TRANS Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 17. Nr. März 2010

Sektion 7.11. Dokumentarfilme und -ausstellungen als kreatives Handwerk des Wissens
Sektionsleiterin | Section Chair: Antoaneta Tcholakova (Wien)

Dokumentation | Documentation | Documentation


Der Dokumentarfilm zwischen Sein und Schein

Svetoslav Ovcharov (Bulgarische Theater und Filmakademie, Sofia)

 

 

Am Anfang waren August und Louis Lumiere.... Wenn es nach den Amerikanern geht, war am Anfang Edisson, aber als Menschen aus Europa halten wir uns an der europäischen Herkunft des Kinos.

Das Problem, mit welchem wir uns befassen, existiert schon seit dessen (des Kinos) Geburt. Die erste öffentliche Kinovorführung am 28. Dezember 1895 wird von seinen Autoren, aber auch vom Publikum, eher als Demonstration einer technischen Errungenschaft betrachtet und weniger als die Geburt eines neuen Massenmediums.

Das Programm dieser Vorführung enthält um die zehn Filme (“Niederreißen einer Wand”, “Das Frühstück des Babys”, “Herausfahren eines Bootes ins Meer“, “Ankunft des Zuges am Bahnhof “Siota“ u.s.w.), wobei wir fast alle von ihnen als “Dokumentarfilme“ bezeichnen können. Wenn wir annehmen, dass die Wurzel dieses Begriffes im lateinischen Wort dokumentum (Zeugnis, Beweis) liegt, dann können wir uns darauf einigen, dass - als ein auf die Emulsion geprägtes Bild - das Dokumentarkino ein Beweis dafür ist, dass Personen und Ereignisse vor dem Objektiv des laufenden Apparats gestanden haben. In der Regel nimmt man an, dass das wichtigste Grundprinzip, welches die Dokumentation charakterisiert, dasjenige ist, dass sie tatsächliche, in Wirklichkeit laufende oder gelaufene Vorkommnisse und Ereignisse, sowie Darstellungen realer Personen und deren realer Erlebnisse festhält. Die Illusion der Realität wird vor allem vom photographischen Charakter der Darstellung getragen.

An dieser Stelle erlaube ich mir 46 Sekunden Ihrer Zeit in Anspruch zu nehmen, um Sie an den unumstritten, zuerst aufgenommenen Film der Brüder Lumiere ”Herauskommen der Arbeiter aus der Fabrik Lumiere” zu erinnern. Eigentlich existieren etliche Varianten dieses Films, die zwischen  Sommer 1894 und Frühling 1895 gedreht worden sind. Das Gemeinsame bei ihnen ist, dass alle jeweils 17 Meter lang sind - das ist die damalige Standartlänge der Kodak-Filme. Die begrenzte Filmlänge im Aufnahmeapparat führt noch im ersten aufgenommenen Film zur Intervention der Organisatoren des Aufnahmeprozesses. Bitte, achten Sie darauf, dass der Film, den Sie gesehen haben, durch das Öffnen des Fabriktors und dessen Schließen gerahmt ist. Mehr als hundert Personen, ein paar Fahrradfahrer und ein großer Hund schaffen es in diesen 46 Sekunden sich durch das Tor zu zwängen. Wir können uns die Frage stellen: waren die Arbeiter in der Fabrik so schnell, dass sie sich organisieren konnten, das Gebäude in weniger als einer Minute zu verlassen? Die wahrscheinlichste Antwort ist - nein. Diese Arbeiter agieren eher als Massenszene in einem Spielfilm, wo sie die Anweisungen eines Regisseurs befolgen. Auf diese Weise ist der Dokumentarfilm noch bei seiner Geburt durch den Verdacht gezeichnet, ob das, was wir auf der Leinwand sehen, eine reine photographische Abbildung des lebendigen Lebens ist, oder “sieht es nur so aus”, “ahmt es die Wirklichkeit nach”. Wir müssen auch die Tatsache beachten, dass beim Herausgehen aus der Fabrik die Arbeiter sich in zwei Ströme teilen, die sich strikt nach links oder nach rechts richten. Nicht einer der Arbeiter bewegt sich geradeaus Richtung Kamera, obwohl das der kürzeste Weg ist. Den Grund dafür müssen wir in der Tatsache suchen, dass die Arbeiter WISSEN, das sie aufgenommen werden. Aus technischen Gründen (um im Fokus zu sein, um nicht das Objektiv der Kamera zu verdecken u.s.w.) bewegen sie sich nicht in ihrer üblichen Art, sondern erfüllen erteilte Anweisungen. Diese Verhaltensweise der Arbeiter lässt uns die kräftige Einmischung des Vermittlers bei der Entstehung des Dokumentarfilms - der Kamera und des Menschen, der hinter ihr steht, erkennen. Es ist offensichtlich, dass abhängig von der Platzierung der Kamera, dem Rekurs, der Bewegung u.s.w., das Publikum ein verschiedenes Bild des Ereignisses auf der Leinwand bekommen würde. Ich will nun meine kurzen Überlegungen bezüglich dieses ersten Films in der Geschichte der Menschheit damit beenden, sie auf noch eine Tatsache seiner Existenz aufmerksam zu machen: “Herauskommen der Arbeiter aus der Fabrik Lumier” ist das erste Beispiel für den doppelsinnigen Charakter des Filmtitels. Einerseits hat der Titel Informationscharakter - es wird uns mitgeteilt was und wo auf der Leinwand passiert. Andererseits ist im Titel eine mächtige Werbewirkung kodiert. Dieser Titel führt die Fabrik für Photomaterialien der Brüder Lumiere jenseits jeder Konkurrenz vor. Wir können uns vorstellen, welche positive Folgen das tausendfache Vorführen dieses Films in den Kinosalons von Paris bis Bombay für das Geschäft der Fabrik Lumiere gehabt hat. Noch mit der ersten Vorführung eines Dokumentarfilms wurde die Menschheit Zeuge des Phänomens der Leinwandwerbung.

Ich stelle Ihnen einen weiteren ersten Film zum Nachdenken vor. Das ist der erste Dokumentarfilm, der in Bulgarien von einem bulgarischen Autor aufgenommen worden ist: der 40-minutige “Der Balkankrieg”. Er ist vom Operator Alexander Žekov während der Kampfhandlungen zwischen Bulgarien und der Türkei im späten Herbst 1912 und im Frühjahr 1913 aufgenommen worden. Am 7. November 1912 fährt eine Einheit bulgarischer Torpedoträger aufs Meer hinaus, um die bulgarischen Grenzen vor dem Angriff eines türkischen Kriegsgeschwaders zu schützen. Während dieser Schlacht gelingt es dem bulgarischen Torpedoträger “Drăzki” den türkischen Kreuzer “Hamidie” zu torpedieren. Das ist die erste Schlacht in der Geschichte der bulgarischen Kriegsmarine seit ihrer Entstehung Ende des 19. Jahrhunderts. Schauen wir wie dieses Ereignis im Film dargestellt ist. Es beginnt mit einer Überschrift, die uns in das Geschehnis einführt. Es ist klar, dass diese Überschrift später hinzugefügt worden ist, da sie sich in der Rechtschreibung von den Regeln unterscheidet, die in den Jahren 1912-1913 üblich waren. Geschrieben ist sie nach den Regeln der Rechtschreibreform in Bulgarien am Anfang der 20er Jahre. Genau um diese Zeit hatte der Film einen Riesenerfolg bei den Vorführungen in den Kinos im ganzen Land: Bulgarien ist im Ersten Weltkrieg besiegt, seitens der Sieger sind ihm erniedrigende und schwere Klauseln auferlegt worden. Im Land ist das Gefühl der Niederlage allgegenwärtig. Der Film, der an die Siege der bulgarischen Armee erinnert, ist eine Quelle positiver Emotionen. Er wird mit Begeisterung und unkritisch aufgenommen. Diese Art der Auslegung des Films überdauert Jahrzehnte. Sogar ein geehrter Kolleg-Professor verfasste vor ein paar Jahren in diesem Sinn eine ganze Monographie über diesen Film.

Wir wollen die paar Bilder, die wir gesehen haben, analysieren: Nach der Überschrift “Varna. Der bulgarische Minenträger ’Drăzki’, unter dem Befehl von Unterleutnant zur See Kupov, geht trotz des schlechten Wetters hinaus zur Attacke des türkischen Kreuzers “Hamidie”, erscheint im Film eine allgemeine Ansicht der Bucht von Varna. Bei den Möglichkeiten der damaligen Optik ist das sicherlich das höchste Maß an Annäherung, mit welchem man das ins Meer hinausschwimmende Schiff aufnehmen kann. Wie können wir aber aus dieser Entfernung sicher sein, dass das der Minenträger “Drăzki” ist? Die bulgarische torpedotragende Flotte, stationiert in Varna, bestand aus sechs absolut gleichen Schiffen, die zur gleichen Zeit in der gleichen französischen Werft hergestellt worden waren. Als Umrisse sind sie sogar für einen professionellen Seemann ununterscheidbar. (Unter anderem ist heutzutage in Varna einer dieser Minenträger als Museumsstück ausgestellt. Er ist mit Sicherheit nicht “Drăzki”, denn zu dieser Zeit, als die bulgarische Öffentlichkeit daran gedacht hat, das legendäre Schiff in ein Museum umzuwandeln, war dieses schon längst entsorgt worden.) Doch die Überschrift im Film weist darauf hin, dass das Schiff auf der Leinwand genau “Drăzki” ist und dass es nicht irgendwohin schwimmt, sondern um im stürmischen Meer den türkischen Kreuzer “Hamidie” zu bekämpfen. Die Wahrheit ist, dass der Befehl für die Einheit Torpedoträger ins Meer hinauszufahren kurz vor Mitternacht am 7. November erteilt worden ist, sodass die Minenträger den Hafen NACHTS verlassen haben, noch dazu vier Schiffe gleichzeitig. Welches ist dann das Schiff auf der Leinwand und wann ist diese Szene gedreht worden? So, wie der Film geschnitten ist, folgt nach dem allgemeinen Anblick des ins Meer herausfahrenden Schiffes eine Explosion. Die Szene spielt am Tag und ist bewusst sehr kurz, denn wenn man genau hinschaut, sieht man, dass das kein Treffer auf ein Schiff ist, sondern auf die freie Wasseroberfläche, wobei man hinter der Explosionsfontäne eine Küste mit Gebäuden unterscheiden kann. Wie vorhin schon erwähnt, wurde die Attacke von “Drăzki” gegen “Hamidie“ um 0 Uhr 32 Minuten am 7. November durchgeführt - also tief in der Nacht und in einer Entfernung vom Ufer, von welcher auf gar keinen Fall sogar tagsüber Einzelheiten unterschieden werden können. In der Episode folgen Szenen, die die Zerstörungen der “Hamidie” darstellen. Auf der Leinwand sehen wir ein bis zum Kanonendeck versenktes Schiff. Die Szene ist von einem rings um das Schiff schwimmenden Boot gedreht, es folgen ein paar Einzelheiten vom Deck und Kanonen, um die Wasser plätschert. Der Kreuzer “Hamidie” wurde in der Tat nachts am 7. November 1912 torpediert. Gesunken ist er aber nicht. Weder der Operator Žekov, noch irgendwer anderer hatte die Möglichkeit das Schiff zu umkreisen und aufzunehmen. Der Kreuzer bekam ein Leck, Wasser drang hinein, doch er ist sofort nach Istanbul (Konstantinopel) teils selbstständig, teils gezogen, zurückgekehrt. Nicht nur das: Tage später nimmt er an den Schlachten um Istanbul (Konstantinopel) teil, indem er Feuerunterstützung für die türkischen Armee vom Meer aus leistet und die vorstoßende bulgarische Armee mit seinen großkalibrigen Kanonen beschießt.

Welches ist dann das Schiff auf der Leinwand? Offensichtlich sind das Szenen, die aus den Chroniken des Ersten Weltkriegs übernommen wurden, als die Berichterstattung über Seeschlachten allgegenwärtig war. Da der Film nach dem Ende des Ersten Weltkriegs verbreitet wurde, hatten die Autoren (oder die für die Verbreitung Verantwortlichen) genug Material, um von irgend einer fremden Chronik die Szenen mit dem versunkenen Schiff herauszunehmen und so “im Nachhinein” die Geschichte in die Torpedoattacke der “Drăzki” zu montieren. Es ist seltsam, dass der Schnitt der Szenen, die Nichtübereinstimmung der Zeiten, der Rechtschreibung und der Ereignisse so offensichtlich sind und trotzdem im Laufe von fast 90 Jahren nicht bemerkt wurden. Im Gegenteil, die Szenen sind kanonisiert. Ihr ununterbrochenes Zitieren im Kontext des wirklichen Ereignisses hat auf sie den Heiligenschein der Wahrheit übertragen. Sie haben sich in ein Faktum verwandelt.

Szenen und “Fakten” im Dokumentarfilm sind etwas sehr verschiedenes und reicheres, als im Spielfilm. Die Information ist im gleichen Maß in der Szene selbst, aber auch im Umfeld enthalten. Das Anschauen von Dokumentarfilmen ist ein intellektuelles Spiel zwischen Autor, Film und Zuschauer. Das kann sowie unter dem Einfluss des Bildes, als auch des Tons, des Schnittrhythmus oder der anderen kinematographischen Komponenten geschehen. Auf jeden Fall muss das Bewusstsein des Zuschauers immer angespannt sein, um auf einen Austausch oder Umschreiben der Wirklichkeit zu reagieren. Die zwei Beispiele mit den ersten Dokumentarfilmen weltweit und in Bulgarien lassen uns auf den Gedanken kommen, dass die “Fakten” im Dokumentarkino “zwitterhaft“ sind. Abhängig vom von den Autoren gewählten Kontext, bekommen sie einen entsprechenden Klang. (Die Explosion in der Montagephrase über die Attacke auf die “Hamidie” ist zwar aus ihrem ursprünglichen Kontext herausgenommen, passt aber genau zu den Erwartungen des Publikums, das Torpedieren “live” zu sehen.) Dasselbe gilt im breiteren Sinne auch für ein und dasselbe Produkt des Dokumentarkinos. Das beste Beispiel dafür sind die Filme von Leni Riffenstahl, die zur Verherrlichung eines Regimes geschaffen wurden. Im Laufe von Jahrzehnten wurden sie als Beweis für das obskure Wesen des Nationalsozialismus benutzt. Abhängig von der Einstellung, dem unterschiedlichen Kulturgrad und dem historischen Wissen des Zuschauers, bekommen Dokumentarfilme verschiedene (Be)deutungen. In diesem Sinne können wir annehmen, dass beim Dokumentarkino neben den auf der Leinwand zu sehenden Fakten auch noch etwas genau so Wichtiges außerhalb der Fakten existiert - das ist der Kontext der Benutzung, sowie der Kontext der Aufnahme. Die interpretative Seite des Dokumentarkinos wird von den Autoren eingesetzt, wenn sie eine bestimmte Reihenfolge der Fakten aufbauen. Ihnen ihrerseits begegnen die Interpretationsmöglichkeiten des Publikums. Wir sind Zeugen eines Phänomens: der Dokumentarfilm, der angeblich  die Wirklichkeit auf immer fixiert hat, ist eigentlich ein sich ununterbrochen verändernder Abdruck des historischen Gedächtnisses der Menschheit, kulturabhängig und interpretiert und in einen neuen Kontext gestellt. Wir sind es gewohnt, den Dokumentarfilm als Quelle von Fakten, von Dokumenten zu empfinden. Wie sehr man auch das Dokument zum Kult erhebt, bleibt es doch ein eigenartiger Abdruck. Abdruck der Persönlichkeit, der Zeit, der Situation, in der es geschaffen wurde. Als Produkt der menschlichen Hand und Verstandes trägt es den Abdruck menschlicher Unvollkommenheit. (Die Fachleute im Archivbereich wissen wie ungenau Dokumente eigentlich sind, wie viele Fehler der Hand das spätere Schicksal anderer Menschen beeinflussen.) Und was sollen wir über Tagebücher, Briefe, Berichte, Postkarten aus weiten Fernreisen sagen?! Und über Photomontagen? Heute, in einer Welt der Kopiertechnik und der Computer, kann “die Produktion von ‚Fakten’” das Werk von Böswilligen oder Spaßmachern sein, ja sogar von Kindern. Der Missbrauch von Fakten kann eine Folge von ideologischem, finanziellem oder künstlerischem Druck sein. Dieser Missbrauch ist eine Frage des künstlerischen Maßes und der Moral, die, wie wir wissen, relative Begriffe sind. Wir alle verhalten uns mit Respekt und Neugier zum Dokumentarkino. Es ist eine unerschöpfliche Quelle von Bildern, von Wissen, von Stimmungen, von schöpferischer Inspiration. Noch stärker als beim Spielfilm verfällt das Publikum bei seiner Wahrnehmung in einen hypnotischen Zustand. Es hat ohne Zweifel die Behauptung akzeptiert, dass alles, was es auf der Leinwand sieht, “wirklich war”, ist und nimmt es mit abgestumpfter Kritikbereitschaft an. Die Gesellschaft reproduziert sekundär das Gesehene auf der Leinwand in ihren mündlichen Erzählungen über das Gesehene und so wird es von der Patina der Wahrheit überzogen. Der Kontext ersetzt die Fakten. Als Autor, der 27 Filme gedreht hat, die meisten davon sind Dokumentarfilme, möchte ich zusammenfassend dem Publikum ein amerikanisches humoristisches Sprichwort zitieren: “Vertraue auf Gott, aber schließ dein Auto ab!”


7.11. Dokumentarfilme und -ausstellungen als kreatives Handwerk des Wissens

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For quotation purposes:
Svetoslav Ovcharov: Der Dokumentarfilm zwischen Sein und Schein - In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 17/2008. WWW: http://www.inst.at/trans/17Nr/7-11/7-11_ovcharov17.htm

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