TRANS Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 17. Nr.
Februar 2010

Sektion 7.1. Kreativität und Gedächtniskulturen
Sektionsleiter | Section Chair: Isozaki, Kotaro (Meiji Gakuin University/Japan)

Dokumentation | Documentation | Documentation


Fiktivität und Kreativität des kollektiven Gedächtnisses –
zu Maurice Halbwachs’ Freud-Rezeption

Kotaro Isozaki (Meiji Gakuin University/Japan) [BIO]

Email: kisozaki@gen.meijigakuin.ac.jp

 

Halbwachs Freud-Rezeption

Maurice Halbwachs (1877-1945) wird als einer der wichtigsten Anreger für die kulturwissenschaftliche Problematisierung von Erinnerung und Gedächtnis(1) angesehen. Anders als sein Zeitgenosse Sigmund Freud (1856-1939), dessen Gedächtniskonzept auf individuelle Erinnerungsprozesse ausgerichtet ist, konzeptualisiert Halbwachs das Gedächtnis als erster konsequent als soziales Phänomen. So bezeichnet man Halbwachs und Freud in Hinblick auf die Individualität und Kollektivität des Gedächtnisses als zu zwei anderen Polen gehörende. Dies ist überzeugend, insofern sich Freud auf dem Weg der Suche nach dem Inneren seiner Patienten mit der Gedächtnisproblematik auseinandersetzt, und es sich daher bei ihm in erster Linie um einen variablen Geisteszustand des Individuums handelt, während nach Halbwachs, im Unterschied zu seinem Lehrer Bergson, alle Erinnerungen, sogar persönlichste, erst in Bezug auf das Kollektiv, zu dem das erinnernde Subjekt gehört, entstehen. Tatsächlich rezipierte Halbwachs als Soziologe Freud und seine Traumdeutung kritisierend. Er versucht im Werk Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen gegen Traumdeutungen, die u.a. Freud versuchte, Einwände zu erheben. Dabei ist die Rede einerseits von „unveränderter Traumwiederkehr eines Kindererlebnisses“(2), d.h. von richtigen Erinnerungen. Gegen Freuds Erklärung, dass der Traum in der Regel „nur Bruchstücke von Reproduktionen“ bringe, bemerkt Halbwachs also, dass oft „ein Traum ein Erlebnis ebenso vollständig wiederholt, wie unsere Erinnerung im Wachen es vermag“(3).

   Andererseits greift er beim Entwurf seines Gedächtniskonzepts auf Freuds Traum von Irmas Injektion zurück.

Es handelt sich um die Gruppe, zu der Irma, Otto, Dr. M., Freud selbst gehören, mit den in ihr sich entwickelnden Rivalitäten, den Urteilen, die jeder über den anderen hat [...]; die engen Beziehungen zwischen Irmas Familie und der seinen, die erklären, daß er sie duzt und daß er, wie wir gleich sehen werden, bei ihrem Auftauchen an seine Frau und an seine Tochter denkt; eine ganze Vielfalt von medizinischen, chemischen usw. Ausdrücken bezeichnen einen Beruf; er zieht einen Fall von Berufsgewissen mit allen Regeln und Prinzipien herbei: all das sind Kollektivgegebenheiten, die in das isolierte Bewußtsein des Träumenden eingedrungen sind und die nur aus dem sozialen Milieu des Wachheitszustandes hervorgegangen sein konnten.(4)

Freud interpretiert selbst seinen Traum als eine Wunscherfüllung. Da verstecken sich u.a. zwei Wünsche: Einerseits will er „seine Veranwortung loswerden und feststellen, daß bei Nichtgelingen der Behandlung Irma mit einem organischen Leiden behaftet war“. Andererseits will er „erklären, daß es ihr wegen der ungeschickten und unvorsichtigen Zwischenbehandlung durch Otto noch schlechter ginge“.(5) Halbwachs denkt deshalb, Freud richtet seine Aufmerksamkeit auf „das isolierte Bewußtsein des Träumenden“, aber ihm sind als dessen Relevanzrahmen „Kollektivgegebenheiten“ wichtiger. Hier erkennt man, dass Halbwachs anhand Freuds Analyse das aufs Kollektiv bezogene Gedächtniskonzept beschreiben will, das er vom individuellen Gedächtnis im psychoanalytischen Sinne abzugrenzen versucht.

 

2. Fiktivität von Kindheitserinnerungen

Halbwachs’ Gedanke, das individuelle Gedächtnis als mit dem kollektiven verbunden zu betrachten, zeigt sich am deutlichsten beim Familienwesen. Halbwachs schreibt im Gedächtnis und seinen sozialen Bedingungen:

Die Erinnerungen einer Familie entwickeln sich tatsächlich im Bewußtsein der verschiedenen Mitglieder der Familiengruppe als auf ebensovielen verschiedenen Böden; selbst wenn sie beisammen sind, erst recht aber wenn sie im Leben voneinander getrennt sind, erinnert sich jeder von ihnen auf seine Weise an die gemeinsame Familienvergangenheit.(6)

Die Familie spielt durch den „dauernde[n] Austausch von Meinungen und Eindrücken“(7) für ihre Mitglieder eine entscheidende Rolle, und daher bleibt sie einflussreich auch später, als die Mitglieder die Familie verlassen. Allerdings beschränkt sich die Familie im Sinne von Halbwachs nicht auf die Geburtsfamilie. Diese Gruppe variiert „durch Geburt, Heirat oder anders“(8) und das erweiterte Verwandschaftsverhältnis kann sich in vielen Gesellschaften durch verschiedene Momente, z.B. „durch den Ort, den sie ausfüllt, durch den Beruf, den ihre Mitglieder ausüben, durch ihr gesellschaftliches Niveau usw. definieren“(9). Halbwachs konzipiert, dass die Familie variabel und verschieden ist, und von weiteren Gruppen wie etwa einer religiösen umlagert ist. Jede Gruppe hat ihre eigenen Traditionen, Gewohnheiten und Denkarten usw., die man das Gedächtnis nennen soll. Eine dieser Gruppen heißt die Familie. Allerdings ist sie eine unersetzliche Gruppe, die „ihre Aurorität und ihren Zusammenhalt wahrt“(10).

Im Gedächtnis und seinen sozialen Bedingungen begründet er seine Kritik an Freud insbesondere mit dem Argument der „exakten Erinnerung“, bzw. der „reine[n] und einfache[n] Reproduktion dessen, was ich [= Halbwachs] in diesem oder jenem Augenblick, diesem oder jenem Ort getan und gesehen habe“. Aber später befasst er sich auch mit dem unzuverlässigen Charakter der Erinnerung. In seinem Nachlass Das kollektive Gedächtnis geht es wiederum um das Familiengedächtnis. Hier schreibt er, dass Kinder in erster Linie zu ihrer Familie gehören, und deshalb alle Erinnerungen der Kinderzeit auf irgendeine Art an die Familie gebunden sind. Vorstellungen der Kinder werden immer von sozialen Gruppen wie der Familie beeinflusst. Dafür zitiert Halbwachs Passagen aus Stendhals Vie de Henri Brulard, Benvenuto Cellinis Vita, Charles Blondels Revue Philosophique und Rousseaus Emile und macht diese literarischen und philosophischen Werke zum Gegenstand seiner Betrachtung.(11) Über die Kindheitserinnerung in Vie de Henri Brulard Stendhals äußert Halbwachs z.B. Folgendes:

Ebenso erinnert er [=Stendhal] sich, eines Tages ein Maultier gekniffen zu haben, das ihn daraufhin umstieß. „ ,Ein wenig mehr, und er war tot‘, sagte mein Großvater. Ich stelle mir das Geschehen vor, aber wahrscheinlich ist dies keine direkte Erinnerung, sondern nur die Erinnerung an das Bild, das ich mir sehr früh, zur Zeit der ersten Schilderungen, die man mir gab, von der Angelegenheit machte“ (Vie de Henri Brulard, S. 31 und 58). Ebenso verhält es sich mit vielen der sogenannten Kindheitserinnerungen. Die früheste, auf die zurückgehen zu können ich lange Zeit geglaubt habe, war unsere Ankunft in Paris. Ich war damals zweieinhalb Jahre alt. Wir stiegen abends die Treppe hinauf (die Wohnung lag im vierten Stock), und wir Kinder bemerkten ganz laut, daß man in Paris auf dem Speicher wohne. Nun, daß einer von uns diese Bemerkung gemacht hat, ist möglich. Aber es war natürlich, daß unsere Eltern, die sie belustigt hat, sie behalten und uns später wiedererzählt haben. Ich sehe noch unser erleuchtetes Treppenhaus, aber ich habe es seitdem sehr oft gesehen.(12)

In Hinblick auf die von Stendhal beschriebene Kindheitserinnerung zieht Halbwachs seine eigene in Betracht und schließt, dass man an ihrer Wahrheit zweifeln soll. Denn diese entstehen, sowohl bei Stendhal als auch bei Halbwachs, erst später durch die Erzählung anderer Leute, meistens der Eltern. Insofern können sie fiktiv sein. Allerdings lässt er außer Acht, dass die Literatur zu Phantasieprodukten gehört. Er nimmt sie ernst und erkennt keinen qualitativen Unterschied zwischen der Literatur und seiner eigenen Erfahrung, d.h. zwischen Fiktion und Realität. Halbwachs versucht, in der Literatur dargestellte Kindheitserinnerungen als allgemeingültiges Modell der kollektiven Gedächtnisse zu interpretieren. In dieser Hinsicht beschäftigt er sich mit der Arbeit der Literaturkritik und versucht, literarischen oder philosophischen Texten einen sozialen Sinn zu geben.(13) Andererseits betrachtet er die im Kopf gespeicherten Erinnerungen mit Misstrauen. Weniger die Literatur als das Gedächtnis selbst bzw. wiedererzählte Kindheitserinnerungen erregen in ihm Zweifel.

Wiederum zeigt Freuds Psychoanalyse am deutlichsten, dass Kindheitserinnerungen nicht unbedingt mit originellen Erfahrungen einer Person korrespondieren, sondern nur mit erst nachher rekonstruierten Images. Ihr Inhalt, wenn er auch scheinbar sinnlos wäre, spielt daher irgendeine Rolle in einer späteren Phase, d.h. zu dem Zeitpunkt, wo sich ein Erwachsener an die Kindheit erinnert. In Über Deckerinnerungen beachtet Freud diesen zeitlichen Abstand zwischen Erlebnissen und Gedächtnisbildern. Die Bilder, die oft im Kopf auftreten, aber deren Sinn nicht zu verstehen ist, gewinnen trotzdem an Wert, sofern sie sich mit wichtigen Ereignissen der späteren Zeit, wie etwa einer Liebesbeziehung, wegen irgendeiner Verwandschaft zwischen zeitlich distanzierten Szenen verbinden und später erhaltene Eindrücke und Gedanken vertreten.(14) Die Kindheitserinnerungen verlieren im Lauf der Zeit zum Teil erheblich an Realitätsbezug, und sind daher vieldeutig und betrügerisch. Zur Unzuverlässigkeit des Gedächtnisses bemerkt er am Ende von Über Deckerinnerugen:

Vielleicht ist es überhaupt zweifelhaft, ob wir bewußte Erinnerungen aus der Kindheit haben, oder nicht vielmehr bloß an die Kindheit. Unsere Kindheitserinnerungen zeigen uns die ersten Lebensjahre, nicht wie sie waren, sondern wie sie späteren Erweckungszeichen erschienen sind. Zu diesen Zeiten der Erweckung sind die Kindheitserinnerungen nicht, wie man zu sagen gewohnt ist, aufgetaucht, sondern sie sind damals gebildet worden, und eine Reihe von Motiven, denen die Absicht historischer Treue fern liegt, hat diese Bildung sowie die Auswahl der Erinnerungen mitbeeinflußt.(15)

Das Wort „Bildung“ leitet sich vom Lateinischen „fictio“ ab. Was im Kopf bleibt, ist subjektiv durchtränkt. Insofern ist das Gedächtnis weniger Tatsache als Erdichtung, und eine echte Kindheitserinnerung, d.h. ein authentisches Erlebnis selbst, kann niemals zurückkommen. Man soll Freud weniger den Vater der ,Modeerscheinung der wiedergefundenen Erinnerungen‘ („the recovered memory fad“)(16) als den der Postmoderne nennen, denn er beweist, dass vieles, was man für sicher hält, doch auf schwankendem Boden steht, inklusive des Gedächtnisses.(17) Einerseits muss man den betrügerischen Charakter des Gedächtnisses berücksichtigen, andererseits bei der Erforschung der Psyche das Fiktive zunächst ernst nehmen, d.h. es als Realität des Patienten begreifen und untersuchen, sonst würde jede Psychoanalyse ihre Gültigkeit verlieren.

 

Kreativität des Gedächtnisses

Die Relation zwischen dem Gedächtnis und der Vergangenheit ist nicht nur widersprüchlich, sondern auch paradox. Das Erinnerte ist irgendwie auf die Vergangenheit bezogen (Voraussetzung bzw. Hypothese). Sucht man gerade deshalb nach dieser Vergangenheit (Reflexivität), worauf die Erinnerung zurückgehen sollte, erkennt man dazwischen Uneinigkeiten (Paradoxa). Rätselhafte Gedächtnisbilder provozieren notwendigerweise eine Analyse, trotzdem weichen sie ihr immer aus und wirken sogar als Widerstand gegen die Analyse.(18) Dies zeigt sich in der bekannten Stelle aus Freuds Traumdeutungen:

In den bestgedeuteten Träumen muß man oft eine Stelle im Dunkel lassen, weil man bei der Deutung merkt, daß dort ein Knäuel von Traumgedanken anhebt, der sich nicht entwirren will, aber auch zum Trauminhalt keine weiteren Beiträge geliefert hat. Dies ist dann der Nabel des Traums, die Stelle, an der er dem Unerkannten aufsitzt. Die Traumgedanken, auf die man bei Deutung gerät, müssen ja ganz allgemein ohne Abschluß bleiben und nach allen Seiten hin in die netzartige Verstrickung unserer Gedankenwelt auslaufen. Aus einer dichteren Stelle dieses Geflechts erhebt sich dann der Traumwunsch wie der Pilz aus seinem Mycelium.(19)

Der „Knäuel von Traumgedanken“ oder „der Nabel des Traums“ stört die Deutung. Wegen dieses Hindernisses kann man nicht genau erläutern, worauf Gedächtnisbilder im Traum hinweisen und was für eine Realität als relevante Quelle besteht. Dieser Bruch zwischen Trauminhalt und Deutung zeigt wohl auch, dass das Erinnerte mit Ereignissen immer nicht ganz übereinstimmt. Bei all dem stellt sich aber die Frage, welche Rolle dieser Bruch spielt. Dieter Mersch bemerkt aus kulturwissenschaftlicher Sicht zur Kreativität als Bedingungen kultureller Produktivität:

Kreativität erweist sich mithin als ein nicht feststellbarer Begriff. Seine Modellierung führt auf die Erfahrung von Differenz, die einen Bruch oder eine Kluft festhält, die in keiner bestimmten Richtung auflösbar scheint, jedoch einen ,Sprung‘ initiiert, aus dem Neues und Anderes hervorgehen kann. Eine solcher Differenzsetzungen bildet das Paradox. Es bezeichnet keine Figur der Schließung, der Öffnung, der Passage und Übergänglichkeit. Ebenso sehr setzt es Reflexivität voraus, wie es diese induziert und dort in Bewegung setzt, wo noch Bewegung fehlt. Am Rande des Sagbaren oder Darstellbaren erzeugt es damit Unentscheidbarkeitsmomente, an denen Nichtbestimmtes oder Unvorhersehbares einbricht. Als Orte nichtantizipierbarer ,Ereignisse‘ lassen sich Paradoxa deshalb als Boten von Alternativen verstehen, woran der kreative Impuls sich entzünden kann.(20)

Das Gedächtnis ist mehr oder weniger Neues und Anderes, was sich von originären Erfahrungen differenzieren. Und ein Bruch oder eine Kluft dazwischen kann als Schöpfungsquelle fungieren. Die Differenz bezeichnet man als Orte nicht antizipierbarer ,Ereignisse‘, woaus der kreative Impuls sich entzünden kann. Das bedeutet allerdings nicht, dass das Gedächtnis immer und notwendigerweise Kreativität auslöst, sondern lediglich ermöglicht.

Um noch einmal auf Freuds „Nabel des Traums“ zurückzugreifen, hat das dort beschriebene Hindernis zwischen Trauminhalt und Deutung verschiedene nachfolgende Beschäftigungen ausgelöst, z.B. Lacans oder Derridas.(21) Außerdem findet man das Image des Knäuels auch in Kunstproduktionen, die das Gedächtnis thematisieren. Der japanische Künstler Tetsumi Kudo (1935-1990) schuf ein Kunstwerk mit dem Titel: „Marcel Duchamp in unendlichen Fäden: Meditation zwischen programmierter Zukunft und registriertem Gedächtnis“ (1977). Im folgenden Bild(22) sieht man, dass Duchamp im Käfig meditiert. Er will die Fäden des Gedankens und des Gedächtnisses frei entfalten, aber der Käfig, der sowohl die Programmierung als auch die Registrierung andeutet, schränkt seine Tätigkeit ein. Die Fäden würden sich eigentlich vom Kopf des Menschen weg nach außen strecken, aber sie wachsen nicht geradeaus weiter, sondern verwirren sich und werden zu größeren Knötchen. Dieses Beispiel veranschaulicht diese Knäuel, also den Bruch zwischen Gedächtnis und Wirklichkeit.

Tetsumi Kudo: Marcel Duchamp in unendlichen Fäden: Meditation zwischen programmierter Zukunft und registriertem Gedächtnis

 

Gedächtnis und Imagination

Wenn die Differenz zwischen Gedächtnisbild und Realität schöpferische Produktivität provoziert, spielt dabei die Einbildungskraft bzw. Imagination eine Rolle. Die Theorie dieses Attributs „Imagination“ hat eine lange Geschichte von der Antike bis zum 19. Jahrhundert. Durchgängig wurde die kreative Produktivität an Prozesse der „phantasia“ oder „imaginatio“ gebunden – beide Ausdrücke nannten ursprünglich dasselbe, obgleich der Wechsel vom Griechischen zum Lateinischen bereits einen Platzwechsel bedeutete und die Nuancen verschob: von „phainestai“, dem Erscheinen, zu „imago“, dem Bild im Doppelsinn von Vorstellung und Trugbild.(23) Aber dann erfuhren beide Ausdrücke eine charakteristische Umwertung. Besonders seit dem 18. Jahrhundert denkt man die zügellose Einbildungskraft im Gegenteil zur Vernunft:

Als Stätte von Traum und Chaos, von Täuschung und Illusion wurde ihr zwar ein produktives Moment zugebilligt, doch zum Preis, dass ihr tendenzieller Überschuss gleichwohl beständig unter Verdacht geriet. Auf diese Weise ist eine Diskursgeschichte eröffnet, die zugleich die Geschichte einer Rivalität erzählt, die zwischen der Anerkennung der imaginatio als schöpferischer potentia, sowie der Aberkennung ihrer Wahrheitstauglichkeit hin- und herschwankte. Die Imagination, obzwar als allgemeine Fähigkeit des Menschen akzeptiert, oblag in ihrem Gebrauch vor allem dem Künstler, der seine Freiheit jedoch mit der Nähe zum Wahnsinn bezahlte, solange er nicht der Form, der Regel gehorchte, während die Wissenschaft die Einbildung auszuschließen suchte, insofern diese für die Lüge anfällig blieb und die Wahrheit allein durch diskursive Vernunft gesichert werden konnte.(24)

Vom imaginären Charakter des Gedächtnisses zu sprechen – dieser Standpunkt gilt als vernünftig und wissenschaftlich. Bei der Kritik an Freud durch Halbwachs geht es genau um diesen Punkt. Als Halbwachs, aber auch Freud danach fragt, ob Erinnerungen mit vergangenen Tatsachen übereinstimmen, setzen sich beide von ihrem jeweiligen wissenschaftlichen Standpunkt, dem psychoanalytischen bzw. dem soziologischen, mit der Problematik der Wahrheit und Wahrheitstauglichkeit auseinander.

Was ist nun aber die schöpferische „potentia“? Wie wir am Werk des japanischen Künstlers gesehen haben, so gibt es dafür unzählige Beispiele. Literarische Werke zählen zum Lieblingsgegenstand der Überlegungen, sowohl für Freud als auch für Halbwachs. Ein Beispiel davon ist der Spaziergang durch London aus dem kollektiven Gedächtnis Halbwachs’:

Als ich zum ersten Mal in London war [...] brachten mir viele Eindrücke die Romane von Dickens in Erinnerung, die ich in meiner Kindheit gelesen hatte: so ging ich dort also mit Dickens spazieren. Von keinem dieser Augenblicke, von keiner dieser Situationen kann ich sagen, daß ich allein war, daß ich allein nachdachte; denn in Gedanken versetzte ich mich in diese oder jene Gruppe – in die, die ich mit dem Architekten und darüber hinaus mit jenen Menschen, deren Interpret er nur für mich war, oder in die, die ich mit dem Maler (und seiner Gruppe) bildete, mit dem Geometer, der den Stadtplan gezeichnet hatte, oder mit einem Romancier.(25)

„Diese oder jene Gruppe“ vermittelt dem Ich-Erzähler die Vorstellungen von London. Zu den erinnerten Gruppen zählen nicht nur seine Mitreisenden, sondern auch „die Romane von Dickens“ und sogar der „Stadtplan“. Bei den Romanen und dem Stadtplan handelt es sich nicht um eine wirkliche, mündliche Kommunikation zwischen Menschen, sondern um eine innerliche Kommunikation mit den Gegenständen, bzw. die durch sie aufgerufenen Erinnerungen. In diesem Sinne ist diese Erinnerung eine phantasievolle bzw. kreative Bearbeitung von literarischen und kulturellen Produkten. Dieses Gedächtniskonzept selbst zählt gewissermaßen zu den Phantasieprodukten.

  Allerdings ist die Tatsache nicht zu übersehen, dass das Gedächtnis auch als „mémoire involontaire“ fungieren kann und nicht von spontaner Erinnerung abhängt. Davon hat nicht nur Freud, sondern auch Halbwachs Kenntnis, obwohl der letztere darauf nur anspielend schreibt. So geht es bei ihm um das Verhältnis des Individuums zum differenzierten Kollektiv, bzw. zu ausgedehnten und verzweigten Gruppen. Ein Mensch als soziales Wesen ist Mitglied nicht nur in seiner Familie, sondern auch in vielen anderen Gruppen. So gibt es in der Gesellschaft unzählige kleinere Gruppen, die den Lebensstil oder die Denkart ihrer Mitglieder beeinflussen.

Die Gruppen verwandeln, zerstreuen sich, so daß es vorkommt – selbst wenn wir an Ort und Stelle bleiben und die Gruppe nicht verlassen –, daß sie durch eine langsame oder rasche Erneuerung ihrer Mitglieder tatsächlich eine andere Gruppe wird, die nur wenige Traditionen mit jenen Mitgliedern gemeinsam hat, die sie anfangs bildeten. [...] Gewiß, diese neueren Gruppen sind bisweilen nur Unterabteilungen einer Gesellschaft, die sich ausgedehnt und verzweigt hat, der sich neue Gesamtheiten eingegliedert haben. Wir unterscheiden in ihnen indessen verschiedene Zonen, und wenn wir von der einen in die andere überwechseln, sind es nicht dieselben Denkströmungen und Erinnerungsfolgen, die unser Bewußtsein durchziehen.(26)

Da die Gruppen sich verwandeln und zerstreuen, passiert es oft, dass eine Gruppe zu einer anderen wird und man von einer Gruppe in eine andere hinüberwandert. Wie sich das Individuum als eine Reihe von „Denkströmungen und Erinnerungsfolgen“ bezeichnet, so ist es denkbar, dass es beim Eintritt in eine neue Gruppe in seinem Bewußtsein Veränderungen erleidet oder sich von seiner Vergangenheit abgeschnitten fühlt. Aber man sieht auch oft, dass sich neue Gruppen unter einer größeren Gesellschaft mit den vorangegangenen Gruppen irgendwo überlappen. Aus der Sicht eines Mitglieds zeichnen sich zwischen den es umfassenden Gruppen sowohl Differenzen als auch Ähnlichkeiten ab.

Durch die Verwandlung oder Zerstreuung setzen sich Gruppen bzw. Kulturen im Sinne der örtlichen Erweiterung wiederum in Relation, dabei sollen ihre Mitglieder anhand Differenzen und Ähnlichkeiten ihrer Identität und Gedächtnisinhalte einen neuen Kontakt aufnehmen. Aber diese Verwandlung oder Zerstreuung der Gruppen kann eine unweigerliche Folge vom menschlichen Wandel sein. Wenn eine Person in Kriegsdiensten steht und ein kollektives Gedächtnis im Militär teilen muss, kann diese Erfahrung später als kreative Produktivität fungieren? Es ist vielmehr möglich, dass sie im Unbewussten bedrohend wirkt. So sind z.B. Traumata als „mémoire involontaire“ bekannt. Allerdings ist es ist wohl auch möglich, dass „mémoire involontaire“ schöpferische Produktivität hervorbringt. Denn man schätzt ein Produkt wie etwa Kriegsliteratur, die von „mémoire involontaire“ ausgeht, oft als kreativ ein.

 

Schlussbemerkung

Bei der Frage, ob das Gedächtnis fiktiv oder kreativ ist, geht es weniger um das Gedächtnis selbst, als eher um seinen Output, d.h. die Leistung des Gedächtnisses. Die Doppeldeutigkeit der Imagination, also ob ihre Kraft als positives spontanes Vermögen oder als negative betrügerische Quelle bezeichnet wird,(27)entsteht, wenn man sie nach wissenschaftlichen Kriterien untersucht. Die Kreativität des Gedächtnisses, d.h ihre phantasievolle Produktivität interessiert Halbwachs und Freud, aber als Wissenschaftler müssen sie den betrügerischen Charakter nachweisen. Diese Ambivalenz erkennt man eindeutig am Prozess Halbwachs’, welcher im früheren Werk Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen anhand exakter Erinnerungen Freud kritisierend rezipiert, aber im Spätwerk Das kollektive Gedächtnis umgekehrt die Unzuverlässigkeit von Erinnerungen betont.

Man kann sagen, das Gedächtnis ist eine Mischung aus vergangenen, gegenwärtigen und künftigen Phänomenen im Sinne, dass das Erinnerte als Rekonstruiertes zeitlichen Wirkungen der Gegenwart, aber auch der Zukunft unterliegt. Denn bekanntlich beeinflusst eine Vorausschau auf die Zukunft den Akt des Erinnerns, wie man etwa anhand einer Aussage eines Angeklagten, der vor Gericht steht und einen kommenden Urteilsspruch fürchtet, sieht. Denn zwischen diesen zeitlichen Leerstellen nistet sich notwendigerweise die Imagination ein. Wie man aber auch in der traditionellen Gedächtniskunst (ars memorativa) seit der Antike sieht, so ist ein Mensch fähig, das Gelernte als Kenntnis wiederzugeben. Das Erinnerte lappt zweifellos in gewisser Hinsicht vergangene Tatsachen übereinander. Sonst gäbe es keine Identität als eine Reihe von „Denkströmungen und Erinnerungsfolgen“. Die Überlappung heißt aber nicht die Übereinstimmung. Durch einen zeitlichen Abstand, der die Imagination hervorruft, entsteht zwischen Gegenwart und Vergangenheit eine Kluft und diese rätselhafte Quelle kann einerseits als „mémoire involontaire“ das Subjekt bedrohen, aber andererseits schöpferische Produktionen ermöglichen.

 


Anmerkungen:

1 „Gedächtnis“ bezeichnet im Allgemeinen den Vorrat oder Speicher an Wissen über Vergangenheit, „Erinnerung“ den Akt der Vergegenwärtigung. Vgl. dazu Erll, Astrid: Literatur und kulturelles Gedächtnis: Zur Begriffs- und Forschungsgeschichte, zum Leistungs- vermögen und zur literaturwissenschaftlichen Relevanz eines neuen Paradigmas der Kulturwissenschaft. In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 43 (2002). S. 249-276. S. 249.
2 Halbwachs, Maurice: Das Gedächtnis und seine soziale Bedingungen. Aus dem Französischen von Lutz Geldsetzer. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1985. S. 29
3 Ebd., S. 28.
4 Ebd., S. 75.
5 Ebd., S. 74.
6 Ebd., S. 203.
7 Ebd.
8 Ebd., S. 204.
9 Ebd., S. 214.
10 Ebd., S. 207.
11 Erll, Astrid: „Mit Dickens spazieren gehen“ Kollektives Gedächtnis und Fiktion. In: Echterhoff, Gerald / Saar, Martin: Kontexte und Kulturen des Erinnerns: Maurice Halbwachs und das Paradigma des kollektiven Gedächtnisses. Mit einem Geleitwort von Jan Assmann. Konstanz: UVK 2002. S. 253-266. S. 255f.
12 Halbwachs, Maurice: Das kollektive Gedächtnis. Mit einem Geleitwort zur deutschen Ausgabe von Heinz Maus. Aus dem Französischen von Holde Lhoest-Offermann. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1985. S. 17.
13 Vgl. Erll, a.a.O. (Anm. 11), bes. S. 256.
14 Vgl. Freud, Sigmund: Über Deckerinnerungen. In: Ders.: Gesammelte Werke. Chronologisch geordent. Unter Mitwirkung von Marie Bonaparte u.a. hrsg. von Anna Freud u.a. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1999. Bd. 1. S. 529-554.
15 Ebd., S. 553f.
16 In den 80er und 90er Jahren des letzten Jahrhunderts wurde es zur Mode, dass viele, meistens unerfahrene Therapeuten, die sich auf Freuds Theorien unüberlegt verließen, Kindheitserinnerungen von sexuellen Missbrauchserlebnissen als Tatsachen hinnahmen, und ihre Patienten hypnotisierten. Aber nachher trat zutage, dass ihre Geständnisse durch Phantasie produziert worden waren. Vgl. etwa Knecht, Thomas: Erfunden oder wiedergefunden? – Zum aktuellen Stand der „Recovered Memory“-Debatte. In: Schweizerisches Medizin-Forum 43 (2005). S. 1083-1087. Hier S. 1083.
17 Vgl. Mollon, Phil: Freud and False Memory Syndrome. Cambridge: Icon Books 2000. Bes. S. 56f. u. S. 65.
18 Derrida, Jacques: Vergessen wir nicht die Psychoanalyse! 2. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1998.
19 Freud, Sigmund: Die Traumdeutung In: Ders.: Gesammelte Werke. Chronologisch geordent. Unter Mitwirkung von Marie Bonaparte u.a. hrsg. von Anna Freud u.a. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1999. Bd. II / III. S. 1-642, hier S. 530.
20 Mersch, Dieter: Imagination, Figuralität und Kreativität. Zur Frage der Bedingungen kultureller Produktivität. In: Sic et Non. Zeitschrift für Philosophie und Kultur. Im Netz (2005), S. 1-12 (http://www.sicetnon.org/content/perform/Mersch_Imagination.pdf), S. 12.
21 Vgl. dazu Lacan, Jacques: Les quatre concepts fondamentaux de la psychanalyse. Paris: le Seuil 1973, S. 26 und Derrida, a.a.O.
22 Taylor, Michael R. / Kawai, Tetsuo / Kitayama, Kenji / Hirayoshi, Yukihiro: Mirrorical Returns. Marcel Duchamp and the 20th Century Art [Catalogue]. Tokyo: The Asahi Shinbun o.J. S. 141.
23 Vgl. Marsch, a.a.O., S. 3.
24 Ebd., S. 4.
25 Halbwachs, a.a.O. (Anm. 12), S. 3.
26 Ebd., S. 74.
27 Dazu etwa bezeichnet Immanuel Kant in seiner Anthropologie in pragmatischer Hinsicht das positive Vermögen der „Intention“ als „willkürliche Phantasie“ und das negative des gaukelspielerischen Traums als „unwillkürlich“. Vgl. Marsch, a.a.O., S. 4.

7.1. Sektionstitel

Sektionsgruppen | Section Groups | Groupes de sections


TRANS
 Inhalt | Table of Contents | Contenu  17 Nr.
INST

For quotation purposes:
Kotaro Isozaki: Fiktivität und Kreativität des kollektiven Gedächtnisses – zu Maurice Halbwachs’ Freud-Rezeption - In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 17/2008. WWW: http://www.inst.at/trans/17Nr7-1/7-1_isozaki17.htm

Webmeister: Gerald Mach     last change: 2010-02-23