TRANS Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 17. Nr. Februar 2010

Sektion 7.8. SeLandscapes in the context of societies / Landschaft im gesellschaftlichen Kontextktionstitel
Sektionsleiter | Section Chair: Helmut Pfanner (Lochau, Vorarlberg)

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Polare Regionen im Wandel der menschlichen Vorstellung

Helmut Pfanner (Lochau, Vorarlberg) [BIO]

Email: h.pfanner@gmx.at

 

Nicht bis ins neunzehnte Jahrhundert sind die Menschen auf ihren Erkundigungsfahrten in die polaren Gebiete der Erde vorgedrungen; und frühestens zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts haben sie erstmals ihren Fuß auf die jeweiligen Pole an der Nord- und Südkappe der Erde gesetzt.  Heute noch gibt es Stellen unweit der beiden Pole, spezifisch in Nordgrönland und auf der Antarktis, die von keinem Menschen betreten worden sind.  Dabei spielen das unwirtliche Klima und das Fehlen jeglicher zivilisatorischer Infrastruktur eine wichtige Rolle.  Neuerdings gibt es zwischenstaatliche Verträge – z. B. der 1959 von 12 Staaten und 1961 von 33 weiteren Staaten unterschriebene, vorläufig bis 2041 geltende Antarktisvertrag - die sich einer allzu schnellen Ausbeutung und Kommerzialisierung der Polargebiete entgegen setzen; dennoch sind erst in jüngster Zeit wieder, insbesondere für die Gegend des Nordpols, neue nationale Besitzansprüche, artikuliert worden. 

Infolge der riesigen Fortschritte im technischen Bereich und auch des schnell anwachsenden Massentourismus rücken die früher kaum bekannten Gebiete an den nördlichen und südlichen Erdkappen näher in die Sphäre des menschlichen Erfahrungsbereichs.  Somit unterliegt unsere Vorstellung von den Polargebieten trotz ihrer Entrücktheit von den Zentren der menschlichen Zivilisation einer raschen Wandlung.  Ein Spiegel dieser Entwicklung bietet uns die belletristische Literatur, deren Handlungsorte sich in den polaren Gebieten befinden.  Dabei spielt es keine wesentliche Rolle, ob die jeweiligen Autoren selbst zu den Handlungsorten ihrer Werke gereist sind, geht es doch in ihren Werken primär um die Funktion einer Landschaft im gesellschaftlichen Kontext, beziehungsweise um eine Kodifizierung der jeweiligen Landschaft aus dem allgemeinen Blickwinkel der Zeitgenossen.

Den unmittelbaren Anlass für meine Untersuchung bildet eine Expeditionskreuzfahrt, die ich im vergangenen Winter in die Gegend der antarktischen Halbinsel machte.  Das im Besitz einer deutschen Reederei und unter der Flagge der Bahamas fahrende Schiff wurde von einem erfahrenen russischen Kapitän geleitet und hatte für das Wohl der circa 320 Passagiere eine freundliche ukrainische Besatzung an Bord.  Außerdem stand dem Kapitän ein auf über dreißig Jahre zurückblickender deutscher Seemann zur Seite, der viele Fahrten in die arktischen und antarktischen Gewässer unternommen hatte und nun als Pensionist der Schiffsbesatzung und den Passagieren sein Wissen zur Verfügung stellte.  Bei einem  Vortrag ließ er verlauten, dass Reisen in die Polargegenden neuerdings zum größten Renner der Tourismusindustrie geworden sind.  Wo liegt demnach, fragte ich mich, trotz der im Vergleich zu den weiterhin populären Strandreisen in die Tropen und Subtropen relativ hohen Kosten und des unwirtlichen Klimas die besondere Attraktion der Polargebiete für die heutigen Menschen?  Mit der Beantwortung dieser Frage befinden wir uns mitten in der von mir vorgenommenen Untersuchung von belletristischer Literatur, die, da eine thematische Beschränkung aus Zeit- und Platzgründen erforderlich ist, ihren Schauplatz in nordpolaren Gebieten hat.  Primär handelt es sich um drei Romane, die im Bereich des Nördlichen Eismeeres spielen, spezifisch auf Grönland, der vor dem amerikanischen Festland liegenden größten Insel unserer Erde, und auf Svalbard oder Spitzbergen, wie die im Vergleich zu Grönland weitaus kleinere Inselgruppe nördlich von Europa hierzulande populär genannt wird.

Wenden wir uns zunächst einem Werk zu, dessen Autor vor hundert Jahren einen wesentlichen Beitrag zur Entwicklung der modernen Literatur leistete. Außer mit seinen expressionistischen Novellen, z. B. „Die Ermordung einer Butterblume“, ist Alfred Döblin vor allem als Verfasser des ersten deutschen Großstadtromans mit dem Titel Berlin Alexanderplatz in die Literaturgeschichte eingegangen.  Während die Handlung dieses Werkes in der dem Autor wohl vertrauten Stadtlandschaft der deutschen Hauptstadt abläuft, finden große Teile des von Döblin zuvor (1924) verfassten Romans mit dem Titel Berge Meere und Giganten in entfernten Gebieten Europas, Asiens und Nordamerikas statt, Gegenden von denen der Autor keine direkte Kenntnis hatte.  Eine naturgetreue Wiedergabe der Landschaft können die Leser ohnehin nicht erwarten, wenn sie bereits im Eingangssatz des Ersten Buches von insgesamt neun Büchern erfahren, dass die Handlung zu einer Zeit statt findet, in der niemand mehr lebte, der den Weltkrieg erlebt hatte; später wird für die Zeit, in welcher der größte Teil der Handlung abläuft, das 27. Jahrhundert nach Christus angegeben.

Nun ist allerdings gleich zu vermerken, dass die futuristischen Elemente des Romans nicht wie bei Jules Vernes im Sinne einer utopischen Satire auf die Gegenwart eingesetzt sind, sondern dass sie sich trotz ihrer phantastischen Erscheinungsformen und Ausmaße als die Folge der Weiterentwicklung von technischen und gesellschaftlichen Gegebenheiten des zwanzigsten Jahrhunderts erweisen.  So sind  zum Beispiel die Nationalstaaten durch globale „Stadtschaften“ ersetzt worden, deren Bewohner aus einer Vermischung der alten menschlichen Rassen entstanden und nach quasi demokratischen Prinzipien leben, obgleich es immer wieder einzelnen gewählten Führern gelingt, diktatorische Maßnahmen gegen ihre Untertanen durchzuführen.  Nachdem auch die Bedrohung durch eine ferne Macht in Asien in einem alle bisherigen Maße überschreitenden „Uralischen Krieg“ beseitigt worden ist, nimmt die Zahl der Menschen so rapide zu, dass man sich trotz der Erfindung künstlicher Nahrungsmittel auf die Ausschau nach neuen Siedlungsräumen begibt.  Dies nicht zuletzt deshalb, weil führende Politiker hoffen, auf diese Art neu auftauchende Menschengruppen, die sich nach der traditionellen Lebensform früherer Jahrhunderte zurück sehnen und als eine potentielle Bedrohung des technischen Fortschritts gesehen werden, los zu werden.

So entsteht der Plan zur Enteisung Grönlands und die damit angestrebte Verfrachtung der als „Siedler“ bezeichneten Traditionalisten auf die größte Insel der Erde.  Zur technischen Verwirklichung dieser Aufgabe wird ein führender Wissenschaftler aus Schweden namens Kylin beauftragt.  Dieser lässt ein großes Geschwader von Schiffen auszurüsten, mit dem er nach Island aufbricht, um die dortigen Vulkane zu sprengen und deren Energie in die Laderäume seiner Schiffe zu verstauen.  Der inhaltliche Anklang an den – im Buch allerdings nicht genannten - Prometheus-Mythos scheint beabsichtigt.  Nach dem Gelingen des isländischen Abenteuers fährt Kylin mit seiner Flotte nach Grönland und entbindet mit Hilfe eines englischen Wissenschaftlers die gespeicherte Energie an den Rändern der mit Eis bedeckten Insel.  Auch dieses Vorhaben gelingt, doch zeitigt es unvorhergesehene Folgen, denn aus dem unter der schmelzenden Eisdecke hervorkommenden Schlamm erheben sich urzeitliche und seit der Kreidezeit verschollene Lebewesen, die so riesig heranwachsen, dass sie für die Schiffe mit ihren Besatzungen zu einer alles menschliche Leben bedrohenden Gefahr werden.  Einige Schiffe werden von den monströsen Tieren und Pflanzen versenkt, während andere auf ihrer Flucht nach Europa verfolgt werden, wo der infolge der Enteisung Grönlands entstandene Tsunami – diesen heute gängigen Ausdruck hat Döblin noch nicht gebraucht - große Landstriche überschwemmt.

Die Menschen versuchen sich gegen die entfesselten Naturkräfte – der Gedanke an Goethes Ballade „Der Zauberlehrling“ liegt nahe – zu wehren, indem sie ihre Behausungen und Städte unter die Erde verlegen und eine neue Menschenrasse heranzüchten, nämlich die im Titel genannten Giganten bzw. „Turmmenschen“, die dem anhaltenden Ansturm der grönländischen Monster trotzen sollen.  Die Giganten können wohl einen Teil der entfesselten Natur in Bann zwingen, doch stellen sie infolge ihrer stupiden Veranlagung selbst eine Gefahr für die Menschheit dar.  Daher arbeiten die Wissenschaftler in den Laboratorien fieberhaft nach einem Mittel, um die ausgearteten Lebewesen zu bändigen und in normale Menschen zurück zu verwandeln.  Gleichzeitig werden die Siedler, derentwegen man die Enteisung Grönlands geplant hatte, zu Sündenböcken gestempelt und gesellschaftlich diskriminiert.

Heutige Leser können in Döblins Roman leicht den Bezug zur technischen Entwicklung der Gegenwart - sei es auf dem Gebiet der Kernphysik oder der Gentechnik - erkennen und auch zu den weltweit grassierenden Missständen des gesellschaftlichen Zusammenlebens, also religiöser und ethnischer Diskriminierung, fest stellen.  Obwohl es sich bei Berge, Meere und Giganten um einen modernen epischen Roman, d. h. ohne auktoriale Einschübe des Verfassers handelt, erscheint die Botschaft des Autors unmissverständlich: eine Warnung vor den gefährlichen Auswüchsen einer technischen Entwicklung, die der Natur soviel Zwang antut, dass sie sich am Menschen rächt.  Döblin selbst hatte sich eine Zeitlang von den technischen Errungenschaften der Neuzeit fasziniert gezeigt und im Jahre 1912 Marinettis Futuristen-Ausstellung in Berlin enthusiastisch besprochen; doch schon ein Jahr danach distanzierte er sich von dem italienischen Modernisten mit dem viel zitierten Satz: „Pflegen Sie Ihren Marinettismus.  Ich pflege meinen Döblinismus“.  Restbestände dieser geistigen Entwicklung finden sich noch in der wortgewaltigen Darstellung moderner technischer Erfindungen in dem uns vorliegenden Prosawerk.  In deutlichem Kontrast dazu steht jedoch Döblins sympathische Beschreibung einer menschlichen Erneuerung im Einklang mit der Natur.  Im letzten Buch des Romans sind es die „Siedler“ und die ihnen nahe stehende Menschengruppe der „Schlangen“, die sich von der Zivilisation des 27. Jahrhunderts absondern und in menschenleeren Gegenden von Südfrankreich eine naturnahe Existenz aufbauen.  Bezeichnenderweise gesellt sich zu ihnen auch der Physiker Kylin, der zuvor die Sprengung der isländischen Vulkane veranlasst und die Enteisung Grönlands mit ihren negativen Folgen verursacht hatte.

Um einen direkten Eindruck von Döblins Sprachgewalt in seiner Darstellung des Enteisungsprozesses einerseits und seiner ausgewogenen Beschreibung des naturnahen Lebens der neuen, einer weiteren technischen Entwicklung den Rücken kehrenden Menschen zu vermitteln, zitiere ich zwei Stellen aus dem Roman.  Vernehmen wir zuerst einen Absatz aus dem Siebenten Buch mit dem Titel „Die Enteisung Grönlands“:

Auf den rosig bestrahlten grönländischen Inseln hatte sich nach der großen Erderhebung alles verändert.  Ihr Boden war gestaucht worden.  Bloßgelegt waren Erdschichten und Gesteinsmassen einer uralten Steinzeit.  Die Tiertrümmer Samen Pflanzen, Splitter einer jahrmillionenfernen Zeit waren wieder dem Licht preisgegeben, jetzt einem anderen Licht.  Diese Sonne, die über Gebirge Ebenen Seen jetzt übertropische Wärme war, war von wilderer Gewalt als der ferne alte Gasball.  Unter dieser Sonne, die dicht über ihnen lag, erhob sich das Begrabene und Tote.  Die Sonne riß es hoch.  Wie die Maschinen, die die Islandfahrer auf den Brücken hatten, die bröckligen Steinswesen bezauberten, Verbannten ähnlich, die man auf der Straße in ihrer Muttersprache anredet, einer Frau ähnlich, die verdorrt und eine Umarmung, ein sanftes Wort erfährt, oder wie Völker, die man unterjocht hat und die sich finden, - das Glück bringt sie zum Weinen, - so drang das heiße rosige Licht auf die Trümmer der alten Erde, umfloß umspülte bewältigte sie stürmisch.  Schoß in ihr Herz. (395)

Sodann zitiere ich einen kurzen Ausschnitt aus dem letzten Buch, wobei es sich um einen Ausschnitt aus einer Rede Kylins handelt, der jetzt Hojet Sala oder „der steile Absturz“ genannt wird und sich mit seinem technischen Können in den Dienst an den „Siedlern“ begibt:

„... .  Wir haben die Giganten im Gedächtnis.  Es sind überall Steinzeichen zu ihrer Erinnerung errichtet.  Und zu ihrer Feier; sie waren gewaltige Menschen.  Wir haben auch das Feuer.  Es ist uns nicht entschwunden.  Wir müssen dies festhalten.  ..., das Land nimmt uns, aber wir sind etwas in dem Lande.  Es schlingt uns nicht.  Wir haben keine Furcht vor der Luft und dem Boden. ..., wir haben die Kraft, das wirkliche Wissen, und die Demut. ... Wir sind die wirklichen Giganten.  Wir sind es, die durch den Uralischen Krieg und Grönland gegangen sind.  Und wir sind nicht erlegen.  ... Man wird uns bald auf der ganzen Erde sehen.“ (510)

Hier machen wir einen kurzen Abstecher zu einem anderen Werk, das ca. 60 Jahre nach Döblin noch einmal den Zweck und den Nutzen des menschlichen Vordringens in die arktischen Regionen in Frage stellte.  Interessanterweise besteht die Handlung in Christoph Ransmayrs 1984 veröffentlichtem Roman Die Schrecken des Eises und der Finsternis nicht wie bei Döblin in einer Vision, die eine aus der Gegenwart in die Zukunft verlängerte Situation beschreibt, sondern sie basiert auf einer tatsächlich, nämlich ein halbes Jahrhundert zuvor - genau genommen in den Jahren 1872-74 - statt gefundenen Expedition nach Spitzbergen und zu den damals neu entdeckten Inseln des Kaiser Franz-Joseph-Landes.  Aus dem Blick des heute in Wien lebenden Autors zeigt sich die unter vielen Entbehrungen und sowohl menschlichen als auch materiellen Verlusten unternommene Entdeckungsreise, die ausgerechnet nicht von einem an die Nordmeere angrenzenden Land sondern von der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie gesponsert wurde, als ein völlig sinnloses und lediglich des nationalen Ruhmes wegen durchgeführtes Unternehmen.  Aus Zeitgründen erspare ich mir eine nähere Analyse dieses Werkes und wende mich dem nur vier Jahre nach Ransmayrs Roman, also im Jahre 1988, erschienenen Buch eines weiteren österreichischen Autors, nämlich des Vorarlbergers Michael Köhlmeier zu.

Unter dem ironischen Titel Spielplatz der Helden hat Köhlmeier wie Ransmayr einen konkreten Anlass, nämlich die 1983 erstmalige und bisher einzige Durchquerung Grönlands ohne moderne Verkehrmittel und Kommunikationssysteme, d. h. lediglich mit den von den drei Expeditionsteilnehmern selbst gezogenen Schlitten und dem darauf verpackten Proviant, seiner Romanhandlung unterstellt.  Während jedoch Ransmayr in seinem Werk den Nachvollzug der österreichischen Expedition durch eine fiktive Figur, die letztlich in der Eiswüste des Nordens verschollen geht, in das Zentrum seiner Handlung stellte, sind es bei Köhlmeier die drei Südtiroler Alpinisten Robert Peroni, Josef Schrott und Wolfgang Thomaseth, die mit ihrer historisch einmaligen Leistung den Handlungsverlauf bestimmen; im Roman treten sie allerdings unter anderen Namen auf und lassen derartig tiefe Einblicke in ihr Innenleben zu, dass man sie keinesfalls mit ihren konkreten Vorbildern identifizieren kann.  Den Letzteren hat Köhlmeier ohnehin in der vorangestellten Widmung seines Buches seine Bewunderung ausgesprochen und dadurch die Fiktionalität der drei Protagonisten des Buches hervor gehoben.

Was also bezweckte Köhlmeier mit diesem Roman, in dem sogar noch der marode zwischenmenschliche Bezug der drei Figuren seine historische Richtigkeit hat; gemeint ist die Tatsache, dass zwei von ihnen gleich zu Beginn ihrer Expedition so stark miteinander in Streit geraten, dass sie im Verlauf der nächsten zweieinhalb Monate auf Grönland und auch danach in ihrer Südtiroler Heimat nicht mehr mit einander reden.  Im Roman handelt es um den Expeditionsführer Reinold Minach und den wegen seiner Geschicklichkeit als Jäger in das Expeditionsteam aufgenommenen Leo Degasperi.  Der dritte im Bunde, der sich während der Expedition zwar intensiv aber vergebens bemüht, als eine Art Mittelsperson die beiden Schweigenden einander näher zu bringen, trägt den Namen  Michael Gratt und verdankt seine Teilnahme an der Expedition seinen vorausgehenden alpinistischen Erfahrungen.

Wie bei Döblin gelingt das grönländische Experiment auch in Köhlmeiers Roman, doch liegt das Augenmerk des Autors nicht auf der Spannung zwischen Mensch und Natur, in der Döblin letztlich der Letzteren die Oberhand einräumte bzw. den Fortbestand der Menschheit durch die wieder her gestellte Harmonie von Mensch und Natur gewährleistet sah; sondern es geht um die Frage, wie drei so unterschiedliche Charaktere, wie Minach, Degasperi und Gratt es sind, noch miteinander leben können, da sie infolge ihres extremen Individualismus an den Rand des persönlichen Ruins geraten.  Damit hat Köhlmeier ein Thema aufgegriffen, das die Menschheit heute sowohl einzeln als auch kollektiv betrifft und für das der Autor die arktische Region als Schauplatz wählte, weil sie die drei Protagonisten, die trotz ihrer heldenhaften Tat im Umgang mit einer unwirtlichen Natur gänzlich unheldenhafte innere Eigenschaften bloß legen, in der Schneewüste Grönlands besonders deutlich wahr nehmen lässt.

Der postmoderne Roman Spielplatz der Helden zeigt somit anhand dreier sehr unterschiedlicher Individualisten eines der größten Dilemmas der Jetztzeit, nämlich die Problematik des menschlichen Zusammenlebens in einer Zeit, in der ein Überangebot an zivilisatorischen Konsumgütern das Verlangen nach dem Umgang mit einer natürlich belassenen Landschaft weckt und wo die weit hinter dem technischen und wirtschaftlichen Fortschritt zurück hinkende Entwicklung des menschlichen Innenlebens einer längst fälligen Reform bedarf.  Dieser Notstand wird in Köhlmeiers Roman auch dadurch unterstrichen, dass er die hin und wieder zum Weinen und dann wieder zum Lachen anmutende Handlung der drei Grönland-Pioniere in eine nicht weniger tragikomische Rahmenhandelung stellte, worin der Erzähler eine erotische Beziehung mit einer verheirateten Frau unterhält, die ihn ihrerseits mit einem anderen Mann betrügt.  Das emotionale Dilemma des Erzählers äußert sich u. a. in seiner Vorliebe für eine Abbildung der zwei sich liebenden deutschen Terroristen Andreas Baader und Gudrun Ensslin, die er aus einer Illustrierten ausgeschnitten hat und in seiner Brieftasche mit sich herumträgt, bis sie ihm bei einer Fahndung durch die deutsche Polizei mit der Verdächtigung des Terrorismus abgenommen wird:  „Es war wie ein Talisman für mich. ... Zwei Terroristen das war romantisch genug, aber dann noch zwei, die sich liebten. ... Es war das Abbild meiner verrückten Liebe zu Pia.“ (330)

Die Konstellation der beiden Protagonisten der Rahmenhandlung hat einen deutlichen Bezug zu der Binnenhandlung, worin die durch ein gemeinsames Interesse miteinander verbundenen Minach und Degasperi infolge ihres emotionellen Konflikts beinahe an ihrem Vorhaben scheitern und ihr Leben in der Arktis verlieren.  Nicht von ungefähr hat der Autor mit ihren von gegenseitigen Hasstiraden ausgefüllten Berichten den größten Teil des Buches ausgefüllt, während der Bericht Gratts äußerst kurz ausfällt und sich inhaltlich im Wesentlichen darauf beschränkt, dass ihm seine Rolle als Mittelsmann zwischen den beiden anderen nur insofern gelingt, als er jeden der beiden Schweiger jeweils mit Lügen über den anderen beschwichtigt.  Sein doppeltes Rollenspiel erklärt er u. a. wie folgt: „Dann hab ich ihm (Minach) etwas vorgelogen.  Daß der Leo mir auf die Nerven geht.  Daß ich die ganze Zeit so tun muß, als ob ich zu ihm halte.  Daß wir beide, Reinold und ich, zusammenhalten müssen, weil sonst der Leo durchdreht.  Daß es am besten ist, wenn wir dem Leo was vorspielen.  Eben dass wir so tun sollen, als ob ich mit dem Leo gegen ihn verbündet bin.“ (314)

Bei dieser Aufdeckung des lügenhaften Rollenspiels der Protagonisten bietet sich wiederum ein kurzer Abstecher auf ein anderes Werk an.  In dem 1992 veröffentlichten Roman Fräulein Smillas Gespür für Schnee des dänischen Autors Peter Hoeg besteht die Handlung darin, dass die in Kopenhagen lebende und im Titel genannte Protagonistin dem rätselhaften Tod eines ebenfalls dort lebenden Innuit-Waisenknaben namens Jesajas nachgeht.  Dabei gerät sie in ein gesellschaftliches Netz von Lüge und Korruption, in dem sie beinahe zu einem Mordopfer wird.  Der Roman endet damit, dass Smilla dem von ihr verdächtigten Mörder des Kindes nachgeht, dessen Spuren sie nach Grönland, dem Geburtsland von Jesajas, führt, wo sie selbst vor achtunddreißig Jahren als die Tochter einer Innuit-Frau und eines dänischen Arztes auf die Welt gekommen ist.  Nachdem sie die Gewissheit von der Identität des Mörders von Jesajas erlangt hat, den sie auch als den Mörder ihres Vaters entlarvt, gerät sie in eine dramatische Verfolgungsjagd durch die grönländische Eiswüste, in der sie sich nur infolge ihrer besseren Kenntnisse von der Beschaffenheit des Schnees – ein Anklang an den Titel - zu retten weiß, während ihr Verfolger im Schneesturm umkommt.  Der Roman ist im Jahr 1997 unter der Regie von Bille August verfilmt worden.

Aus Zeitgründen muss ich darauf verzichten, die vielen Beispiele für den degenerativen und verlogenen Zustand der heutigen Zivilisationsgesellschaft, wie er in Hoegs Roman bloß gestellt wird, aufzuzeigen.  Statt dessen wende ich mich noch einmal einem Werk eines österreichischen Autors zu, dessen Handlung ebenfalls aus der Zivilisation der Gegenwart in die noch unverdorbene Natur der arktischen Wildnis führt und zugleich die Hoffnung auf eine Überwindung des gesellschaftlichen Konflikts enthält.  Es handelt sich um den im März 2008 in Wien erscheinenden Roman mit dem bescheidenen Titel Weiß des heute in Vorarlberg lebenden (geb. 1969 in Innsbruck) Autors Hans Platzgumer, der trotz seines jugendlichen Alters als ein Multitalent (Musiker, Komponist und Schriftsteller) sich bereits in der deutschen Kunstszene etabliert hat.

Mit folgender Aussage des Protagonisten von Weiß ergibt sich der unmittelbare Zusammenhang zu allen bisher besprochen Werken:

Seit die Menschheit sich die Natur Untertan gemacht hat, hat sie doch begonnen, sich aller Natur zu entledigen.   Wir sehen ja, wie sie immer gründlicher und schneller in diesem Vorhaben voranschreitet.   ... Der Fortschritt ist doch schon lange keine positive Naturentwicklung mehr.  Das ist kein Fortschritt und kein Rückschritt - Das sind nur Ausfallschritte.  Ein Warten, ein Schlendern, ein Fallen.  Ich persönlich will jedenfalls nicht mehr einfach so weitergetrieben werden in diesen freien Fall.  Ich sehne mich nach einem Stillstand.  Einem Ende der Evolution.  Einem Ende der Zivilisation.“

So pessimistisch diese Sätze auch klingen mögen und nicht geradlinig mit der Meinung des Autors identifiziert werden können, bringen sie doch die verständliche Reaktion des Protagonisten auf seine gesellschaftlichen Erfahrungen in Frankfurt am Main wieder, wo er als Regieassistent am Hessischen Rundfunk arbeitet und auf dem Weg von und zu seiner Wohnung in der Nähe des Bahnhofs täglich an Pornokinos, Peepshows und Prostituierten vorbei kommt.  Aber auch im größeren Umkreis seines Lebensbereichs kommt er immer wieder mit den negativen Auswüchsen der heutigen Zivilisation in Berührung: aufgetakelten jungen Frauen und Männern, die einen Italienisch-Kurs hauptsächlich als Kontaktbörse benutzen; angeblich im Dienst der Gesundheit stehenden Sexpraktiken in einem Massage-Institut; Striptease in einer Seilbahngondel in den Alpen auf dem Weg zu einem Wellness-Hotel mit „Tyrolean Candlelight Dinner“; Bars mit Deejays und Gog-Go-Girls mit einem Angebot an Getränken unter so suggestiv klingenden Namen wie „Screaming Orgasm“ und „Sex on the Beach“; des Erzählers Besuch bei einer jungen Frau in deren Wohnung, wo sie ihm wohl ihren im Intimbereich glatt rasierten Körper zur Schau stellt, aber sich über seine behaarte Brust ekelt, die sie an die Zeit erinnere, als die Männer noch unbeschnitten waren.  Dazu kommen seine negativen Erfahrungen mit den Staus auf den deutschen Autobahnen und die oberflächlichen Gespräche mit Kollegen und Kolleginnen in Frankfurter Vergnügungslokalen mit so exotischen Namen wie „Eat and Art“, „Asian Bar“ und „Sausalitos“ zum Ausdruck.  Der Protagonist namens Sebastian Fehr resümiert sein bisheriges Leben mit dem Satz: „Alles war auf Lüge aufgebaut.  Die Wahrheit erfährt man nie.“

In seinem Überdruss über sein bisheriges Leben fällt Fehr eines Tages eine Sondernummer der Zeitschrift National Geographic unter dem Titel „Faszination der Arktis“ in die Hände; so entsteht sein Plan des Ausbruchs aus der Zivilisation mit dem Ziel Franz-Josefs-Land (so bei Platzgumer!), jener Inselgruppe nordöstlich von Spitzbergen, die von der im Roman von Ransmayr behandelten österreichischen Expedition des Jahres 1883 erkundet wurde und sich jetzt in russischem Besitz befindet.  Nach entsprechenden Vorbereitungen gelangt Fehr per Flugzeug nach Spitzbergen und wartet dort in einer einsamen Trapper-Hütte auf das russische Schiff, das ihn nach Franz-Josef-Land bringen soll.

Nach einem sehr realistisch anmutenden Bericht von Fehrs Überfahrt nach Franz-Josef-Land und seinem dortigen Verschwinden während einer Zodiac-Anlandung in der vorwinterlichen Schneewüste der angefahrenen Insel – der Autor hat, wie er mir erzählte, die Handlungsstätten seines Romans selbst aufgesucht – kommt ein unerwarteter Handlungsumschwung.  Fehr wacht völlig erblindet in einem hessischen Krankenhaus auf und erfährt von seiner Krankenschwester, dass man ihn halb erfroren und bewusstlos vor seiner Trapperhütte auf Spitzbergen gefunden und nach seiner Bergung in einem Krankenhaus auf Spitzbergen nach Deutschland geflogen habe.  In anderen Worten:  nicht wie es ihn zunächst anmutet, war das Erwachen in einem warmen Bett ein Traum, sondern die so realistisch erscheinende Fahrt von Spitzbergen nach Franz-Joseph-Land bildete den Inhalt seines Traumes.

Platzgumers Roman endet damit, dass Fehr trotz seiner Erblindung plant, sein arktisches Abenteuer zu wiederholen und zu Ende zu führen.  Dass es nicht dazu kommt, verdankt er seiner Krankenschwester namens Eva Sörensen, die den Blinden vierundzwanzig Stunden am Tag betreut und dabei selbst erblindet.  Spätestens hier merkt der Leser, dass die Blindheit in diesem Werk symbolisch zu verstehen ist, denn sie weist darauf hin, dass die beiden Protagonisten ihren Blick von den negativen Auswüchsen der modernen Zivilisation abwenden und in das farblose „Weiß“ der unverdorbenen Natur eintauchen, wofür die arktische Eiswüste nur ein Symbol darstellt.  Dass sie trotz Fehrs Absicht, dorthin zurück zu kehren, in Wirklichkeit doch in ihrer deutschen Heimat bleiben, wird deutlich gemacht durch ihre sich gegenseitig anbahnende Liebesbeziehung sowie diese Sätze auf der Schlussseite des Romans: 

(Fehr:) ‚Ich gehe zurück.’
Eva Sörensen wusste, dass es gelogen war.
Er würde zu ihr kommen.  Mit ihr durch den Grüneburgpark spazieren.
Sie beide hatten eine Zukunft vor sich.  Eine Freiheit in Eis und Finsternis.

Es fällt auf, dass der Autor für diese letzten Worte des männlichen Protagonisten deren Charakterisierung als eine „Lüge“ benutzt und ihn somit einen Kompromiss mit der von ihm abgelehnten Zivilisation eingehen lässt.  Tatsächlich scheint sich hier im Gegensatz zu den äußersten Extremen von zivilisatorischer Degeneration und radikaler Rückkehr in die Natur ein gewisser Ausgleich anzubahnen, wie ja auch Platzgumer, indem er zum Schreiben einen Computer benutzt und zwischen seinem Arbeitsplatz in München und seinem kleinen Wohnsitz am österreichischen Bodenseeufer mit dem Auto hin und her pendelt, kein Aussteiger ist.  Was er aber in seinem Roman glaubhaft darstellt, ist die Notwendigkeit des Menschen, dem negativen Ballast der modernen Zivilisation zu entsagen und wieder im Einklang mit der Natur zu leben.

Damit rundet sich unser Kreis von Darstellungen arktischer Regionen in einigen literarischen Werken der vergangenen hundert Jahre.   Während in Döblins Beschreibung von der Enteisung Grönlands noch eine gewisse Faszination mit den technischen Errungenschaften der Moderne bei gleichzeitiger Warnung von deren Exzessen und die Möglichkeit einer Erneuerung des Menschen im engen Zusammenleben mit der Natur zum Ausdruck kommt und bei Köhlmeiers Darstellung der gigantischen Leistung dreier Männer bei ihrer Überquerung Grönlands der Kampf mit der Natur ganz in das Innere der extrem individualistisch veranlagten Protagonisten verlegt ist, stellt Platzgumer in den vielen Vor- und Rückblenden seines Werkes den krassen Gegensatz zwischen den ekelhaftesten Negativerscheinungen der modernen Zivilisation und den heilsam wirkenden Kräften der Natur für uns Gegenwartsmenschen dar.  Alle besprochenen Werke vereint ein starkes Gefühl der jeweiligen Autoren für ein menschengerechtes Zusammenleben aller Erdenbewohner und somit eine humanistische oder – sagen wir aus der geschichtlichen Perspektive besser neo-humanistische – Lebensgestaltung.  Dazu bedienten sich alle besprochenen Autoren der geographischen Metapher von arktischen Regionen, die sowohl den gewagten Schritt ins Neue als auch den Mut zur persönlichen und somit vielleicht letztlich auch gesellschaftlichen Erneuerung enthalten.

 

Literaturverzeichnis


7.8. Landscapes in the context of societies / Landschaft im gesellschaftlichen Kontext

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For quotation purposes:
Helmut Pfanner: Polare Regionen im Wandel der menschlichen Vorstellung - In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 17/2008. WWW: http://www.inst.at/trans/17Nr/7-8/7-8_pfanner17.htm

Webmeister: Gerald Mach     last change: 2010-02-24