TRANS Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 17. Nr. Februar 2010

Sektion 3.10. Komparatistik und Weltliteratur in der Epoche der Globalisierung
Sektionsleiterin | Section Chair: Mária Bieliková (Matej-Bel-Universität Banská Bystrica, Slowakei)

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Zum Phänomen des Fremden im Werk Hermann Hesses

Mária Bieliková (Matej-Bel-Universität Banská Bystrica, Slowakei) [BIO]

Email: miabielikova@hotmail.com

 

Einleitung

Der Beitrag behandelt das Thema des Fremden im Werk Hermann Hesses, des Nobelpreisträgers für die Literatur im Jahre 1946. Zusammen mit Thomas Mann gehört er zu bekanntesten und beliebtesten deutschen Dichter des 20. Jahrhunderts.

Das gesamte Hesses Schaffen ist vor allem durch die Toleranz und Humanität geprägt. Das Positive der verschiedenen Kulturen und Religionen zusammenzuführen war von jeher Hesses Anliegen; gerade dieses Anliegen hat ihn in die Lage versetzt, ein Werk zu schaffen, das keine Trennung zwischen dem Artistischen und Sozialen, dem Ethischen und Ästhetischen, dem Fremden und Eigenen zuließ. Er respektierte die Autonomie der Nationen und wurde zum Vermittler fernöstlicher Weisheit im Westen.

Das Phänomen des Fremden im Schaffen Hermann Hesses bildet vor allem der alt-asiatische Geist. Im Mittelpunkt seines Interesses stehen erst die indische, dann die chinesische Denk- und Lebensart.

Dieser Beitrag ist Bestandteil einer wissenschaftlichen Studie über die Nicht-Europäischen fernöstlichen Elemente  im Werk Hermann Hesses – über den Einfluss der chinesischen Geistigkeit auf sein Schaffen. Zu Beginn dieser Vorlesung noch ein paar Worte zum Phänomen des Fremden, auch wenn wir dieses Thema nicht rein akademisch abhandeln können.

 

1. Das Fremde als Grundbegriff Interkultureller Literaturwissenschaft 

Wahrnehmung des Fremden ist innerhalb der letzten Jahrzehnte zu wichtigem Forschungsfeld der Literaturwissenschaft geworden. Zum Thema wurden Alterität und Interkulturalität. Vor allem die Interkulturelle Literaturwissenschaft hat sich in der Entwicklung einer interkulturellen Hermeneutik sehr stark mit der Entgegensetzung von Fremdem und Eigenem beschäftigt. Alterität wird also wesentlich im Begriff Fremde gefasst. Fremde wurde zu einem forschungsleitenden Begriff, da er die Relation von Nähe und Distanz markiert. Er ist mit jener topografischen Veränderung konnotiert, die für Interkulturalität konstitutiv ist. Laut Grimm´schem Wörterbuch verbinden sich mit dem Wort fremd  zwei Hauptvorstellungen: das von Fernher-Sein und das Nicht-Eigen-Sein, das Nicht-Angehören. Fremdheit ist also ein konfliktreicher sozialer Status, bei dem zwei Partner sich darüber verständigen, wer „zu Hause“ und wer „in der Fremde“ ist.

Für die Untersuchung von literarischen Texten unter interkulturellen Fragestellungen ist die Differenzierung zwischen Eigenem und Fremdem in Kategorien des Raums und der Bewegung im Raum relevant. Das Fremde bezeichnet das Unerkennbare und Unfassbare, das transzendente Außen, das Metaphysische, Ekstatische, das, was dem Denken und Fühlen prinzipiell unzugänglich ist. Das Fremde als das noch Unbekannte bezieht sich auch auf die Möglichkeit des Wissens und Kennenlernens.

Wie gezeigt wurde, ist das Phänomen des Fremden für die Literatur operationalisierbar. Viele Definitionen von Fremdheit rühren aus  der prinzipiellen Unverfügbarkeit anderer Menschen. Vom kulturellen Verstehenskontext ist nämlich stets kommunikative Situation abhängig. In der Komunikationssituation kann die Verstehensillusion nicht aufgebaut werden, weil Verstehen nur über einen interkulturellen explikativen Diskurs möglich ist. 

Seit den 1980er Jahren entwickelte sich in den Literaturwissenschaften die Fragestellung nach den literarischen Konstitutionsbedingungen der Beschreibung fremder Kulturen. Dies untersuchte vor allem die narrativen Entwürfe der Begegnung mit dem Fremden in fiktionalen Texten. Das Schaffen Hermann Hesses bildet ein Beispiel dafür, dass unterschiedliche Mentalitäten unterschiedliche Wahrnehmungsformen von Kulturen präformieren.

1.1. Die Begegnung mit dem Fremden

Verfremden und Verstehen –  zwei Begriffe, die eng mit unserem Thema zusammenhängen. Begriff Verstehen fällt methodologisch in die Kompetenz der Hermeneutik, Verfremden dagegen ist eines der Kunstkonzepte der Avantgarde, unter Brecht-Kennern etwa als „V-Effekt“ geläufig. Und die Fremdheit gehört entweder der Domäne der Hermeneutik oder der Kunst. Dabei gibt es dort, wo man verstehen glaubt, weiterhin Fremdheit. Der humanistisch Gebildete kann an diesen Satz denken: „Nichts Menschliches ist mir fremd.“ Der Satz lässt sich auch in Gegenrichtung lesen: „Wirklich fremd kann nur das Menschliche sein.“ Man muss unter die Menschen gehen, um Fremde unter Fremden zu treffen.

Was geschieht eigentlich, wenn etwas Unbekanntes oder Unverständliches als fremd wahrgenommen wird? Vor dem Hintergrund rassistischer Hassausbrüche, wie sie auch in Deutschland schon seit Jahren zum unfassbaren Tagesgeschehen gehören, kommt der Debatte um interkulturelle Begegnungen eine enorme politische Bedeutung zu. Es scheint, mit dem Begriff des Fremden immer noch vorwiegend eine Ablehnung,  mindestens aber eine Abwehr oder Scheu verbunden zu sein.

Andererseits ist ebenso zu übersehen, dass sich im Bedeutungsmerkmal des Fremden ein Wunsch, sogar eine Sehnsucht nach dem Anderen ausdrückt. Beide Affekte produzieren sich sozusagen gegenseitig. Die Einsicht in diesen Mechanismus von Wunsch und Abwehr hat gerade der Philosoph Martin Heidegger zusammengefasst: „Denn in der Scheu ist zuvor eine Zuneigung zum Gescheuten, deren Vertrautheit sich im Fernbleiben verhüllt und ihr Fernes nah hat, indem sie zu ihm hinüber staunt. (…) Die Scheu entspringt und erwacht nur dort, wo ein Fernes erscheint, dem allein die anfänglich Entfernten eigentlich zugehören. Dieses Ferne zeigt sich zunächst als das Fremde. Dieses befremdet. Aber die Scheu ist nicht Scheu vor dem Befremdlichen, sondern vor dem Eigenen und fernher Vertrauten, das im Fremden als dem Fremden zu leuchten beginnt.“

Im Fremden setzen wir uns also mit dem Eigenen auseinander. Selten ist Heidegger seinen poststrukturalistischen französischen Adepten näher, als mit der Einsicht in diese Ambivalenz. Fremde sind  wir uns selbst, lautet dann Julia Kristevas Variation dieser Erkenntnis.   

 

2.  Hesses  Einstellung  gegenüber  fremden  Kulturen

Hermann Hesses Werk ist von einer Relativierung des Eurozentrismus bestimmt. Er setzt sich mit dem Fremden ohne Überlegenheitskomplex auseinander. Sein Weg führt ihn weg von der zeitgenössischen deutschnationalen Kultur, die das Eigene verherrlichte und das Fremde verteufelte. Nach dem Ausbruch des ersten Weltkriegs hat er die deutsche Intelligenz aufgefordert, Brücken zwischen verschiedenen Kulturen zu suchen. Im Klima der Verachtung für die fremden Kulturen bezieht Hesse eine eindeutige, aber isolierte Position, die er nie mehr in seinem Leben aufgegeben hat. Diese Stellungnahme bewirkte seine Isolation innerhalb der deutschen Kultur, für die das Denken des Fremden unverständlich und unzugänglich war. Hesse hat das Unzugängliche zugänglich gemacht, er hat das Eigene in der Alterität erkannt und das in uns verborgene Fremde enthüllt.

Mit seinem Werk gibt er uns die Aufgabe, hinter allem Trennenden das Gemeinsame zu suchen. Die interkulturelle Literaturwissenschaft sieht in diesem christlich erzogenen Europäer den frühen Exponenten eines globalen Bewusstseins. Hesse ist wirklich eine herausragende interkulturelle Orientierungsfigur, deren Denken und Schaffen Impulse zu einem kulturellen Ethos vermittelt.

 2.1. Hesses Verarbeitung chinesischer Motive

Hermann Hesse gehört zu den Dichtern, die China zum Gegenstand einzelner Werke gemacht haben. Er ist aber einziger Schriftsteller, der chinesisches Denken und Philosophie, also eine adäquate Verarbeitung der chinesischen Denkungsart in das eigene literarische Werk eingeführt hat. Hesses lebenslange Beschäftigung mit der chinesischen Philosophie gehört zu den zentralen Elementen seines Lebens und Werkes und möglicherweise ist ein Schlüssel zu dessen Interpretation.

Hesses erste Begegnung mit China fällt in das Jahr 1905. Dieses fernöstliche Land bedeutete für ihn immer chinesische Literatur und Philosophie.

Seine chinesischen Studien beschränken sich nicht nur auf die philosophische Literatur, sondern reichen in die Volksmärchen und Lyrik Chinas hinein. Also nicht nur die Schriften der altchinesischen Denker (der Gedanke der Polarität), aber auch die chinesische Literatur beeinflussten sein künstlerisches Modell.

 2.2.  Chinesische Motive in der Epik Hesses

Das Besondere an der Verarbeitung Chinas in Hesses Werk ist, dass dies unterschwellig, sozusagen in der zweiten Ebene erfolgt. So sind zwar in zahlreichen Werken direkte Bezüge zu China nachweisbar, doch der Einfluss der chinesischen Philosophie ist auch in anderen Dichtungen herauszulesen, in denen mit keinem Wort Bezug auf China genommen wird. Es ließe sich so eine Interpretation des Gesamtwerkes unter dem Aspekt der chinesischen Gedankenwelt anstrengen, wie dies auch Adrian Hsia versucht hat. In dem vorliegenden Überblick ist dies nur ansatzweise und vor allem stichpunktartig möglich.

Der Dichter (1914), Das Haus der Träume  (1920),  Der schwere Weg (1917),  Iris (1918),  Piktors Verwandlungen (1921):

Verarbeitung daoistischer Gedanken ohne direkte Erwähnung Chinas:

  1. Demian (1919)
  2. Klingsors letzter Sommer (1920)
  3. Siddhartha (1922)
  4. Kurzgefaßter Lebenslauf (1925)
  5. König Yus Untergang (1929)
  6. Narciß und Goldmund (1930)
  7. Die Morgenlandfahrt (1932)
  8. Das Glasperlenspiel  (1943) – s. weiter
  9. Chinesische Legende (1959)
  10. Offener Brief von Josef Knecht an Carlo Ferromonte (1960)

2.3. Chinesische Einflüsse im Siddhartha

Hesse nennt Siddhartha zwar eine indische Dichtung, betont aber immer wieder, dass die darin transportierten Gedanken eher auf der chinesischen Philosophie beruhen. Einem Freund berichtet er 1922 von seiner Dichtung, die von Brahman und Buddha ausgeht und bei Dao endet. Im gleichen Jahr schreibt er:

[…] Mein Heiliger ist indisch gekleidet, seine Weisheit steht aber näher bei Lao-Tse als bei Gotama… Der Schluß des „Siddhartha“ ist beinahe mehr daoistisch als indisch.[…]

Das Buch Siddhartha bezeichnet Hesse schließlich gar als einen Ausdruck meiner Befreiung vom indischen Denken.

Siddharthas Erleuchtungsweg führt über Meditation, sinnliches Leben, zum Dao durch die wortlose Lehre des Flusses und des Fährmannes, nicht durch die theoretische Lehre Buddhas. Im alten Fährmann porträtiert Hesse unverkennbar den Typ des chinesischen Weisen nach dem Vorbild des Laozi. Fluss und Fährmann symbolisieren das daoistische Prinzip Wu-wei: Handeln durch Nicht-Handeln.

Im zweiten Teil des Buches finden sich zahlreiche Anspielungen auf daoistische Sprüche und Anklänge an die Gedanken Laozi und Zhuangzi, z.B.:

Dass der Daoismus, namentlich die Schriften des Laozi und Zhuangzi, Hesses Siddhartha stark beeinflusste, ist auch am Enstehungsprozess des Buches abzulesen. Für alle Bücher Hesses gilt, dass sie seelische und geistige Entwicklungen verarbeiten, die dar Autor selbst zuvor durchlebt hat. Wie bei kaum einem zweiten Buch ist dies im Siddhartha abzulesen. Nachdem der erste Teil des Buches vollendet war, stockte der Schaffensprozess, weil ein Stück Entwicklung darin gezeigt werden müsste, das ich selbst noch nicht zu Ende erlebt habe, wie Hesse in einem Brief 1920 schrieb. Gerade in dieser Zeit beschäftigte sich Hesse intensiv mit dem Daodejing und anderen daoistischen Texten, was durch zahlreiche Äußerungen in den Jahren 1920 bis 1922 belegt ist. Erst nach dieser Beschäftigung und inneren Aneignung der daoistischen Gedankenwelt konnte er den zweiten Teil des Buches vollenden, der denn auch zahlreiche Anklänge an den Daoismus aufweist.

Vereinfachend könnte man sagen, der Siddhartha zerfällt in einen indischen ersten und einen chinesischen zweiten Teil. Gestützt wird diese Aussage auch durch die Widmungen, die Hesse beim Erscheinen des Buches vergab. Der erste Teil ist Romain Rolland gewidmet, dem französischen Schriftstellerfreund, dem Hesse eine meiner wertvollsten persönlichen Verbindungen mit dem modernen Indien verdankt. Der zweite Teil ist dem Vetter Wilhelm Gundert gewidmet, der als Japanologe und Chinakenner dem Dichter die geistige Welt Ostasiens nahgebracht hat.

2.4. Chinesische Einflüsse in Das Glasperlenspiel

Das Glasperlenspiel wird vollkommen gespeist von den chinesischen Einflüssen. Daoismus, Konfuzianismus und das Yi-jing werden gleichermaßen verarbeitet. Im Gegensatz zu früheren Schriften Hesses wird hier der Konfuzianismus stärker betont:

Durch den Fortgang der Handlung (Abschied Knechts von Kastalien, Verlassen der Gemeinschaft) wird diese Betonung des Konfuzianismus jedoch wieder relativiert.

Trotz der starken Verarbeitung Chinas ist Das Glasperlenspiel aber kein chinesisches Buch. Es ist ein durch und durch europäisches Werk, in dem die geistigen Strömungen Europas, Indiens und Chinas zu einer Synthese verarbeitet werden. Hesse stellt hier dichterisch seinen Grundsatz dar, dass alle Kulturen auf die gleichen Erkenntnisse hinauslaufen.

Das Glasperlenspiel ist der Inbegriff des Geistigen, sublimer Kult und Dienst. Es ist ein geistiges Spiel mit Assoziationen.

Das Glasperlenspiel ist also ein Spiel mit sämtlichen Inhalten und Werten unserer Kultur, es spielt mit ihnen, wie etwa in den Blütezeiten der Künste ein Maler mit den Farben seiner Palette gespielt haben mag. (WA 9, S. 12)

Die wesentlichen Grundlagen sind die Musik und die Mathematik. Hinzu kommen alle Künste und Philosophien. Der Sinn des Spiels ist die Erlangung der Einheit, des Dao; die Darstellung des Prinzips Dauer im Wechsel. Das Spiel stellt den Mikrokosmos dar, der den Makrokosmos enthält. Im Mittelpunkt des Spiels steht eine ideographische Universalsprache,

welche ähnlich der alten chinesischen Schrift es erlaubt, das Komplizierteste ohne Ausschaltung der persönlichen Phantasie und Erfinderkraft in einer Weise graphisch auszudrücken, welche allen Gelehrten der Welt verständlich wäre. (WA 9, S. 36)

Die Zeichen dieser Sprache sind:

Alle dies sind die wesentlichen Merkmale der chinesischen Schrift. Das Spiel basiert auf den Wandlungsgesetzen des Yi-jing. Hesses Urteil über das Yi-jing: Ein System von Gleichnissen für die ganze Welt. Aus einem Symbol wird durch Verwandlung ein anderes, werden neue Verknüpfungen hergestellt. Eben dies ist das Prinzip des Buchs der Wandlungen.

Der Musikmeister

Der Musikmeister  ist neben Josef Knecht die Hauptperson des Romans. Er ist die Verkörperung des daoistisches Ideals, er personifiziert den daoistischen Heiligen wie der Fährmann im Siddhartha. Dies geschieht jedoch ohne jede China-Attitüde, ohne Erwähnung Chinas im Zusammenhang mit seiner Person. Der Musikmeister ist durch und durch europäisch, hat aber China geistig assimiliert.

Der Musikmeister erhält als einziger im Roman keinen Namen, obwohl gerade in diesem Roman die Namen eine besondere Rolle spielen. Das spielt an auf die ersten Worte des Daodejing: Das Dao, das benannt werden kann, ist nicht das ewige Dao.
Seine Eigenschaften sind: schweigsam, würdevoll, bescheiden, zurückgezogen, Ruhen in sich selbst, Verkriechen in der Gesellschaft. Dies erinnert an die Verse des Laozi:

„Ein großer Aufrechter scheint wie krumm, ein großer Könner scheint wie dumm, ein großer Redner stockt wie stumm.“

Er lehrt nicht die Weisheit, sondern er verkörpert sie und gibt sie so durch sein Beispiel weiter, ähnlich wie die Zen-Mönche. Der Musikmeister verkörpert das Prinzip des Nicht-Handels. Nur durch seine Existenz bewirkt er etwas in Knecht. Der Musikmeister verbildlicht den Spruch 47 des Laozi:

Ohne das Tor zu verlassen,
kannst du das Erdreich erfassen;
Ohne durchs Fenster zu spähn,
den weg des Himmels sehn.
Je weiter wir hinausgegangen,
desto geringer wird unser Verstehn.

Deshalb der Heilige Mensch:
Ohne zu wandeln, versteht er;
Ohne zu sehn, benennet er;
Ohne zu tun, vollendet er.

Der Musikmeister ist das Paradebeispiel dafür, wie Hesse chinesisches Gedankengut in sein Werk einwebt. Er ist die chinesischste Person in Hesses Roman, doch im gesamten Buch gibt es nicht ein Wort, das im Zusammenhang mit seiner Person auf China anspielt.

Der Ältere Bruder

Der ältere Bruder ist ein Student, der sich aus dem Studienhaus in Kastalien zurückgezogen hat, weil es ihm dort zu streng konfuzianisch zuging. Er lebt als Eremit, betreibt Meditation, kalligraphiert, liest Zhuangzi, beschäftigt sich mit dem Yi-jing, hat einen chinesischen Garten angelegt, kleidet sich chinesisch. Er ist die Verkörperung des daoistischen Eremiten außerhalb der Gesellschaft.

Der ältere Bruder ist Europäer und wird vollkommen zum Chinesen, mit sämtlichen chinesischen Eigenschaften. Er führt das aus, was Hesse Zeit seines Lebens immer ablehnte: die eigene Kultur über Bord werfen, um sich eine andere anzueignen. Deshalb ist es auch ein krasses Fehlurteil, wenn zuweilen geäußert wird, der ältere Bruder sei ein Selbstbildnis Hesses, wenn auch die Beschreibung der körperlichen Eigenschaften dieses Menschen stark an Hesse erinnern. Knecht sieht dieses Leben als Flucht und vor dem Hintergrund von Hesses Weltanschauung muss man den Älteren Bruder eher als eine Karikatur auffassen. Der Ältere Bruder pendelt nicht mehr zwischen den Lebenspolen hin und her, für ihn gilt nicht mehr das Hessesche sowohl-als auch, er hat sich für eine Seite entschieden.

Der Yi-jing-Symbolkreis

Die chinesische Philosophie bildet nicht nur eines der Themen im Glasperlenspiel, sie hat auch Gestaltungsfunktion. Die gesamte innere Handlung des Buches kann durch einen Symbolkreis aus Yi-jing-Orakeln dargestellt werden. Dies beruht nicht auf einer Spekulation, sondern war offenbar von Hesse so angelegt, was selbst eine Glasperlenspielerei Hesses war.

a. Beim Älteren Bruder

Der Chinese zieht das Orakel Mong (Hex.4) Jugendtorheit.
Das Bild:

Quelle füllt den Abgrund aus: Vorteil

Das Zeichen besteht aus Berg (Symbol des Konfuzianismus) und Wasser (Symbol des Daoismus).
Das Urteil zu diesem Zeichen lautet:

Jugendtorheit hat Gelingen. Nicht ich suche den jungen Toren, der junge Tor sucht mich. Beim ersten Orakel gebe ich Auskunft. Fragt er zwei-, dreimal, so ist das Belästigung. Fördernd ist Beharrlichkeit.

Hesse stellt dieses Urteil erzählerisch dar. Knecht lernt, mit dem Yi-jing umzugehen und will das Yi-jing in das Glasperlenspiel einzubauen.

Der Ältere Bruder: Einen hübschen kleinen Bambusgarten in die Welt hineinsetzen, das kann man schon. Aber ob es dem Gärtner gelingen würde, die Welt in sein Bambusgehölz einzubauen, scheint mir doch fraglich.

Im Anschluss an seinen Besuch beim älteren Bruder wird Knecht in den Orden aufgenommen.

b. Reise ins Kloster

Knecht soll in ein Benediktinerkloster reisen. Er zieht zuvor ein Orakel. Heraus kommt das Hex. 56 Lü, Der Wanderer mit einer 6 auf dem 2. Platz (was Hesse ausdrücklich betont), d.h. mit einem dynamischem Strich an der zweiten Stelle von unten.

Das Bild:

Berg (Konfuzianismus) steht still, Feuer (Geist) steigt hoch.

Dieses Bild gibt einen Hinweis auf die intellektuellen Debatten im Kloster.

Das Urteil für den dynamischen Strich (Hex. 56: 6 auf 2. Platz) lautet:

Der Wanderer kommt zur Herberge. Er hat seinen Besitz bei sich. Er erlangt eines jungen Dieners Beharrlichkeit.

Knecht hat seinen Besitz (sein Wissen über die chinesische Philosophie) bei sich. Tatsächlich stößt er auf einen Diener (Anton) lernt durch ihn Pater Jakobus (Vorbild Jakob Burckhardt) kennen. Knecht erfährt durch Diskussionen mit diesem Pater eine Änderung seines Weltbildes; Kastalien rückt aus dem Zentrum heraus. Knecht lehrt den Abt des Klosters das Yi-jing. Durch die Vorgabe des wandelbaren Striches auf dem 2. Platz entsteht ein neues Zeichen.

c. Übernahme des Magister-Ludi-Amtes

Es entsteht das Hex. 50 Ding Der Tiegel (neben dem Brunnen das einzige Symbol im Yi-jing, das durch Menschen geschaffen ist). Tiegel – Opferkessel – als Sinnbild des Geistigen, der Kultur. Der Tiegel bedeutet das Aufnehmen des Neuen.

Das Urteil:

Der Tiegel. Erhabenes Heil. Gelingen.

Das Bild:

Über dem Holz ist Feuer: das Bild des Tiegels. So festigt der Edle durch Richtigmachung der Stellung das Schicksal.

An dieser Stelle werden im Roman Leben und Schicksal in Einklang gebracht. Das Schicksal vollzieht die Änderung, führt die Knecht schon prädestiniert ist. Im Text wird immer wieder auf die thematische Bedeutung des Tiegels indirekt hingewiesen: Knecht macht sich zum Werkzeug, er steht im Feuer und wird ausgeglüht. Er ist der Glasperlenspielmeister, der vom Ernst und von der Strenge seines Amtes umgeben und abgeschlossen ist wie von einer glänzenden Glasur, die im Feuer um ihn gegossen und erstart ist.

Nach einigen Jahren überfällt Knecht Amtsmüdigkeit. Der Einklang zwischen Leben und Schicksal ist verlorengegangen, was im Text subtil angedeutet wird.

Das Urteil (Hex. 50 9 auf 3. Platz):

Der Henkel des Tiegels ist verändert. Man ist behindert in seinem Wandel. Das Fett des Fasans wird nicht gegessen. Wenn erst der Regen fällt, dann erschöpft sich die Reue. Endlich kommt Heil.

Knecht tritt aus Kastalien in die Welt hinaus und wird Lehrer an einem einzelnen Schüler. Die Betonung des Lehrens ist konfuzianisch. Knecht erinnert sich an das Gedicht Stufen, das er als Student während seiner Beschäftigung mit dem Yi-jing geschrieben hat. Es kommt zur Lösung der inneren Spannung: Orakel.

Wenn der Regen fällt, erschöpft sich die Reue. Endlich kommt Heil.

Knecht bejaht das eigene Schicksal, er fügt sich in die größere Ordnung ein.

d. Knechts Tod im See

Der Schluss des Romans wurde von den meisten Kritikern falsch oder gar nicht verstanden. Tatsächlich lässt sich gerade das Ende Knechts aus der Welt des Yi-jings heraus erklären. Knecht ist mit seinem Schüler Tito an einem Bergsee und folgt ihm im eiskalten Wasser und ertrinkt.

Das Bild des Ertrinkers:

Berg (Konfuzianismus) liegt im Hellen (Yang); Wasser (Daoismus) liegt im Dunkeln und Abgründigen (Yin); die Sonne (Feuer) steigt über das Wasser. Das eisige Wasser umfasst ihn mit lodernden Flammen, nach aufwallendem Brennen dringt die Kälte in ihn ein. Die gesamte Schlussszene wird von den Begriffen Feuer (Sonne) und Wasser bestimmt (auch sprachlich).

Dem Bild Feuer überm Wasser entspricht das Hex. 64 We Dsi Vor der Vollendung. (Dieses Hexagramm entsteht aus dem vorigen Hex. 50 Tiegel bei Veränderung des 3. Platzes)

Kommentar zum Urteil:

Die Verhältnisse sind schwierig. Die Aufgabe ist groß und verantwortungsvoll. Es handelt sich um nichts Geringeres, als die Welt aus der Verwirrung in die Ordnung zurückzuführen. Dennoch ist es eine Aufgabe, die Erfolg verheißt, da ein Ziel vorhanden ist, das die auseinanderstrebenden Kräfte zu vereinen vermag. (Richard Wilhelm: Yi-jing, S. 233)

Es geht um die Ordnung der Verwirrung in Tito. Dem Gang der Handlung entspricht das Urteil für Hexagramm mit einem dynamischen Strich auf der 4. Stelle von Unten:

Urteil (9 auf 4. Platz)

Beharrlichkeit bringt Heil. Reue schwindet. Erschütterung, um das Teufelsland zu züchtigen. Drei Jahre lang gibt es Belohnungen mit großen Reichen.

Der Text bezieht sich jetzt auf Tito. Die Reue schwindet, erfühlt die Kraft, den Weg im Sinne Knechts zu gehen. Er bringt Ordnung ins Chaos seines Lebens. Der Tot Knechts stellt so mit das Prinzip des Lehrens durch Nicht-Handeln dar.

e. Entwicklung Titos

Durch die Änderung des Striches auf dem 4. Platz entsteht aus dem Hex. 64 wieder das Zeichen Mong Jugendtorheit. Dieses Orakel bezieht sich jetzt auf Tito.

Hesse versteht diese Entwicklung als Spirale. Der Symbolkreis schließt sich zwar, die Entwicklung beginnt aber neu auf einer höheren Stufe. Das Glasperlenspiel ist wohl das bisher einzige erzählerische Werk des Westens, in dem die chinesische Gedankenwelt wirklich verarbeitet wurde, durch tiefes Durchdringen, ohne Chinoiserien. Unter dem Gesichtspunkt des Chinesischen ist Das Glasperlenspiel, das bemerkenswerteste und aufregendste Buch der deutschen, wenn nicht der Welt-Literatur.

 

3    Transkultureller Ausblick

3.1.  Die Hesse-Forschung bezüglich der chinesischen Geistigkeit

Über Hesses Verhältnis zu Ostasien gibt es mittlerweile verschiedene Veröffentlichungen. Während die frühere Forschung in Hesses Beziehung zum Osten vor allem die Einflüsse indischer Geistigkeit untersucht hatte, wobei chinesische Elemente nur am Rande erwähnt worden waren(1), hat sich die spätere Forschung vermehrt diesem Thema gewidmet. Eine der ersten umfangreichen Untersuchungen dazu gibt der Koreaner Lee Inn-Ung in seiner Dissertation Ostasiatische Anschauungen im Werk Hermann Hesses.(2) Lee kommt zu dem Ergebnis, „dass Hesse in sein Werk sehr viel Ostasiatisches aufgenommen und in ihm verarbeitet hat, und dass auch die in seiner Dichtung aufzufindende Lebens- und Weltanschauung stark vom ostasiatischen Geist beeinflusst ist“.(3) Angesichts der zahlreichen Bekenntnisse Hesses zur ostasiatischen Geistigkeit, sowohl in seinen Dichtungen, als auch in Rezensionen, Aufsätzen und Briefen, erscheint es allerdings unverständlich, wenn Lee fortfährt:

Der durchschnittliche abendländische Leser steht Hesses Aufnahme der östlichen Geisteswelt zunächst recht hilflos gegenüber; Hesse unterlässt nämlich nicht nur alle Quellenangaben, sondern vermeidet in der Regel sorgfältig jeden Hinweis auf die Quelle seines Wissens und seiner Philosophie. So verfährt er aber nicht nur mit ostasiatischem Gedankengut, sondern auch mit all den Vorstellungen, denen er, der Vielbelesene, im Laufe seines Lebens begegnete.(4) 

Beachtung fand Lees Untersuchung in der Weiteren Hesse-Forschung kaum, wurde erstaunlicherweise in weiteren Arbeiten zu diesem Thema auch nicht erwähnt. Die umfangreichste und bedeutendste Veröffentlichung, die Hesses Verhältnis zur ostasiatischen Geistigkeit untersucht, ist Hermann Hesse und China von Adrian Hsia.(5) Der Autor gibt ausführliche Darstellungen und Interpretationen zum Einfluss chinesischer Geistigkeit auf Hesse, vertritt dabei jedoch einen betont chinesischen Standpunkt. Hsias Arbeit bleibt aber ohne Zweifel Ausgangspunkt für alle weiteren Untersuchungen zu diesem Thema. Auch Ursula Chi bezieht sich in ihrem Buch, das eine Vielzahl von chinesischen Einflüssen in Hesses Glasperlenspiel nachweist, auf Hsia. Ihre Interpretation weicht von der Hsias zum Teil allerdings erheblich ab.(6)

In der Folge beriefen sich weitere Veröffentlichungen, die auf Ostasien zu sprechen kamen, dabei hauptsächlich auf die Arbeiten von Hsia und Chi, ohne diese allerdings kritisch hinterfragen zu können.(7) Hesses Beziehung zu Asien ist auch in anderen ausführlich dokumentiert. So finden sich zahlreiche Selbstzeugnisse Hesses über ostasiatische Geistigkeit in den Materialienbänden zu Siddhartha und Das Glasperlenspiel gesammelt.(8) In dem von Martin Pfeifer herausgegebenen Sammelband Hermann Hesses weltweite Wirkung, wird die Hesse-Rezeption in Japan, Korea und dem chinesischen Sprachraum dargestellt. Weitere Hinweise lassen sich den Bibliographien von Mileck und Weibler entnehmen; eine detaillierte Dokumentation der in Hesses Leben und Werk erwähnten Personen und Gestalten ostasiatischer Geistigkeit findet sich in Ursula Apels umfangreichen Bänden Hermann Hesse: Personen und Schlüsselfiguren in seinem Leben.(9) Wenn auch „Die Notwendigkeit zu beweisen, dass sich Hesse dem ostasiatischen Geist zuwandte, nicht mehr gegeben ist“(10), so bleiben Aufgabe und Interesse, Hesses Beziehung zur ostasiatischen Geistigkeit zu Untersuchen, in der Forschung weiterhin bestehen. Jüngstes Beispiel dafür ist die Arbeit von Liu Weijian, der Art und Umfang daoistischer Einflüsse in Werken von Hesse, Döblin und Brecht darstellt und vergleicht.(11) 

3.2. Die Aufnahme ostasiatischer Geistigkeit

Hesses Weg der Beschäftigung mit ostasiatischer Geistigkeit führt über Indien. Indien und China bilden für ihn den Geist des Ostens, bei den Kulturen fühlt er sich verpflichtet: „Indien hat ja in meinem Leben und Denken eine nicht minder wichtige Rolle gespielt als China.“(12) Als Hesse beginnt, sich mit der chinesischen Geistigkeit zu befassen, ist er mit der indischen Kultur längst vertraut.

Hsia datiert Hesses erste Begegnungen mit chinesischer Geistigkeit auf das Jahr 1907, möglicherweise schon vier Jahre vorher. Hesses erste Rezension eines chinesischen Buches ist Hans Bethges Übertragung chinesischer Lyrik.(13) Daneben gehört vor allem die Lektüre Laozis zu den frühesten Einflüssen, möglicherweise liest Hesse dieses Buch schon 1903 in Alexander Ulars Nachdichtung14), doch auch schon in der Bibliothek des Vaters befindet sich ein Exemplar des Daodejing.(15) Intensiv beschäftigt sich Hesse mit chinesischer Geistigkeit ab 1910, als Richard Wilhelms Übersetzungen chinesischer Klassiker zu erscheinen beginnen, für die sich Hesse im Verlauf der nächsten 20 Jahre in zahlreichen Rezensionen und Aufsätzen einsetzt. Neben Laozi und Konfuzius liest Hesse vor allem chinesische und japanische Lyrik und Märchen.

Zu dieser Zeit hat japanische Kunst allgemein in Deutschland Anerkennung gefunden, wenn auch nicht in form gründlicher Auseinandersetzung und Aneignung, sondern Eher als Mode – als Japonismus. Japanische Kunst wurde für ihre Ästhetik der Feinheit und Leichtigkeit bewundert. Diese verbreitete Auffassung kommt auch in Hesses Beschreibung eines Flugerlebnisses im Jahre 1912 zum Ausdruck. Als er einen Eindecker mit den Formen japanischer Ästhetik assoziiert:

Als Spielzeug sah das Ganze entzückend aus, dass es aber zwei Menschen durch die Luft tragen sollte schien wunderlich, so leicht und liebenswürdig japanisch sahen die Stänglein und Drähtchen aus, und auch die Flügel waren so spielerisch und dünn und luftig gebaut, dass man sie nicht anzufassen wagt.(16)

Derart oberflächlich war die Anschauungsweise der meisten Betrachter – und ist es bis Heute geblieben -, wenn es um die Verzückung durch diese Liebeswürdigen exotischen Holzschnitte, Dekor – und Genremalereien, Teeschalen, Wasen usw. geht. Doch lässt es Hesse bei dieser Oberflächlichkeit keinewegs bewenden, bereits in dieser Zeit zeigt sich bei dem Vergleich östlicher und Westlicher Weltanschauung seine Bemühung um ein tieferes Verständnis des Ostens. In dem Aufsatz  Ein Reisetag schreibt er 1913:

Mir scheint, dass Unterwegssein auf Reisen ersetzt unser einem jene Betätigung des rein Ästhetischen Triebes, der unseren Völkern beinahe völlig abhanden gekommen ist den die Griechen und die Römer und die Italiener der großen Zeiten hatten und den man noch etwa in Japan findet, wo kluge und keines Wegs kindische Menschen es verstehen, am Betrachten eines Holzschnitts, eines Baumes oder Felsens, eines Gartens, einer einzelnen Blume die Übung, Reife und Kennerschaft eines Sinnes zu genießen, der bei uns selten und schwach ausgebildet erscheint.(17)

Durch die umfangreiche Lektüre ostasiatischer Literatur vollzieht sich ein Wandel in Hesses geistiger Einstellung, dass Chinesische wird ihm gegenüber dem Indischen immer wichtiger. Entscheidend dabei ist – neben der Lektüre – vor allem seine Reise nach Indien im Jahr 1911. Hesse ist zwar nie in China oder Japan gewesen, begegnet aber auf seiner dreimonatigen Reise, die ihn bis nach Singapur führt, den dort lebenden Chinesen, die großen Eindruck auf ihn machen:

Der erste und vielleicht stärkste äußere Eindruck, das sind die Chinesen. Was ein Volk eigentlich bedeute, wie sich eine Vielzahl von Menschen durch Rasse, Glaube, seelische Verwandtschaft und Gleichheit der  Lebensideale zu einem Körper zusammenballe, in dem der Einzelne nur bedingt und als Zelle mitlebt wie die einzelne Biene im Bienenstaat, dass hatte ich noch nie wirklich erlebt.(18)

Was ihm im Osten allein imponiert, sind die Chinesen. An anderer Stelle schreibt Hesse über das ihm auf der Reise begegnende Völkergemisch: „Die Inder haben mir im ganzen wenig imponiert, sie sind wie die Malayen schwach und zukunftslos. Den Eindruck unbedingter Stärke und Zukunft machen nur die Chinesen und Engländer, die Holländer etc. nicht.“(19) Dieser Eindruck von Stärke und Zukunft der Chinesen kommt noch an anderer Stelle zum Ausdruck:

Den Chinesen gegenüber war mein Gefühl zwar stets eine tiefe Sympathie, aber gemischt mit einer Ahnung von Rivalität, von Gefahr; mir schien, das Volk von China müssen wir studieren wie einen gleichwertigen Mitwerber, der uns ja nachdem Freund oder Feind werden, jedenfalls aber uns unendlich nützen oder schaden kann.(20)

In Aufsätzen nimmt Hesse immer wieder auch zum aktuellen politischen Geschehen Stellung. So schon zu Beginn der Republik China im Jahre 1911, später auch nach der Proklamation der Volksrepublik(21). Doch betrachtet Hesse die politische Entwicklung Chinas mit Skepsis.

Im Sommer 1947 schreibt er an die Witwe Richard Wilhelms: „Dass Ihnen China Sorgen macht, verstehe ich wohl. Seit Kommunismus, Nationalismus und Militarismus Brüder geworden sind, hat der Osten seinen Zauber vorläufig verloren.“(22) Bei aller „tiefen Sympathie“ für die alte chinesische Kultur spart Hesse jedoch nicht mit Kritik an der Politik des modernen chinesischen Staates.

Hesses Stellungnahme bedeutet jedoch keineswegs eine Absage an die ostasiatische Geistigkeit. Im seinen letzten Lebensjahren befasst er sich nochmals intensiv mit dem Zen-Buddhismus. Nach Eindringen des indischen Buddhismus in China erfolge im 6.-7. Jh. eine Verschmelzung von buddhistischer Mystik und daoistischer Weltanschauung, deren Form des Buddhismus ihre höchste Blüte in Japan fand, dort auch heute noch praktiziert wird und so sehr in das Leben eingegangen ist, das Zen auch als der Charakter Japans bezeichnet worden ist.(23)

Hesse ist mit dieser Form des Buddhismus bereits vertraut(24), als er durch seiner Vetter Wilhelm Gundert, und dessen epochaler Übersetzung des Zen-Werkes Biyanlu, nochmals in enge Berührung mit dieser Geistigkeit kommt. Mehr als 15 Jahre hat Gundert an diesem 1960 erscheinenden Werk gearbeitet, darüber auch mit Hesse intensiven Gedankenaustausch in Briefen und Gesprächen bei seinen Besuchen aus Japan geführt(25). Dieser Einfluss regt Hesse zu zahlreichen Aufsetzen und Gedichten an: so sein Rezension von Gunderts Übersetzung des Byianlu, die Gedichte Junger Novize im Zen-Kloster, Chinesische Legende, Der erhobene Finger, und vor allem der offene Brief Josef Knecht an Carlo Ferromonte, in dem Hesse, in Gestalt seines Protagonisten aus dem Glasperlenspiel, sein Verständnis des Zen-Buddhismus erläutert.(26)

Als Hesse Klingsors letzter Sommer schreibt, ist der chinesische Dichter Li Bai bereits zur Mode geworden. Als Genie, Trinker und Abendteuerer etikettiert, wurde er zum bekanntesten chinesischen Dichter im Abendland. Sein Freund, der sentimentalere, stillere – und in China noch mehr geschätzte – Du Fu, stand dabei stets in seinem Schatten. Diese beiden Dichter überträgt Hesse auf seine Protagonisten, den Maler Klingsor und der Dichter Hermann, die beide Pole von Hesses Psyche verkörpern. Wenn auch wiederholt die Gleichsetzungen Klingsor – Li Bai und Hermann – Du Fu angeführt werden, so wird durch diese Motive und Zitate aus Gedichten Li Bais(27), kaum chinesische Geistigkeit vermittelt. Einzig der weise Armenier, Magier und Bote aus dem Osten, bringt ostasiatisches Gedankengut in die Erzählung. Für ihn liegen Freiheit und Beherrschung der Angst in der Magie: „Alles ist gut. Nichts ist gut. Magie hebt Täuschungen auf. Magie hebt jene schlimmste Täuschung auf, die wir Zeit heißen.“(28)

Auch Klingsor versucht in seiner Kunst Zeit und Raum aufzuheben, um so den Tod zu überwinden, und in besonderen Augenblicken gelingt es ihm: „Man braucht so lang, bis man lernt, an einem einzigen Tage drei Erdteile zu besuchen. Hier sind sie. Willkommen Indien! Willkommen Afrika! Willkommen Japan!“(29) So weist Klingsors letzter Sommer bereits auf das magische Theater im Steppenwolf und die Überwindung von Zeit und Raum in der Morgenlandfahrt hin.

Schwer ist es, umfangreichere ostasiatische Einflüsse im Steppenwolf und in Narciß und Goldmund nachzuweisen. Im Steppenwolf werden Hesses Erfahrungen mit der Psychoanalyse C.G. Jungs literarisch verarbeitet. Wenn auch Jung in mancher Hinsicht chinesischer – besonders daoistischer – Geistigkeit verpflichtet ist, und mit Richard Wilhelm einen alten buddhistisch-daoistischen Text unter dem Titel Geheimnis der goldenen Blüte(30) herausgibt, so ist es jedoch zweifelhaft, von den psychoanalytischen Elementen im Steppenwolf Rückschlüsse auf daoistische Einflüsse zu ziehen, wie dies versucht worden ist. So weist Hsia auf Parallelen zwischen dem Steppenwolf und C.G. Jungs Kommentar im Geheimnis der goldenen Blüte hin. Doch dürfte dieser Kommentar kaum Einfluss auf mögliche ostasiatische Motive bei Hesses Konzeption des Romanes gehabt haben: Jungs Kommentar erscheint 1929, zwei Jahren nach dem Steppenwolf.(31)

In Narciß und Goldmund stellt Hesse die Pole von vita activa und vita contemplativa dar. Diese würden – mit dem Motiv der Urmutter – in der chinesischen Geistigkeit dem Dao mit den Polen von Yin und Yang entsprechen. Da die Polarität von Yin und Yang zu den wichtigsten Motiven in Hesses Werken zählt, dürfte sie auch hier zugrunde liegen. Inwieweit dabei auch Verknüpfungen mit Motiven der Romantik vorhanden sind, lässt sich wahrscheinlich nicht eindeutig klären.

 

Schlusswort

Aus der bisherigen Darstellung der Aufnahme und Verarbeitung ostasiatischer Geistigkeit wird deutlich, welche Bedeutung Hesse gerade für den modernen Menschen beimesse. Dabei werden vor allem die alten chinesischen Denker als Lehrer und Erzieher herausgestellt. Aus ihrer Weltanschauung ergibt sich für Hesse, das eine Pädagogische Provinz in erster Linie eine Provinz des Menschen sein muss, wenn sie sich ihrer Aufgabe und geschichtlichen Relativität bewusst wird, und nicht starren Dogmen, sondern dem Menschen dienen will. Wie stellt sich nun für Hesse eine Erziehung dar, die sowohl für den Menschen verträglich ist, als auch auf die Verträglichkeit der Menschen untereinander abzielt?

Einige der jüngsten Forschungen über das Schaffen Hermann Hesses gehen heute gerade von der Darstellung des Fremden aus, das uns der Autor in seinen Schriften vorführt hat. Seine dichterische Schöpfung hat die intensive Auseinandersetzung mit dem asiatischen Gedankengut geprägt.

 


Anmerkungen

1 Vgl. Pannwitz, R.: Hermann Hesses West-Östliche Dichtung, Frankfurt a. M. 1957.
2 Vgl. Lee, Inn-Ung: Ostasiatische Anschauungen im Werk Hermann Hesses, Würzburg 1972..
3 Ebenda, S. 251.
4 Ebenda, S. 251.
5 Vgl. Hsia, A.: Hermann Hesse und China, Frankfurt a.M. 1981.
6 Darüber schreibt Hsia, S. 301.
7 Röttger, J.: Die Gestalt des Weisen bei Hermann Hesse, Bonn 1980, S. 54 - 69.
8 Vgl. Michels, V.: Materialien zu Hermann Hesses Siddhartha, Frankfurt a. M 1986.
9 Vgl. Apel, U.: Hermann Hesse: Personen und Schlüsselfiguren in seinem Leben, München – London – New York – Paris 1989.
10 Hsia, A.: Hermann Hesse und die orientalische Literatur, Bonn 1980, S. 61 - 75.
11 Vgl. Weijian, L.: Die daoistische Philosophie im Werk von Hesse, Döblin und Brecht, Bochum 1991.
121 Ein paar indische Miniaturen, in: MaS1, S. 269.
13 Vgl. Bethge, H.: Die chinesische Flöte, Leipzig 1907.
14 Vgl. Ular, A.: Die Bahn und der rechte Weg des Laotse, Leipzig 1903.
15 Hsia, A.: S. 323ff.
16 Hesse; H.: Im Flugzeug, in: Die Kunst des Müßiggangs, S. 132 – 139, S. 135.
17 Hesse, H.: Ein Reisetag, in: Die Kunst des Müßiggangs, S. 155 – 162, S. 160.
18 Erinnerung an Asien, zitiert nach Hsia, S. 63.
19 Brief an Konrad Haussmann vom November 1911, in: Gesammelte Briefe, S. 201f.
20 Erinnerung an Asien, a.a.O. S. 64.
21 Vgl. Hesse, H.: Politische Betrachtungen, hrsg. Von Siegfried Unseld, Frankfurt a. M. 1970.
22 An Salome Wilhelm, Brief vom Sommer 1947, in: Gesammelte Briefe 3, S. 432f.
23 Suzuki, D.T.: Zen and Japanise culture, Rutland- Vermont- Tokio 1988, S. 85.
24 Hesses Briefe an Wilhelm Gundert, S. 107-112.
25 Brief vom September 1960 an Wilhelm Gundert, in: MaS1, S. 278ff.
26 In: MaG1, S. 333ff.
27 Ebd., S. 308f.
28 Ebd., S. 333.
29 Ebd., S. 314.
30 Vgl. Wilhelm, R./ Jung, C.G.: Geheimnis der goldenen Blüte, Köln 1986.
31 Vgl. Hsia, A.: S. 251.

3.10. Komparatistik und Weltliteratur in der Epoche der Globalisierung

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For quotation purposes:
Mária Bieliková: Zum Phänomen des Fremden im Werk Hermann Hesses - In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 17/2008. WWW: http://www.inst.at/trans/17Nr/3-10/3-10_bielikova17.htm

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