TRANS Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 17. Nr.
Januar 2010

Sektion 6.9. Touching Society
SektionsleiterInnen | Section Chairs:Arno Böhler und Katja Mayer (Universität Wien, Österreich)

Dokumentation | Documentation | Documentation


Bezugs-Formen / Touching Society

Ferdinand Auhser  (Wien) [BIO]

Email: fauhser@gmx.at

 

Gesellschaften sind organische Strukturen, Gewebe und Zellverbände, Organisationen scheinbar geregelter Interaktion und codierter Kommunikation; sie vereinen eine Vielfalt an Individuen, zeichnen in ihrer Wirkung nach außen und innen Konturen, Grenzlinien, markieren Felder, repressive und repräsentative Sphären, Sprachräume, Aktionsräume, sind zugleich Möglichkeit und Einschränkung, sind als reale Strukturen Körper, die in Erscheinung treten und eben darin nicht rein virtuelle, sondern wirkliche Formen, die sich entwickeln und bewegen, die sich – wie jede organische Struktur – transformieren. Gesellschaften sind Formen in Formung, in Formation begriffen, sind Bezüge und Relationen von Körpern, die sich selbst zu einem Körper formieren und als dieser Kontakt haben, Bezüge zu anderen sozialen Körpern aufbauen und schaffen, die als Formation Einflüsse aufnehmen und Wirkung haben. Dieser interaktive Bildungsprozess pflügt den Boden politischer, soziologischer und religiöser Diskurse, umfängt die Fragen nach Interaktion, einem möglichen Nebeneinander und Miteinander, das Problem vermeintlicher Abgeschlossenheit und gegenseitigen Ausschlusses und berührt in dieser brisanten Vielfalt den Themenkreis einer grundlegend philosophischen Fragestellung, die nicht nur den Ursprung und Keim der klassischen Metaphysik, sondern auch deren Perversion und Verkehrung in sich schließt: die Frage nach der Form.

Seit jeher galt die Suche nach dem einen beständigen Prinzip, nach der unveränderlichen Konstanten im Sumpf der sich immer wandelnden Erscheinungen als Stolz und Dogma der Philosophie – als Anfang philosophischen Fragens überhaupt, der vom Glauben der Naturphilosophen an einen ausgezeichneten Stoff, eine Ursubstanz, über die parmenideische Vision der absoluten Einheit Denken=Sein zum Gedanken einer ideal-transzendenten Welt führt, in der Platon die Ur-Formen aller sinnlichen Erscheinungen entdeckt, ein übersinnliches Regelwerk, in dem jede Entwicklung, alles Werden, kurz: jede natürliche Form veranlagt und vorverfügt ist...

Der Aufstieg

Mit Platon beginnt der programmatische Weg der klassischen Metaphysik, er ist ihr Ausgang und herausragender Anfang. Seine Vision der Ideen – die transzendente Formenlehre – begründet in ihren innersten und tiefsten Strukturen das Repräsentationsmodell der Welt als Ausdruck einer unwandelbaren und ewigen, intellektuell greifbaren Sphäre, die als unabdingbare Voraussetzung für alles Geschehen, alle Sinnlichkeit und jeden Kontakt der vereinzelt im Dasein stehenden Erscheinungen zu gelten hat. Platon führt den Begriff der Form in die Philosophie ein. Jedes Ding unserer Erfahrungswelt tritt nicht an und für sich in die Form seiner momentanen und sich wandelnden Existenz, sondern kann nur im Licht, im Schein der ewigen Ideen, so und so in die Offenheit der Anwesenheit treten.

Wahrheit bedeutet den Griechen Un-Verborgenheit, das Finden der Wahrheit das Entbergen, das Lichten der Dinge bis auf jenen Grund, der ihr ureigenstes Wesen ausmacht, und dieses Wesen, das Abgründige, Unvergängliche sind bei Platon die Ideen – transzendent – einsehbar durch die Kraft des Geistes... Sie sind das abstrakt Allgemeine in der ewigen Sphäre über den wechselhaften Erscheinungen der Welt, diese wiederum nur vereinzelte Besonderheiten, die partizipieren an jenem Übersinnlichen, die gebunden sind an die ewige Existenz der reinen Wesenheiten, an den Grund aller Beziehungen, aller Kontakte, allen Geschehens überhaupt.

In dieser Trennung zweier Welten, die in archaisch dichterischer Form schon bei Parmenides Anklang findet, liegt das Geheimnis des Platonismus und in weiterer Folge aller Zauber und alle Gefahr der christlich-abendländischen Metaphysik verborgen. Das Prinzip, das Grundsätzliche, der Ursprung nicht in kausal chronologischem Verständnis, sondern als Bedingung der Möglichkeit dafür, dass alles Wirkliche in den offenen Horizont dieser Wirklichkeit treten kann, sind die transzendenten Ideen, die ewigen Ur-Formen, die allem Einzelnen ihre Form geben, an denen alles Einzelne Anteil hat, und nur durch einen intellektuellen Aufstieg von der Welt der Erscheinungen in jene Sphäre der Allgemeinheiten kann man das wahre Wesen der Dinge schauen und erkennen. Jede Erscheinung der erfahrbaren Welt, jeder Körper, jeder Mensch repräsentiert seine allgemeine, seine abstrakte Form in der je individuellen Art und Weise seines Auftretens. Kein Urelement, kein Stoff, aus dem sich alles zusammensetzt, in den alles irgendwann wieder mündet, auch keine absolute Einheit von Denken und Sein, sondern ein objektiver Kosmos reiner Formen, in deren Schein die einzelnen Formen werden, Allgemeinheiten, die verkörpert werden durch jeden individuellen Körper, jede individuelle Form... – Abkehr vom archaischen Gedanken der physis zu einer Metaphysik der Ideen...

Platon löst die Frage nach dem Prinzip ebenso genial wie problematisch: Der Urgrund alles Seienden kann kein zur Gänze verborgener, unauffindbarer sein, muss dem menschlichen Denken, der Vernunft begreifbar, einsehbar werden können; wissenschaftliche Erkenntnis aber richtet sich immer auf das Allgemeine und muss zugleich mit der Wahrheit in Bezug stehen, muss an das Wahrhaftige rühren, das ursprünglich Verborgene in die Sphäre der Unverborgenheit – aletheia – bringen können, und da für Platon nun „das Allgemeine zum Einzelnen in unaufhebbarem Gegensatz steht, so muß entweder das Einzelne das eigentlich Reale sein – dann ist aber keine Wissenschaft, keine Wesenserkenntnis mehr möglich –, oder es muß, wenn anders es Wissenschaft gibt, die wahre Realität dem Allgemeinen zugesprochen, dem Einzelnen dagegen abgesprochen werden.“ Und Platon entscheidet sich für den Weg der Wissenschaft, den er – an der Schwelle der Zeitalter und als großer Übergang von der heraklitisch-vorsokratischen Welt zur abendländischen Metaphysik der Präsenz – in mythische Visionen und das beeindruckendste literarische Erbe der griechischen Philosophie kleidet und sich selbst, gleich einer unausgesprochenen Ahnung, vor den sich auftürmenden neuen Landmassen eines unerforschten und unbetretenen Kontinents in die Tiefe des dichterischen Ozeans stürzt... aber dennoch: „Die allgemeinen Gattungen und Arten, die sog. Ideen, sind hiernach das wahrhaft reale Seiende, die sinnlichen Einzeldinge hingegen nur ein flüchtiges Werdendes, fast ein Nichtseiendes.“(1)

Die Probleme, die sich an diese Entscheidung Platons knüpfen, an die Weltenteilung zu Gunsten der Frage: Wie kann Wissenschaft auf gesicherten Füßen stehen, wie ist Erkenntnis tatsächlich möglich? sind evident und längst nicht rein an das platonische Modell gebunden. Mit Platon findet die Metaphysik ihre schematischen Grundzüge, die sich in einer mehr als zweitausendjährigen Geschichte höchstens in Nuancen und Nomenklaturen unterscheiden werden, bis Kant die platonischen Ideen in einer ähnlich revolutionären und mindestens ebenso beeindruckenden Wende in das Subjekt holt und sie dort – als reine Verstandesbegriffe, schematisch zusammengefügt mit den reinen Formen der Anschauung – die Grundsätze des reinen Verstandes konstituieren lässt, die uns seitdem als die Bedingungen aller Möglichkeit von Erfahrung zu gelten haben... Die Suche nach dem Prinzip aus dem transzendent-ideellen Kosmos in das reine Subjekt verlegt – Aufklärung.

Uns soll es aber in kritischer Distanzierung zur Tradition der metaphysischen Dogmatik darum gehen, eine Verschiebung der Prioritäten ins Feld zu führen, das Prinzip der Formung und Formation realer Körper, wirklicher Existenzen nicht an ein transzendentes Netzwerk apriorischer Regelstrukturen zu knüpfen, sondern eben diesen Drang zu Entwicklung und Transformation, die Anti-Stagnation als Grundzug der Wirklichkeit zu setzen und damit die aristotelische Lehre der dynamis-energeia Differenz in einem weiteren Horizont einer Kräftedichotomie sehen zu können, die für jeden Prozess von Transformation als unabdingbar erscheinen wird.

Der Fall

Gilles Deleuze schreibt im ersten Teil seines Hauptwerkes „Differenz und Wiederholung“: „Die Aufgabe der modernen Philosophie wurde definiert: als Umkehrung des Platonismus. Daß diese Umkehrung viele platonische Merkmale bewahrt, ist nicht nur unvermeidbar, sondern wünschenswert.“(2) Und es ist eben der Gedanke der Form, Platons großer Gedanke, den Aristoteles als erster Revolutionär gegen die platonische Dogmatik behalten will, dessen Reformation sein ganzes Werk und seine ganze Gedankenwelt bestimmt und leitet – die Entwicklung der aristotelischen Form ist zugleich die Entwicklung der aristotelischen Philosophie, die ihren Anfang bei den Gedanken über die Natur nimmt und über verschiedene Stufen zu jenem Prinzip fortschreitet, das die metaphysische Tradition seit jeher für sich in Anspruch nimmt und damit den Grundgedanken zu vereinnahmen sucht, der alle Grundlagen ihres Sturzes schon in sich trägt: das Prinzip des Werdens, das den Charakter des Seins selbst trägt, die ursprüngliche Differenz von dynamis und energeia.

Für Aristoteles liegt die erste Notwendigkeit, die erste Bestimmung seines Weges darin, bei den Dingen selbst, bei den ursprünglichen Erscheinungen anzusetzen, die Natur anhand des sich ihr gemäß Zeigenden zu betrachten, das Tier, die Pflanze, den Menschen usw. Denn in und an ihnen wird sich am ehesten jener Grundzug offenbaren, der allem Seienden nicht nur in gewisser und nebensächlicher, sondern in ursprünglicher Weise zukommt. Das ist das Vertrauen des Aristoteles: Die Einzeldinge selbst werden bei genauerem Hinsehen ihr Gemeinsames, die grundsätzliche Verfügung, das Sein, das sie zu einem Dasein, einem Seienden macht, offenbaren. Aus der Zusammenschau, einem tiefen Blick und dem genauen Hinhören auf das Ursprüngliche – epagogé – tritt das Urtümliche ans Tageslicht: „die Hinführung auf jenes, was in den Blick kommt, indem wir zuerst über das einzelne Seiende weg blicken, und wohin? Auf das Sein.“(3) Diese Sichtung, diese Meditation über das Wesen der natürlichen, der von der Natur her existierenden Dinge, führt Aristoteles zu seiner ersten und für die ganze Wissenschaft von der Natur, in weiterer Folge sogar für jene Betrachtungen, die über die natürlichen Erscheinungen hinausgehen und das Sein im Ganzen in den Kreis ihrer Überlegungen einbeziehen, wichtigsten Grundannahme, zu jenem Grundsatz der aristotelischen Philosophie, der auch für uns das große Memorandum aller weiteren Überlegungen bedeuten wird: tà physei è pánta è énia kinoúmena einai: „Die natürlichen Gegenstände [das von der physis her Seiende] unterliegen  entweder alle oder zum Teil dem Wechsel [ist ursprünglich in die Bewegtheit verfügt].“(4)

Alles, woraus die physis spricht, in dem die physis waltet, wird aus einem immanenten Prinzip der Bewegung und Veränderung zu dem, was es ist, ist anwesend durch und in einem Prozess des Werdens, ständig und immer schon verfügt in einen Horizont der Formung und Umformung, des Wachsens, Ortswechsels, Stoffwechsels, der Interaktion und Kommunikation, ist nie beständig im Sinne einer elementaren Unveränderlichkeit, sondern ist Wesen und Erscheinung, Einzelding und Substanz als ständig in Formung begriffenes Seiendes; und die Form, das Erscheinen ist die Realität eines jeden Körpers, ist dessen Dasein als Heraustreten in die Anwesenheit, die keine Stagnation bedeuten kann, sondern die Existenz selbst ist bewegt, das Leben ist bewegt und getragen von ständiger Umformung und Entwicklung, durch die es sich in der Existenz erhält. Die Realität ist „die Gestaltung, die Form, welche sich von dem Ding nicht abtrennen lässt, außer in Gedanken. [...] Diese Form ist in höherem Maß physis als der Stoff; ein jedes wird doch dann erst eigentlich als es selbst angesprochen, wenn es in seiner zweckhaft erreichten Form da ist, mehr als wenn es bloß der Möglichkeit nach ist.“(5)

Die Gestalt macht das Wesen des von der physis her Seienden aus, das Wesen der in der Verfügung der physis erscheinenden Substanzen – sie zeigen sich in der jeweiligen Form ihrer Erscheinung, sie erscheinen als bewegte Formen, in ihrem Aussehen, als ihre Gestalt. Sie selbst sind ihre Beschaffenheit als sinnliche und sinnlich wahrnehmbare Wesen. – Sie treten als bewegte Formen in die Sphäre möglicher Bezüge, werden sichtbar, hörbar, fühlbar, haben ihre Form, sind ihre Form und sind ihrer eigenen Verfügung gemäß in Formation begriffen.

Jeder biologische, jeder soziale Körper ist kein Abgetrenntes, Bezugloses, keine hermetisch verschlossene Form und noch weniger elementarer Stoff, dem seine Gestaltung nur in beiläufiger Weise zukommt. Sie sind sie selbst nur in der jeweiligen und notwendigen Struktur, in ihrer Konstitution, sind Kreislauf und Organe, Wurzeln und Äste, Knochen, Fleisch, Blätter, Zellen, sind alle Teile ihrer je spezifischen Eigenheit, die sich durchaus bestimmt und notwendig zueinander verhalten, sind Erscheinungen durch die Formation, in die sie verfügt sind und sie sind ständig in Formation, ständig in Bewegung, ständig Ausdruck, Verkörperung und Offenbarung ihrer selbst. Kein Verweis auf eine transzendente Sphäre allgemeiner Formen, wie Platon sie in seiner mystischen Vision sehen wollte, sondern jedes Ding ist sein eigenes eidos, insofern es wirklich, reales Wesen ist, insofern es Seiendes ist als ein sich Darbietendes, als Erscheinung. „ƒId¡a ist das Gesichtete nicht in dem Sinne, daß es durch das Sehen ein Sichtbares bietet, sondern Þd¡a ist das Sichbietende, Sichtsame. Allein Plato faßte das eädow, gleichsam überwältigt von seinem Wesen, selbst wieder wie etwas für sich Anwesendes und so den geeinzelten »Seienden«, »die in solchem Aussehen stehen« Gemeinsames (koinñn); dadurch wird das Geeinzelte als das Nachträgliche gegenüber der Þd¡a als dem eigentlichen Seienden in die Rolle des Unseienden herabgesetzt.“(6)

Das ist die aristotelische Umkehrung des Platonismus, wie sie bei Deleuze als programmatisches Mantra der modernen Philosophie erwähnt wird und eben darin ist Aristoteles moderner als es ihm viele zugestehen wollen. Das Formprinzip, das eidos tò katà tòn lógon ist das Prinzip der Verwirklichung als Wirklichkeit selbst, als das zur Form Kommen der je einzelnen Erscheinung, als jenes Moment, das tatsächlich das Wesen, die Wesenheit, ousia ausmacht. Wenn Platon zu Gunsten der wissenschaftlichen Erkenntnis alles Reale in den Horizont des Allgemeinen verlegt, um der Wissenschaft ein vordergründig gesichertes Fundament unter die Füße zu schieben und meint, die abstrakten Begriffe, Gattungen und Arten seien das einzig Wirkliche, kehrt Aristoteles in seiner Kritik der Ideenlehre gewissermaßen auf einen wissenschaftlich bescheideneren Punkt der Betrachtung zurück. Er setzt das abstrakt Allgemeine nicht mehr mit den Wesenheiten gleich, sondern unterscheidet die allgemeinen Begriffe von dem, worauf sie bezogen sind – eben von der ousia selbst, dem Wesen der einzelnen Erscheinung. „Es besteht zwar der Gegensatz zwischen dem Einzelnen und dem Allgemeinen, gleichwohl aber liegen die Wesenheiten bzw. die (mit ihnen eng verbundenen) Formursachen in den Einzeldingen, deren Wesenheiten/Formursachen sie sind. So hat nunmehr eädowbei Aristoteles die doppelte Bedeutung: als allgemeiner Art-Begriff und als immanente Formursache in den Dingen.“(7)

Indem Aristoteles den Dingen ihr Wesen gleichsam zurückgibt als die jeweilige Form ihrer Erscheinung, ihre Präsenz in einem Horizont der Offenheit für sinnliche Berührung, für Kontakte und Bezüge, in einem Raum, der in dieser Umdrehung der Prinzipien zu einem Raum lebendiger Existenzen, zu einem Lebensraum wird, nimmt er schon ein gutes Stück der Programme und Prinzipien jener philosophischen Richtung vorweg, die sich als kritische Opposition der logisch-klassischen Metaphysik entgegensetzt. Die allgemeinen Begriffe sind durchaus existent als Werkzeuge menschlicher Erkenntnis und als Modi begrifflich-kategorialer Fassbarkeit, aber es besteht keinerlei Notwendigkeit, diese Allgemeinheiten als das Wesen aller Dinge überhaupt – oder Bedingungen der Möglichkeit aller Bezugnahmen – zu setzen. Der lógos, dem gemäß die Formen füreinander ins Dasein treten, ist keine an die theoretische Erkenntnis geknüpfte begrifflich-logische Verfügung, sondern das Sein selbst, das aus den existierenden Einzeldingen als ihnen gemeinsamer Bezugshorizont spricht – die Möglichkeit, da zu sein, die Möglichkeit, wirken zu können, die Möglichkeit eines jeden Dinges, wirklich zu sein ist die Form, in der es in diesen Horizont des Offenbaren tritt, in dem es erscheint, indem es als eines – als es selbst – ist. Keine Existenz verkörpert die transzendente, ewige Idee als Verweis auf das kryptische Dahinter, in dem das ewige Feuer der abstrakten Ideen seinen durch Körper und Sinne gehemmten Schein auf den Boden der vordergründigen Realitäten wirft, sondern die eine Idee ist selbst gestorben und in allen Erscheinungen als deren je eigene Form zu neuem Leben erwacht. Alles von der physis her Seiende zeigt sich in seiner Beständigkeit – als sein Bestand – in der Verkörperung seiner selbst und diese Verkörperung ist kein Prozess, der zu einem Stillstand kommt, sondern ist permanentes Werden, eine permanente Kette an Formationen, die ineinander greifen, ist ständiger Austausch, ständig Bewegung und die Bewegung selbst ist das Wesen der Form, morphé, die ihrerseits das Wesen der physis und die Wesen, die der physis gemäß erscheinen, ausmacht.

Aus diesem Konzept einer ursprünglich in den Horizont von Bewegung verfügten natürlichen Körper-Form erwächst der Grundgedanke der aristotelischen Philosophie, seine große Differenz, die nicht mehr nur die natürlichen Erscheinungen, sondern das Seiende im Ganzen im Blick hat, jene Furche, die sich immer schon durch die reale Welt gezogen hat und die große Zweiteilung zwischen Sein und Nicht-Sein in einen Prozess zusammenfasst, der immer als Realisierung von Möglichkeit, Stimulation von Potenz und ewiges Werden der einen Wirklichkeit erscheint.

Die Perversion, die sich hier in der aristotelischen Lehre über die „erste Philosophie“, in seiner Metaphysik entwickelt, ist eine doppelte: Das Stoffprinzip der Naturphilosophen wird zu einem philosophischen Begriff der Möglichkeit, strenggenommen zu einem Nicht-Sein, zu einer Indifferenz, die als eine Weise oder eine Perspektive jeder Existenz zu gelten hat: Insofern etwas substantiell noch nicht ist, besteht die Möglichkeit, dass es (unter Umständen) wird, und insofern etwas ist, trägt es in sich die Möglichkeit der Veränderung, Entwicklung, generell die Möglichkeit des Werdens – Prinzip relativer Genesis. Es gibt überhaupt keinen Stoff, sondern immer nur reale Formen, die in ihrer Wirklichkeit zugleich auch Möglichkeit sind, die beweglich und flexibel, veränderbar sind – Stoff als Realität ist eine Illusion, ist rein die Perspektive der Nicht-Abgeschlossenheit oder die Seinsweise, der Aspekt der Transformation oder Offenheit – dektikon – die Öffnung des Raumes der Formen hin auf ihre Beziehungen und den Wandel der Bezugnahmen; die Form, das Formprinzip ist die Wirklichkeit, die energeia, Energie als die Kraft der Existenz, als die innere Kraft jeder Erscheinung, die eben ihr Wirken ist – Wirken als Dasein und Offenbarung jener einen Stimme, der einen Stimme des Seins... Einerseits die Umkehrung des Stoffprinzips in einen philosophischen Möglichkeitsbegriff, andererseits die Perversion der Idee als individuelles eidos und beides zusammengenommen als die Sphäre des Seins überhaupt, die einen Begriff der Differenz umspinnt, die einen Riss in die absolute Präsenz verfügt und sich als perpetuum mobile oder ewige Wiederkunft des gleichen Differenzverhältnisses offenbart – als perspektivische Schizophrenie von dynamis und energeia.

Aristoteles braucht den alten Begriff der dynamis mit der Bedeutung ursprünglicher Kraft für seine Überwindung der Sein – Nicht-Sein Problematik, er braucht die hyle-Konzeption der Physiker und die platonischen Ideen, braucht die widersprüchlichen Ansichten und nimmt alles in einer Bewegung zusammen, die selbst die Entwicklung seines Werkes ist und lässt in immer wieder neu gesponnenen Zusammenhängen eine Welt der realen Formen entstehen, die für sich Wesen und an sich Wirklichkeit sind in ihrer Bewegung auf dem Netz des Werdens, gespannt im differentiellen Verhältnis seiner neu gefundenen Dualität. – Erster Anlauf, erster Versuch, dem Werden den Charakter des Seins aufzuprägen, Abschied vom Materieprinzip zu Gunsten eines Möglichkeitsbegriffes und das Bild einer Welt, die nicht starr gebunden vorliegt als das ewig Eine, die auch nicht schwebt – gekettet an die transzendenten Fäden des ewig Einen, sondern die ist als alles Wirkliche in ihr und als das Mögliche, das alles Wirkliche zugleich ist, die alles ist, „was der Fall ist, und auch alles, was der Fall sein kann.“(8)

Der dynamis-Begriff wird von Aristoteles nicht nur transformiert und in einen neuen Bedeutungshorizont eingetragen, sondern wird darüber hinaus – und vielleicht noch entscheidender – gespalten und aufgeteilt. Die alte Vermögensvorstellung weicht nicht dem neuen Möglichkeitsverständnis, sondern fügt sich in das Konzept des Wirklichen, in den Grund der energeia ein. Wirken auf ein anderes oder auf sich selbst, insofern es ein anderes ist, ist Ausdruck und Wesen der energeia, ist – wie der Name sagt – Wirklichkeit und Wirkgrund für die Umsetzung eines der Möglichkeit nach Seienden in die Realität und in gewisser Weise negativ gegen die reine Möglichkeit, differenzierendes Moment, das gegen das Indifferente wirkt. Die alte dynamis ist die Kraft, die auf die neue dynamis wirkt und so die reine Möglichkeit aufhebt in das Anwesen des Daseins – als Bewegung, die zugleich entweder absolute Genesis eines noch nicht Seienden, oder relative Genesis an einem Seienden in seiner Veränderung, seiner Transformation ist.

Die Wiederkehr

Dieser Prozess immer fortwährender Genesen ist das Werden der Formen, die weder hermetisch noch rein für sich sein können, die porös und offen sind, selbst als Kräfte wirken und Wirkung erfahren. Die Welt das Aristoteles ist eine Welt der Kraft- und Bezugsformen, ein Kräftezirkel, wie er mehr als zweitausend Jahre später als Grundlage des Geschehens in Nietzsches Willen-zur-Macht Relationen erscheinen wird, die sich als Kraft-Quanta immer aufeinander beziehen und einander beeinflussen, die sich einander übermächtigen wollen und in diesem Wirken aufeinander die reale, bewegte Form, die organische Form erzeugen. Jeder Körper, jede natürliche Erscheinung erwächst aus dieser perspektivischen Dualität von dynamis und energeia, von aktivierenden Einflüssen und stimulierten Potenzen, von beherrschenden und gehorchenden Kräften und es gibt keine letzte Einheit, keine absolute Realität, aus der sich alle Körper-Formen zusammensetzen. „Es gibt kein Realitätsquantum“, schreibt Gilles Deleuze in seiner Analyse der nietzscheschen Willen-zur-Macht Organisationen, „jegliche Realität ist immer schon Kraftquantum. Nichts als Kraftquanten in einem wechselseitigen Spannungsverhältnis. Jede Kraft steht in einer Beziehung zu einer anderen, sei es um zu gehorchen, sei es um zu befehlen. Definiert wird ein Körper durch diese Beziehung zwischen herrschenden und beherrschten Kräften. Jede Beziehung zwischen Kräften erstellt einen Körper, der chemisch, biologisch, sozial, politisch sein kann. Zwei beliebige und ungleiche Kräfte erstellen von dem Augenblick an einen Körper, da sie in Beziehung zueinander treten.“(9)

In diesem Blick auf eine Welt sich permanent im Wandel befindlicher Formen sind sich Aristoteles und Nietzsche wesentlich näher, als es von der Tradition eingestanden oder zugegeben wird. Die aristotelische Form ist die Perversion des metaphysischen Einheitsglaubens, die ousia nicht die absolut erste Substanz, sondern das Wesen als differentielle, als von der Differenz von dynamis und energeia durchzogene Erscheinung, die nicht mehr auf das Feld der Physik, auf den Bereich der natürlichen Erscheinungen reduziert werden kann, sondern das Geschehen im Ganzen in den Blick nimmt. Als Spiel und Gegenspiel von Kräften enthüllt sich die eine Welt, von der Nietzsche und Aristoteles sprechen, enthüllt sich die Welt der Wirklichkeit, die sich nicht mehr auf eine transzendente Welt der Wahrheit stützt, die nicht mehr im Schatten des Glanzes eines Kosmos der reinen Formen, Ideen, Verstandesgrundsätze zu stehen hat, sondern die sich in ihrer polymorphen Struktur immer und immer wieder selbst hervorbringt, immer wieder neu gebiert und scheinbare Einheiten hervorbringt, die als Körper das Spannungsverhältnis aufeinander wirkender Kraft-Quanta sind. „Bedenken wir zunächst, daß die Zusammenballungen von Machtquanten sich unablässig mehren oder mindern“, sagt Wolfgang Müller-Lauter in seinen Nietzsche-Interpretationen, „so kann nur von fortlaufend sich ändernden Einheiten gesprochen werden, nicht aber von der Einheit. Einheit ist immer nur Organisation unter der kurzfristigen Herrschaft dominierender Machtwillen. Nietzsche radikalisiert seine Auffassung noch durch die Bemerkung, daß jede solche Einheit als ein „Herrschafts-Gebilde“ nur Eins bedeute, jedoch nicht eins sei. [...] Die Einheit ist Einheit als Organisation.“(10) Und so ist jeder kleinste Körper, jedes Atom, jedes Molekül, ist jeder menschliche Körper, jeder gesellschaftliche Körper nicht Einheit an und für sich, nicht abgeschlossen, nicht hermetisch, sondern erscheint als Form und somit als relative Einheit, als Organ und Organisation, als Kommunikations- und Sprachkörper, in dem immer Kräfte aufeinander wirken und sich gegenseitig interpretieren, unterminieren, usurpieren, die revoltieren und die Herrschaft an sich reißen wollen – die Einheit des Körpers ergibt sich aus der Intensität seiner Beziehungen, aus der Strenge der Herrschaftsstruktur, die er selbst ist, und als Körper-Form ist er nicht an und für sich, sondern immer ausgreifend und suchend, ist als Körper Kraft und Wille zur Macht. Es ist das bewegende Moment, das für Aristoteles die aktive dynamis konstituiert und das Nietzsche zum Grundprinzip seiner Philosophie erhebt. Der Wille zur Macht ist kein metaphysisches Prinzip, ebenso wenig wie die aristotelische Form, sondern die erscheinende Form selbst ist immer schon Wille zur Macht und eine Vielheit von Willen-zur-Macht Relationen, ist differentielle Kraft, ausgreifend, suchend, bewegt.

Die reine energeia, zu der Aristoteles im zwölften Buch der Metaphysik vorstößt, der Gott energeia ist kein transzendentes Wesen, kein absoluter Anfang, keine Schöpfer-Macht, sondern die eine Sphäre der Wirklichkeit, in der die dynamis-energeia-Prozesse stattfinden und immer schon stattgefunden haben, sie ist die Lehre von der Wiederkunft des einen Spannungsverhältnisses, das Formen hervorbringt, das den Trieb nach Aktivität, den Willen zur Macht nicht untergehen lässt und die Welt vor ihrem Untergang, ihrer Stagnation bewahrt. Unter dem Titel „Die neue Welt-Conception“ beschreibt Nietzsche diesen ewigen Prozess, der für Aristoteles in der reinen energeia veranlagt ist: „Die Welt besteht; sie ist nichts, was wird, nichts, was vergeht. Oder vielmehr: sie wird, sie vergeht, aber sie hat nie angefangen zu werden und nie aufgehört, zu vergehen – sie  e r h ä l t  sich in Beidem ... Sie lebt von sich selber. Ihre Excremente sind ihre Nahrung ...“(11)

Die Welt lebt im Hervorbringen, Ausscheiden und Aufnehmen ihrer Formen, Körper, Erscheinungen – sie bedarf keines Motors, keines Anstoßes, keiner Hand, die sie führt und keines transzendenten Leitfadens; das Geschehen selbst, die Wirklichkeit ist göttlich, ein göttlicher Kreislauf, circulus vitiosus deus(12) und das Prinzip der Umformung, der Veränderung, der Transformation hängt nicht am Ideal einer zu erreichenden Form, am Zweck einer in Aussicht stehenden Abgeschlossenheit – Form und Zweckursache, die Aristoteles im zweiten Buch der Physik noch als voneinander unterschieden eingeführt hat, wandern in der „ersten Philosophie“ zusammen – das Prinzip der Transformation ist selbst Zweck und Notwendigkeit, der Bezug, die Relationen, die alle realen Formen als Kräfte untereinander aufbauen und immer neu aufbauen, in differenzierter Art und Weise, in immer wechselnden Spannungs- und Machtverhältnissen ist das Prinzip von dynamis und energeia, ist der Wille zur Macht als die unendlich vielen Willen-zur-Macht Organisationen und das Wirken von Kräften auf Kräfte ist selbst Prinzip und Anfangsgrund, ist aristotelische arché und physis, ist ein Verhältnis, das niemals begonnen hat und immer wiederkehrt. Günter Abel schreibt in seiner Nietzsche-Monographie: „Zarathustra ist Physis-Philosoph“(13) und bringt damit – ob gewollt oder nicht – die Nähe zwischen Nietzsche und Aristoteles, die sich eben in diesem Punkt einer sich selbst hervorbringen, ewigen Welt findet, zum Ausdruck.

Die Frage der Transformation, der Umwandlung, der Bewegung und Entwicklung – sei es kleinste Organismen, Menschen oder Gesellschaften betreffend – ist keine Frage nach dem Zweck oder dem Ziel, um dessentwillen dieser Prozess passiert und ebenso wenig die Suche nach einem Idealzustand, sondern ist innerstes Prinzip des Lebens und des Geschehens selbst – die Zwecke als zu erreichende Zustände sind sekundär und ebenso variabel und bewegt wie die Formen, die immer in Beziehung zueinander stehen, die sich berühren und befördern, hemmen, zerstören und wieder hervorbringen...


Fußnoten:

1 Horst Seidl, Aristoteles’ Metaphysik, Einleitung, XXVII
2 Gilles Deleuze, Differenz und Wiederholung, 87
3 Martin Heidegger, Vom Wesen und Begriff der Φύσις, in: Wegmarken, 245
4 Aristoteles, Physik α 2, 185 a12
5 Aristoteles, Physik b 1, 193 a28 – b8
6 Martin Heidegger, Vom Wesen und Begriff der Φύσις, in: Wegmarken, 275
7 Horst Seidl, Aristoteles’ Metaphysik, Einleitung, XXVII
8 Anton Zeilinger, Einsteins Schleier, 230
9 Gilles Deleuze, Nietzsche und die Philosophie, 46
10 Wolfgang Müller-Lauter, Über Werden und Wille zur Macht – Nietzsche Interpretationen I, 40
11 Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente, 14 [188]; KSA 13, 374
12 Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, Drittes Hauptstück, 57; KSA 5, 75
13 Günter Abel, Nietzsche – Die Dynamik der Willen zur Macht und die ewige Wiederkehr, 154

6.9. Touching Society

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For quotation purposes:
Ferdinand Auhser: Bezugs-Formen / Touching Society - l In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 17/2008. WWW: http://www.inst.at/trans/17Nr/6-9/6-9_auhser.htm

Webmeister: Gerald Mach     last change: 2010-01-28