TRANS Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 17. Nr. Juni 2010

Sektion 2.9. Der neoliberale Markt-Diskurs. Zur Kulturgeschichte ökonomischer Theorien im Alltagsdiskurs
Sektionsleiter | Section Chair: Walter Ötsch (Zentrum für Soziale und Interkulturelle Kompetenz und Institut für Volkswirtschaftslehre, Johannes Kepler Universität, Linz)

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Sektionsbericht 2.9.

Der neoliberale Markt-Diskurs.
Zur Kulturgeschichte ökonomischer Theorien im Alltagsdiskurs

Walter Ötsch (Johannes Kepler Universität Linz) [BIO]

Email: walter.oetsch@jku.at

 

Der Neoliberalismus als Sammelbezeichnung für marktradikale Ansätze stellt ohne Zweifel einer der grossen Denkrichtungen unsere Zeit dar. Sie war und ist für die Transformation vieler Gesellschaften bedeutsam. „Neoliberalismus“ kann zum einen für eine Vielzahl ökonomischer Theorien gesetzt werden, wie der gängigen neoklassischen Mikroökonomie (die in weltweit standardisierter Weise in den Lehrbüchern vertreten ist - eine wirtschaftliche Elite lernt so, marktradikal zu denken), der Monetarismus und die Supply side-Ansätze (die in den USA u.a. für drastische Steuersenkungen mit Auswirkungen und Folgen in vielen Ländern gesorgt haben), Public Choice-Ansätze (in denen staatliche Aktivitäten als Sonderformen von Märkten beschreiben werden) bis hin zu der Prozesstheorie von Hayek, die vor allem auf der ideologischen Ebene ein neues Fundament für die kapitalistische Marktwirtschaft geliefert hat.

Aber der Neoliberalismus bzw. Marktradikalismus ist viel mehr als nur eine Richtung in der ökonomischen Theorie. Er kann als umfassendes Kulturprojekt angesehen werden, bei dem es um den Primat der Ökonomie vor dem Staat geht und eine umfassende Ökonomisierung aller Lebensbereiche angestrebt wird. Der Neoliberalismus als Kultur-Projekt hat sich - so die These - in einem Kultur-Kampf durchgesetzt. Gesellschaftlich geht es vor allem um die Produktion von „Bildern“ über die Wirtschaft in den Köpfen von Menschen, der Ansatzpunkt dazu sind diskurstheoretische Ansätze bzw. kognitive Metapherntheorien in der Tradition von Lakoff und Johnson.

Zu fragen ist nach dem Inhalt und der Wechselwirkung von Bildern auf zwei Ebenen:

Beide Ebenen sind inhaltlich, in ihrer Entstehung und Veränderung noch wenig erforscht, eine Kulturgeschichte des Neoliberalismus bzw. Marktradikalismus liegt bislang nur rudimentär vor, viele Fragen sind noch offen.

In der Sektion wollten wir uns vor allem auf folgende Fragen konzentrieren:

  1. auf der Ebene der gesellschaftlichen Produktion von Bilder
    Welche Bilder der Wirtschaft bzw. des Wirtschaftens besitzen Menschen heute? Wie kommt es, dass neoliberale Wirtschaftspolitiken so selbstverständlich geworden sind, dass sie kaum noch hinterfragt werden können? Wie werden kollektiv die "Grundtatsachen" konstruiert, was Wirtschaft ist und was sie in ihrem Kern zusammenhält, aus was und wie entstehen sie? Welche "Trägerschichten" tragen und fördern das neoliberale Kultur-Projekt?
  2. auf der Ebene der Theorie
    Wie ist es zum „neoliberalen Turn“ in der Wirtschaftstheorie gekommen? Lässt sich für das neoliberale Kultur-Projekt eine Anfangsphase festmachen? Welche Symbolproduzenten (wie Theoretiker, Think-Tanks, Medien, …) haben wichtige Beiträge geliefert? Wie wurden diese medial vermittelt? Wie konnten sie in das Zentrum gesellschaftlicher Diskurse rücken? Haben sich in bestimmten Medien Bilder und Metaphern über die Wirtschaft während der letzten zwanzig Jahren signifikant verändert? Welche Rolle haben dabei ökonomische Theorien und ÖkonomInnen gespielt?

Die eingelangten Papers sowie die Vorträge und Diskussionen gingen einzelnen dieser Fragen nach.

Vorträge, die den Bereich der gesellschaftlichen Produktion von Bildern zum Inhalt hatten, wurde von Veronika Koller, Jens Schlamelcher, Jakob Kapeller und Jakob Huber, Beatrix Bendeder  und Katrin Hirte gehalten. Die Vorträge von Sylvie Geisendorf, Michael Karft, Claus Thomasberger und Walter Ötsch betrafen den Bereich der ökonomischen Theorie.

Veronika Koller hat in ihrem Beitrag Religious and political metaphors in corporate discourse die theoretischen Bezüge ihres Ansatzes (in der kognitiven Metapherntheorie und in der qualitativen Textanalyse) dargestellt, eine kurze Skizze der historischen Entwicklung des Neoliberalismus und seiner Theorien geliefert  und auf die kulturellen Folgen dieser Entwicklung aufmerksam gemacht. Dabei haben sich viele gesellschaftliche Diskurse grundlegend geändert. So wäre die Sprache der Wirtschaft in den Bereich der Religion und der Politik eingedrungen und gleichzeitig hätten diese Eingang in die Sprache ersterer gefunden - man würde sich z.B. im Business zunehmend religiöser Ausdrücke bedienen. Diese Entwicklung wurde vor dem Hintergrund von Theorien sozialer Kognition und des Diskurses diskutiert, Koller spricht von „interdiscursivity“ und meint damit die Kombination von Diskursen und Genres innerhalb eines Textes. Diese habe Bedeutung für das Framing sozialer Gruppen, für Machtasymmetrien zwischen Diskursproduzenten und kann zu „ideologischen Dilemmata“ führen. In der Anwendung dieser Theorien zielt Koller vor allem auf die metaphorischen Verbindungen der angesprochenen Bereiche ab, sowie die Form und Funktion, die sie in konkreten Texten ausüben. Im zweiten Teil ihres Vortrags stellte sie das Ergebnis von Textanalysen dar, wie Firmen sich selbst darstellen und zeigte auf, in welche Weise metaphorische Bezüge zur Politik und Religion vorliegen.

Der Vortrag von Jens Schlamelcher  Neoliberale Diskurse und Ökonomisierungstendenzen im religiösen Feld. Die evangelische und katholische Kirche in Deutschland kann als Gegenstück zu diesem Thema gesehen werden. Schlamelcher diskutierte drei Fragestellungen: (1) Was bedeutet Ökonomisierung?, (2) Welche semantischen Verschiebungen in Bezug auf einen neoliberale Sprache waren bei den beiden Großkirchen in Deutschland zu beobachten, und (3) welche strukturellen Ökonomisierungsprozesse sind in diesen beiden Kirchen zu beobachten? Im ersten Teil wurde die These vertreten, neoliberale Diskurse seien das semantische Pendant zu strukturellen Ökonomisierungsprozessen - letztere wurde in Hinblick auf Ansätze von Foucault diskutiert. Auf der Ebene des Individuums gehe es um Disziplinierung (sie wird als Führungstechnologie von Organisationen  begriffen, um die Effizienz ihrer Arbeitskräfte zu maximieren) und auf der Ebene der Bevölkerung um die Durchsetzung von Marktprinzipien für viele Organisationen, mit vielen Beispielen. Schlamelcher unterscheidet zwischen externer (Ausdehnung des Marktes auf alle gesellschaftlichen Bereiche) und interner Ökonomisierung (die Hereinnahme von Marktelementen in die Organisation, auch für Disziplinierungszwecke). Beide Arten können für die zwei Großkirchen nachgewiesen werden. Seit den 60er Jahren kann eine immer säkularer werdende Selbstbeschreibung der Kirchen gezeigt werden - bis hin zur Metapher von der Kirche als Unternehmen. Der neoliberale Einfluss betrifft sogar den Bereich der Theologie selbst - z.B. die Strategien theologischer Legitimation. Schlamelcher diskutierte die Gründe, die gegen eine strukturelle Ökonomisierung der Kirchen sprechen, und den strukturellen und finanziellen Handlungsdruck, dem sie ausgesetzt sind. Als Formen einer externen Ökonomisierung wurde u.a. genannt: die Transformation von Herrschafts- zu Anbieter-Kunden-Beziehungen, der Wandel von der Seelsorge zur Selbstsorge, die Professionalisierung der Mitgliederorientierung bis hin zu Marketingtechniken. Die Hauptfolge sei eine Erosion der traditionellen Sozialform Gemeinde, durch die vielfältigen Formen der internen Ökonomisierung (v.a. eine Prekarisierung der Angestellten und einem qualitativen Niedergang der Seelsorge).

Jakob Kapeller und Jakob Huber zeigen in ihrem Beitrag Politische Paradigmata und neoliberale Einflüsse, wie sozialdemokratische Parteien in Europa auf die neoliberale “Großideologie” reagiert haben. Ihr Material sind Parteiprogramme von vier Ländern (Österreich, Deutschland, der Schweiz und Großbritannien ab Beginn der 80er Jahre, sie werden einer mehrdimensionale Skala politischer Attitüden - ihr Inhalt sind Aussagen über den Menschen, den Markt und den Staat – zugeordnet). Alle Fälle dokumentieren die Deutungshoheit neoliberaler Begriffe, in wachsendem Ausmaß, und das Fehlen alternativer Sichtweisen in Bezug auf „den Markt“, selbst in sozialdemokratischen Parteiprogrammen.

Beatrix Bendeder fundiert ihren Beitrag Gestresste, aber glückliche Familienmanagerin. Work-Life-Balance als neoliberales Konzept. Zum Bild der berufstätigen Mutter in der Frauenzeitschrift ‚Woman’ mit den Gouvernamentalitätsstudien, die sich aus den Ansätze von Foucault entwickelt haben. Die neoliberale Gouvermentalität fasse „den Markt“ als Ort der Wahrheit auf, die politische Ökonomie werde zur Leitdisziplin. Auf der Ebene der Person äußert sie sich in dem Anspruch, jede solle zur „Unternehmerin ihrer selbst“ werden. Bender beschreibt diesen Prozess  im Übergang von der „Hausfrau“ zur „Familienmanagerin“ mit Bild- und Textbeispielen aus der Zeitschrift „Woman“.

Katrin Hirte beschreibt in ihrem Vortrag Der hegemoniale Artikulationsprozess in der Agrarpolitik. Struktur, Prozesse und Wirkungen ausführlich den Diskurs in der Agrarpolitik Deutschlands. Sprachliche Elemente sind ein Dualismus von Theorie und Praxis, Kennzeichen sind u.a. elitär, theorielos, mystifizierend, ein Rückzug aus der Verantwortung. Hirte erklärt die Bilder und diskursiven Strategien, die hier zum Einsatz kommen (letztere sind: Kompatibilität zu schon Bestehendem, Widerspruchsfreiheit zum aktuellen Paradigma und Erfüllen des Neuheitsanspruchs). Die Agrarpolitik werde von Agrarökonomen dominiert, denen es gelingt, mit einer Theorie, die Regulierungen ablehnt, jede Art von Regulierung gut zu heißen: eine „Regelung im Namen der Nichtregelung“.

Die restlichen Beiträge widmen sich einer Kulturgeschichte des neoliberalen Denkens, Theorien und Epochen, die für seinen Durchbruch entscheidend gewesen sind, werden unter vielfältigen Einflussfaktoren beleuchtet.

Sylvie Geisendorf spricht über die ersten Neoklassiker - insbesondere Walras und Jevons. Sie hätten ein falsches Fundament für ihren Ansatz gewählt („The irrational foundations of economics. Why neoclassical economists choose the wrong theory from physics”;) nämlich die Physik des 18. und 19. Jahrhunderts - spezifiziert in der “rationalen Mechanik”. Dies könne man auf eine zweifache Weise formal angehen: mit Hamiltons Prinzip der kleinsten Wirkung und mit den Bewegungsgesetzen von Newton. Die Ökonomie habe sich auf den ersteren gestürzt, dabei aber übersehen, dass diese nur die Effekte von Bewegungsphänomen beschreiben, nicht aber die Ursachen, sie hat die funktionale Erklärung mit der ursächlichen verwechselt.

Michael Kraft erörtert in seinem Beitrag Das ideologische Element der Methodologie. Zur Instrumentalisierung (absoluter) methodologischer Standards am Beispiel Milton Friedmans „Angriff“ auf den Keynesianismus wichtige kulturhistorische Aspekte im Kampf der Neoliberalen gegen Keynes. Zum einen wird mittels der Methodologie von Friedman eine wertfreie Sphäre „objektiver Wissenschaft“ geschaffen, zum anderen wurde durch die Absolutsetzung individualistischer Freiheit die Basis für eine normative Markt-Propaganda geschaffen, Friedmans theoretische und populären Schriften sind dazu ein guter Beleg. Kraft erklärt die innere Kohärenz dieser scheinbar widersprüchlichen Position und ihrer soziologischen Dimension, vor allem in der Etablierung des Netzwerkes um die Mont Pèlerin Society, an dem Friedman aktiv beteiligt war.

Claus Thomasberger untersucht in seinem Beitrag Gesellschaftliche Freiheit versus Diktatur der Ökonomie: Drei Ansichten neoliberale Freiheitskonzeptionen, die in der Propaganda eine große Rolle spielen. Er stellt die „optimistische“ Interpretation des ursprünglichen Utilitarismus der „pessimistischen“ marktradikalen Variante gegenüber, in der die wirtschaftliche bzw. gesellschaftliche Ordnung nicht als Resultat menschlicher Zielsetzungen angesehen wird.  Dies bedeutet auch ein autoritäres Konzept vom Staat mit einer eingeschränkten Demokratie. Thomasberger sieht die Diskrepanz der beiden Freiheitskonzepte als unlösbares Scheinproblem an und schlägt als dritte Variante vor, Werte als regulative Ideen anzusehen, die zur Realität notwendigerweise in Widerspruch stehen müssen. Eine solche Sichtweise erlaube es, reale Unfreiheiten aufzuspüren und zu kritisieren. Diese Ansicht wird dem neoliberalen Freiheitsbegriff im Detail gegenübergestellt und am Schluss die Ansicht entwickelt, die Aufklärung sei ein offenes und noch unvollendetes Projekt.

Walter Ötsch beschreibt in seinem Beitrag Markt-Computer-Wesen. Zum Akteurs- und Markt-Begriff der Neoklassik und ihrer Anwendung in mikroökonomischen Lehrbüchern, dass in der allgemeinen Gleichgewichtstheorie (sie dominiert die Lehrbücher) der Mensch wie ein Computer modelliert wird. Dies kann geschichtlich (die Anfänge dieser Theorie sind mit der Geschichte der Erfindung des Computers verschränkt) und analytisch anhand von vielen Aspekten der Theorie nachgewiesen werden. So kann man das Konzept der Präferenzen als gegebene Software des „Computer-Menschen“ interpretieren und auf diese Weise sich die zum Teil kontrafaktischen Annahmen „verständlich“ machen. Auch die reduzierte Sicht auf die Firma, die nur noch als technische Input-Output-Relation in Erscheinung tritt, folgt zwingend aus der Computer-Betrachtung der Theorie. Zuletzt aber muss „der Markt“, der zentrale Begriff im neoliberalen Diskurs, als eigener Computer in das Modell eingehen - eine Einheit, für die es keine Entsprechung in der Realität gibt. „Der Markt“ kann auf diese Weise als Phantom gesehen werden, am Schluss des Vortrags wurde auf seine diskursive Verwendung im Alltag aufmerksam gemacht, die „den Markt“ gleichsam religiös überhöhen.


2.9. Der neoliberale Markt-Diskurs. Zur Kulturgeschichte ökonomischer Theorien im Alltagsdiskurs

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For quotation purposes:
Walter Ötsch: Sektionsbericht 2.9.: Der neoliberale Markt-Diskurs. Zur Kulturgeschichte ökonomischer Theorien im Alltagsdiskurs - In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 17/2008. WWW: http://www.inst.at/trans/17Nr/2-9/2-9_sektionsbericht17.htm

Webmeister: Branko Andric     last change: 2010-06-04