der Handlung.
Ich habe mich vor allem auf äußere Parameter wie Ort, Zeit und Figurenkonstellation der bulgarischen Volksmärchen beschränkt, die kulturelle Unterschiede zu anderen europäischen Märchen deutlich indizieren und auf die die Aufmerksamkeit der Lernenden gelenkt werden muss.
Zum Schluss möchte ich betonen, dass der Umgang mit Märchen viel Feinfühligkeit, Lernfähigkeit und große Motivation verlangt. Auch wenn viele Schwierigkeiten beim Verstehen auftreten, sind Märchen für die Entwicklung kreativen Denkens und fremdkulturellen Verhaltens besonders geeignet. Dieses fremdkulturelle Verhalten ist nur dann möglich, wenn die Lernenden imstande sind, sich mit den eigenen kulturellen Geprägtheiten auseinander zu setzen (vgl. hierzu Gruber, Moser 2004: 39-48). Und diese Auseinandersetzung erreicht ihren Höhepunkt im Fremdsprachenlernen, denn meistens findet in ihm ein Zusammenspiel der fremden mit den eigenen sozialen Strukturen und kulturellen Mustern statt.
© Vessela Beltscheva (Veliko Tirnovo, Bulgarien)
ANMERKUNG
(1) Das Märchen von Mara Pepeljaschka ist dem deutschen Märchen von Aschenputtel inhaltlich sehr ähnlich. Die Unterschiede sind eher kulturspezifisch bedingt.
LITERATURANGABEN
Badstübner-Kizik, Camilla (2004): Konfliktpotenzial in authentischenUnterrichtsmaterialien - eine Chance für die Initiierung interkultureller Lernprozesse? Überlegungen auf der Grundlage von Bildern und Musik. In: Theorie und Praxis. Österreichische Beiträge zu Deutsch als Fremdsprache 8/2004.
Bâlgarski narodni prikazki (2002). Veliko Târnovo: Slovo.
Biechele, Werner (2004): Kulturwissenschaftliche Aspekte einer Literaturwissenschaft des Faches Deutsch als Fremdsprache. In: 30 Jahren Germanistik an der Universität zu Veliko Târnovo - Traditionen und Reformen.Veliko Târnovo.
Dinekov, Petâr (1963): Bitovi prikazki i anekdoti. Bâlgarsko narodno tvorčestvo. T.10. Sofia.
Gruber, Hildegard /Moser, Claudia (2004): Unterschiedliche Lehr- und Lernerfahrungen als Konfliktpotenzial im Fremdsprachenunterricht - am Beispiel der Arbeit mit literarischen Texten. In: Theorie und Praxis. Österreichische Beiträge zu Deutsch als Fremdsprache 8/2004.
Kovacheva, Ivanka (1985): Da razkažeš prikazka. Prikazkata v tvorčestvoto na bâlgarskite pisateli. Sofia.
Lüthi, Max (1962): Märchen. Stuttgart.
Lüthi, Max (1969): So leben sie noch heute. Betrachtungen zum Volksmärchen. Göttingen.
Marx, Carola (2004): Kunst als Schlüssel zur Fremdkultur? Interkulturelles Lernen mit Kunstwerken im DaF-Unterricht. In: Theorie und Praxis. Österreichische Beiträge zu Deutsch als Fremdsprache 8/2004.
Panzer, Friedrich (1926): Märchen. In: Deutsche Volkskunde. Leipzig.
Rötzer, Hans Gerd (1982): Märchen. Band 1. Bamberg.
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