TRANS Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 17. Nr.
Februar 2010

Sektion 8.3. Repräsentation von Transformationsprozessen in der Gegenwartsliteratur
Sektionsleiterin | Section Chair: Zalina Mardanova (Vladikavkaz, Nordossetien-Alanien/Russland)

Dokumentation | Documentation | Documentation


Modern Talking ist eigentlich eine Superband’ –
Modernes Sprechen in Christian Krachts „Faserland“

Christian Steltz (Regensburg) [BIO]

Email: csteltz@gmx.de

 

Moritz Baßlers zentrale Thesen zum deutschen Pop-Roman lassen sich nahezu komplett am Beispiel „Faserland“ ausführen. Für Baßler ist dieser Roman folgerichtig auch das „Gründungsdokument einer literarischen Bewegung.“(1) Am stärksten ausgeprägt ist der so genannte ‚Markenfetischismus’, auf den in den ersten zehn Jahren der Romanrezeption beinahe obligatorisch hingewiesen wird und der nach Baßler Ausdruck einer „Sammelwut [ist], wie sie im Medium Literatur in den Jahrzehnten zuvor unbekannt war.“(2) Als Ergebnis dieses Sammelns von Markennamen sieht Baßler in der Popliteratur allgemein eine Archivierung von Gegenwartskultur. Dass dieselben Punkte für die Literaturkritik Anlass für negative Urteile gewesen sind, ist nach Anke Biendarra eine Frage der Erwartungshaltung:(3) 

Aus einer Perspektive, in der die Literatur mit Begriffen wie ‚Bedeutung’, ‚Tiefe’, und ‚Wahrheit’ […] verknüpft ist, stellt sich die vermeintliche Oberflächlichkeit dieser Prosa für manchen Berufskritiker als beklagenswertes Phänomen dar.(4)

Positive Reaktionen auf „Faserland“ – diesbezüglich war in ersten Fachaufsätzen schnell ein Konsens hergestellt(5) – haben hingegen betont, dass in der Darstellungsweise der Marken- und Warenwelt eine Anknüpfung an literarische Vorgänger gegeben ist. Die Darstellungsweise wurde dann gerne ‚hyperrealistisch’ genannt und auf Bret Easton Ellis’ Roman „American Psycho“ zurückgeführt, der u.a. mit einer ausufernden Darstellung sämtlicher Badezimmerartikel des Protagonisten aufwartet. Mittlerweile hat Mathias Mertens aufgezeigt, dass die unter dem Schlagwort ‚Markenfetischismus’ subsumierten Bezugssysteme bei Kracht anders funktionieren als bei Ellis, womit in dieser Angelegenheit für Klarheit gesorgt wäre.(6) Neben „American Psycho“ lassen sich noch weitere US-amerikanische Prätexte für „Faserland“ ausmachen. Die Bezüge zu F. Scott Fitzgeralds „The Great Gatsby“, dessen metaphorisches „grünes Licht“ am anderen Ufer aufgegriffen wird, sind ebenso relevant wie jene zu Jack Kerouac und J.D. Salinger, auf die ebenfalls hingewiesen worden ist.(7) Ernest Hemingways Roman „Fiesta“ (Amerikanisch: „The Sun Also Rises“) ist meines Wissens hingegen noch nicht in Beziehung zu „Faserland“ gesetzt worden.(8) Hemingways eigentliches Romandebüt „Fiesta“ ist ebenso wie „Faserland“ nach seinem Erscheinen wegen einer als zu oberflächlich empfundenen Darstellungsweise zunächst stark kritisiert worden. Für den Ich-Erzähler Jake Barnes und sein Pariser Umfeld wird in der Forschung u.a. der Begriff hollow men verwendet,(9) es geht also um hohle Menschen. Der Bezug zu Kracht liegt in der strikten Konzentration auf Oberflächen, welche sich anhand des Eisberg-Prinzips veranschaulichen lässt, das Hemingway selbst formuliert hat. Hiernach soll Literatur all das beschreiben, was über die Sinne wahrnehmbar ist. Bei einem Eisberg also den sichtbaren Teil über der Wasseroberfläche. Bei der Beschreibung dieses erkennbaren Achtels (so schätzt Hemingway die Relationen ein) soll der Autor allerdings die sieben Achtel unterhalb der Wasseroberfläche genau kennen.(10) Der Autor wohlgemerkt, nicht der Erzähler, weshalb dieser nichtsichtbare Teil in den meisten Fällen nicht beschrieben wird. Das Zauberwort bei diesem literarischen Vorgehen, welches dem Motto showing statt telling folgt, heißt konsequenterweise Omission, also Auslassung.(11) Freilich hat Krachts Erzähler auf seiner Reise durch Deutschland selten mehr als die bloße Oberfläche im Blick. Seine Fähigkeit zur Selbstreflexion ist stark begrenzt, ein Interesse an komplexen Zusammenhängen nicht erkennbar. Von daher wirkt es wie eine Parodie des hemingwayschen Eisbergs, wenn der Erzähler zu Beginn der Reise verlauten lässt: verlauten lässt: „Ich meine, ich kenne das, was unter der Insel liegt oder dahinter, ich weiß jetzt nicht, ob ich mich da richtig ausgedrückt habe. Ich kann mich natürlich täuschen.“(12)

Gewiss hat er sich da nicht allzu exakt ausgedrückt und selbstverständlich täuscht er sich – so wie er im gesamten Romanverlauf sich selbst und seine Mitmenschen täuscht. Wie wenig der Erzähler sich selbst erkennen will, wird an den im Text beschriebenen Spiegelungen deutlich, vornehmlich an der Selbstbetrachtung vor Rollos Geburtstagsfeier.(13) Wenn es um die Probleme des Protagonisten geht, sind die Leser schnell schlauer als der reiche Jüngling: der zwanghafte Konsum resultiert aus Signalen, die der Erzähler nicht empfangen möchte. Eros und Thanatos, Lebens- und Todestrieb, begründen in „Faserland“ eine Kette aus Verdrängungen, Verfehlungen und Verschiebungen.(14) Da psychische Konflikte geschickt über die Oberfläche der Warenwelt verhandelt werden, knüpft der Text an den Roman der Moderne an, in dem das Ideal der Kunst des Ungesagten ebenfalls über psychoanalytische Motive und Muster verfolgt wird.(15) Gerade die ausgeprägte Homophobie, der zufolge der gesamte Roman als Geschichte eines Coming-Outs gedeutet werden kann,(16) rückt „Faserland“ in die Nähe Thomas Manns, der im Text nicht zufällig mehrfach als intertextueller Bezugspunkt markiert wird. Daher hat Mathias Mertens auch zu Recht angemerkt,  dass „[d]as Pop-Literarische [in „Faserland“] nur Tarnung“ sei, „damit niemand merkt, wie altertümelnd hier erzählt wird.“(17)

Wie der psychologische Roman der Moderne bildet „Faserland“ den sichtbaren Gipfel des Eisbergs ab und belässt den unter Wasser befindlichen Teil im Bereich des Ungesagten. Die misslingenden sozialen Interaktionen, die auf der Reise durch das ‚Fatherland’ aneinandergereiht werden, sind die sichtbare Folge von Fehldeutungen und Missverständnissen innerer Prozesse. Da der namenlose Protagonist sich selbst nicht verstehen kann, kann er sich auch nicht mitteilen oder von anderen verstanden werden.

Als Gegenwartsliteratur sieht sich der Roman in seiner Gesamtheit der Gefahr gegenüber, in dem Moment missverständlich sein zu müssen, in dem die verwendeten populärkulturellen Zeichen einen Bedeutungswandel erfahren. Insbesondere bei Popliteratur führt die Archivierung von Popkultur – also die Nennung angesagter Marken, Songs, Bands etc. – zu einer extrem kurzen Halbwertszeit der Texte. Auf diese Schwierigkeit hat Moritz Baßler mit dem Hinweis reagiert, dass in „einer kommentierten Stuckrad-Barre-Gesamtausgabe in […] 100 Jahren […] der Crunchips-Clip auch in den Kommentar […] gehören“(18) würden. Aus diesem Umstand erwächst das Selbstverständnis der Popliteratur, das Jörgen Schäfer in Anschluss an Ausführungen von Stuckrad-Barre auf den Punkt gebracht hat:

Es gehört zu den Kontinuitäten der Pop-Literatur, dass die Autoren, wie Benjamin von Stuckrad-Barre es formuliert, ‚sehr konkret, jetztzeitgebunden auf die Welt reagieren’ und ihre Texte gleichsam als ‚Text gewordene Polaroids’ betrachten, ‚die mit der Zeit verblassen und ersetzt werden müssen.’(19)

Zwar kann „Faserland“ zweifelsohne ein starker Gegenwartsbezug bescheinigt werden – man denke hier nur an die präsentische Form der Narration –, doch lässt sich hinterfragen, ob die Rede von einer Dominanz der Gegenwart, wie sie beispielsweise in Eckhard Schumachers Studie „Gerade – Eben – Jetzt. Schreibweisen der Gegenwart“(20) betrieben wird, in Bezug auf Krachts Romanerstling tatsächlich gerechtfertigt ist. Viel eher – darauf scheinen die meist von Gerüchen ausgelösten idyllischen oder beschämenden Kindheits- und Jugenderinnerungen hinzuweisen – bestimmt in „Faserland“ die verdrängte Vergangenheit die gegenwärtigen Wahrnehmungs- und Handlungsweisen des Erzählers, womit eine Nähe zu Freuds Ausführungen zur menschlichen Psyche bestätigt wird, die auch von Untersuchungen der intertextuellen Bezüge „Faserlands“ zum Roman der Moderne bezeugt wird.(21)   

Dass Krachts Roman dennoch nicht allzu schnell zu verblassen droht, mag daran liegen, dass der Text mit der thematisierten Kommunikationsunfähigkeit ein zeitloses Phänomen bearbeitet, wie die Rolle von Modern Talking im Roman verrät.

Die erfolgreichste deutsche Popgruppe aller Zeiten, die ihren Kommunikationsbezug schon im Bandnamen trägt, erfüllt bei Kracht eine Stellvertreterfunktion. Der Erzähler kommt bei einer Beschreibung seines Freundes Alexander auf Modern Talking zu sprechen:

Der Alexander ist jahrelang nach dem Abitur nur herumgereist, in der ganzen Welt, und er hat mir zum Beispiel geschrieben, er wäre auf der Suche nach den Spuren des Liedes You ’re my heart, you ’re my soul von Modern Talking, das ja nun wirklich ein sehr, sehr schlechtes Lied ist, aber er wäre jedenfalls unterwegs, um zu sehen, wie weit You ’re my heart, you ’re my soul verbreitet ist, nicht in Orten wie Fuerteventura und so, das weiß man ja eh, daß da so was gerne gehört wird, sondern eben in Pakistan und in Bangladesch und in Kambodscha.(22)  

Diese Spurensuche wirft die Frage nach den Verbreitungsformen von Popkultur in einer globalisierten Welt auf. Mit dem Zusatzkommentar, dass es der Suche nicht um touristische Orte gehe, wird das Augenmerk bewusst auf Drittweltstaaten gerichtet, die der westlichen Popkultur nach amerikanischen Vorbild, die von Modern Talking repräsentiert wird, zumindest rein theoretisch als das kulturell Andere begegnen könnten. In der Fremde, so ließe sich hoffen, eröffnet sich der vom Kapitalismus der ersten Welt geprägten Popkultur eine differenzierte Sicht auf sich selbst. Vor dem Hintergrund eines Textes aus Christian Krachts Kolumne „Der gelbe Bleistift“ erscheint diese Hoffnung gerechtfertigt. Im Anschluss an das „Tristesse Royal“-Projekt, in dessen Rahmen das ‚popkulturelle Quintett’ – bestehend aus Kracht, Joachim Bessing, Benjamin von Stuckrad-Barre, Eckhart Nickel und Alexander von Schönburg – an einer Demonstration am Brandenburger Tor teilnimmt, sind Bessing und Kracht in die kambodschanische Hauptstadt Phnom Penh gereist. Dort trafen sie wiederum auf eine Demonstration, an der sie jedoch nicht teilnahmen, was Kracht folgendermaßen schildert:

Joachim Bessing und ich waren zu feige, mitzumarschieren. Was uns vor wenigen Stunden in Berlin noch als herrlich subversive Tat vorgekommen war, nämlich das wahllose Mitmarschieren bei unsinnigen Demonstrationen, hielt uns hier mit einem lastwagengroßen Spiegel unser wahres Gesicht vor. Wir waren feige Popper. Und wir erkannten: Hier in Kambodscha hört die Popkultur auf. Es gab hier keinen ironischen Bruch zwischen dem, was ist und dem, was sein sollte.(23)

Im Rahmen von „Faserland“ allerdings wird in der exotischen Fremde kein konträres Bild gezeichnet; ganz im Gegenteil, die Schilderung eines Erlebnisses von Alexander in einem kleinen Dorf an der indisch-pakistanischen Grenze lässt sich vielmehr als Bestätigung westlicher Kulturstandards lesen:

Jedenfalls schnappt Alexander sich die Gitarre und fängt an, die ersten blöden Akkorde von Brother Louie zu spielen. Der Inder grinst und schnippt mit den Fingern und stampft mit den Füßen auf dem Lehnboden der Bar herum, und plötzlich füllt sich die Bar mit Indern, die sich, angelockt von der Musik, alle um Alexander scharen, und, jetzt kommt’s: Alle kennen das Lied ganz genau, und durch die dreckige Bar mitten in der Wüste erschallt ein Männerchor: Brother Louie, Louie, Louie… How you douie, douie, douie.(24)

Obwohl es Alexander primär um You’re my heart, you’re my soul geht, stellt der Brother Louie-Männerchor durchaus einen Sucherfolg dar. Beide Modern Talking-Lieder führen die Absurdität eines Sprachgebrauchs vor Augen, der mittels vorgefertigter Phrasen und Formeln nur unangemessen auf die Verschiedenartigkeit subjektiver Eindrücke und Empfindungen reagieren kann. Auch wenn die Textpassage in „Faserland“ zunächst einen anderen Eindruck entstehen lässt, geht es in Brother Louie ebenso wie in You’re my heart, you’re my soul um Liebe. Dies wird deutlich, wenn man den Originaltext in den Blick nimmt; dort heißt es: „Brother Louie, Louie, Louie / Oh, she's only looking to me / Oh, let it Louie - she's undercover / Brother Louie, Louie, Louie / Oh, doing what he's doing. / So, leave it Louie - cause I'm her lover.”(25) Im Zentrum des Textes stehen also Liebe und Rivalität.

Wichtiger als das Thema des Liedes sind die Auswirkungen des gemeinsamen Singens auf die Gäste in der indischen Bar, die Alexander dem Erzähler folgendermaßen schildert:

Das hat er mir jedenfalls so geschrieben und daß er das Stück den ganzen Abend spielen mußte und daß er und die Inder dann ein Spiel gemacht haben, bei dem derjenige, der am leisesten Brother Louie mitsingt, einen Schnaps kippen muß, und am Schluß waren alle mächtig betrunken, und alle haben vor Freude und vor Glück geweint.(26)       

Einen internationalen Pophit auf den Lippen gehen die indischen Dorfbewohner mit dem Trinkspiel einer typisch deutschen Gepflogenheit nach. Alle Erwartungen, die im Fremden eine Gegenstimme erhoffen, werden konterkariert. Konsens und Mainstream treten als globale Konzepte in Erscheinung, die selbst zwischen erster und dritter Welt, zwischen Sylt und Phnom Penh kaum Differenzen zulassen. Die Vereinfachung des Textes von Brother Louie bringt das Wesentliche am ‚Modern Talking’ zum Ausdruck. Dem ‚modernen Sprechen’ geht es nicht um Informationsaustausch. Im Vordergrund, so lassen sich die Modern Talking-Passagen in „Faserland“ deuten, stehen gemeinsamer Alkoholgenuss und einstimmiges Reden. Sinnverlust in Form einer umgreifenden Desemantisierung wird hier nicht als Mangel empfunden. Wo das Individuum im Chor aufgehen kann, findet es im Kollektiv eine Möglichkeit der Identitätsbildung. Vergebliche Selbstsuche geht im Gemeinschaftserlebnis in gesungenen Konsens über und ist allen Beteiligten ein Anlass zu Freudentränen. Den Modern Talking-Fan müssen wir uns folglich als glücklichen Menschen vorstellen, und das weltweit.

Bedenkt man, dass Modern Talking zur Zeit der Veröffentlichung von „Faserland“ bereits seit acht Jahren aufgelöst waren, drei Jahre nach der Publikation des Romans dann aber wieder zusammenfanden und von 1998 bis 2003 weitere sieben Alben produzierten, die 60 Millionen mal verkauft wurden, wird die bereits angesprochene kurze Halbwertszeit popliterarischer Texte nochmals deutlich. Als ‚Text gewordenes Polaroid’ enthält „Faserland“ noch weitere Zeichenelemente, die während der mehr als zehn Jahre seit dem Erscheinen des Romans einen Bedeutungswandel erfahren haben. Mit Blick auf eines dieser Elemente möchte ich nun meine Ausführungen zur Insuffizienz von Kommunikation in „Faserland“ fortsetzen.(27)

Im ersten Kapitel treffen der Erzähler und Karin am Nacktbadestrand auf Anne und Sergio. Die spontane Verabredung ist per Mobiltelefon getroffen worden. Dieses eigentlich alltägliche Ereignis stellt im sozialgeschichtlichen Kontext eine Besonderheit dar. Erst 1992 wurde in Deutschland GSM eingeführt (Global System for Mobile Communication), wodurch die technische Grundlage der ersten D- und E-Mobilfunknetze gegeben war. Bis die dazugehörigen Geräte und Tarife allerdings für die breite Masse erschwinglich waren und sich der volksnahe Trendbegriff ‚Handy’ durchgesetzt hatte, dauerte es noch einige Jahre. Ein Mobiltelefon war im Jahr 1995 als Statussymbol auf einem Niveau mit den übrigen in „Faserland“ archivierten Luxusgütern. Daher lässt sich hier eines der grundlegenden Merkmale der ‚Erlebnisgesellschaft’ erkennen, das Gerhard Schulze in seiner gleichnamigen Studie prägnant auf den Punkt gebracht hat: „Was gestern den Upper Ten vorbehalten war, wird heute zum Standard in der sozioökonomischen Mittellage.“(28)

Der Aktualisierungsbedarf des Zeichens ‚Mobiltelefon’ ist mit dem in den vergangenen zehn Jahren stark vorangetriebenen Fortschritt der Kommunikationstechniken zu erklären, der sich in Anlehnung an vorangegangene Paradigmenwechsel auch als ‚aquatic turn’ bezeichnen ließe.(29) Die Medienpädagogen, die mit diesem Begriff operieren, wie beispielsweise Christian Doelker, weisen auf eine generelle Tendenz zur Verflüssigung hin, die sich in der metaphorischen Konkretisierung abstrakter Vorgänge spiegelt.(30) Metaphern wie ‚im Internet surfen’, ‚sich berieseln lassen’ ‚Informationsflut’, ‚Datenmeere’ etc. bestimmen den Diskurs um die neuen Medien. Auch in Produktnamen wie ‚Vodafone’ oder ‚O2’ ist eine Verflüssigung beobachtbar, wobei darauf hinzuweisen ist, dass ‚voda’ in slawischen Sprachen ‚Wasser’ bedeutet und der Konkurrent mit der chemischen Formel für Sauerstoff nur einen Bestandteil des nassen Elements im Namen trägt. Dieser metaphorische Sprachgebrauch ist insofern interessant, als dass er auf eine wesentliche Gefahr der Kommunikationstechnik im Informationszeitalter hinweist: Sauerstoff ist in hoher Konzentration für die meisten Lebewesen giftig, ansteigender Wasserstand stellt eine der zentralen Bedrohungen des Klimawandels dar.

Das heißt in der Rückübertragung: Wer die entscheidenden Kulturtechniken nicht beherrscht, wer nicht über ein ausreichendes Maß an Medienkompetenz verfügt, um sich auf dem virtuellen Surfbrett zu halten, der droht in den Kommunikationsfluten zu ertrinken. Ein solches Opfer moderner Kommunikation ist der Ich-Erzähler in „Faserland“ zweifellos. Wider das berühmte Wort John Donnes, dass kein Mensch eine Insel sei, lehnt der Protagonist jede Form sozialer Verantwortung ab. Da der entsprechende Ausschnitt aus Donnes Gedicht Meditation XVII  seine Berühmtheit nicht zuletzt dem Roman „Wem die Stunde schlägt“ von Ernest Hemingway verdankt, schließt sich an dieser Stelle ein Kreis. Dieser Roman gewinnt nicht nur seinen Titel aus dem Gedicht, sondern stellt zudem einen Teil des Gedichts als Motto vor die Romanhandlung:

„Niemand ist eine Insel, in sich selbst vollständig; jeder Mensch ist ein Stück des Kontinentes, ein Teil des Festlands; […] Jedes Menschen Tod ist mein Verlust, denn mich betrifft die Menschheit; und darum verlange nie zu wissen, wem die Stunde schlägt; es gilt dir selbst.“(31)

Dieses Menschenbild, welches das Individuum als Teil eines Kollektivs begreift, verknüpft den Tod des Einzelnen mit dem Tod der Mitmenschen. So besehen mag mit der Erkenntnis von Rollos nahendem Tod für den Erzähler auch eine Einsicht in die Sinnlosigkeit des eigenen Daseins einher gehen. Soziale Verantwortung erwächst daraus jedoch nicht. Als Folge der Kette aus Negativerlebnissen, auf der sich Erwartungen und Enttäuschungen aneinander reihen, bleibt der Protagonist durch den gesamten Romanverlauf Bewohner einer einsamen Insel und taucht nicht in soziale Kommunikationsströme ein, wie Dirk Frank bilanzierend festgehalten hat: 

Ob mit zugekifften Schönheiten auf Partys, mit sendungsbewussten Trendforschern im Zug oder mit reaktionären Fahrern im Taxi – er begibt sich immer nur bis zu den Zehenspitzen in die soziale Wirklichkeit.(32)

Die hemingwaysche Wassermetaphorik des Eisbergs und der Menscheninsel ist bei Kracht bis zum Schluss beobachtbar. Am Ende lässt sich der Protagonist auf den Zürichsee hinausrudern. Im Gegensatz zu den Verstorbenen in der griechischen Mythologie, die vom Fährmann Charon über die Totenflüsse Styx und Acheron in das Totenreich geleitet werden, trägt der Erzähler seine Fährmünze nicht unter der Zunge.(33) Für das entfremdete Individuum der modernen Erlebnisgesellschaft stehen Preis und Erlebniswert in einer Wechselbeziehung. Daher beträgt der Obolus für die letzte Reise bei Kracht auch 200 Franken. Zu einem Eintauchen in den Zürichsee kommt es jedoch nicht, der Roman blendet in dem Moment aus, in dem er an seinen Anfangspunkt zurückkehrt. Dies mag einerseits narratologisch bedingt sein, da ein Ich-Erzähler sein eigenes Ertrinken nur schlecht erzählen kann; andererseits wäre ein Schilderung des Ertrinkens auch unvereinbar mit ‚Modern Talking’, dem ‚modernen Sprechen’: Der Tod lässt keine Relativierung zu, keine Einschränkung. Oder etwa doch?

 

Literaturverzeichnis

 


Anmerkungen:

1 Moritz Baßler: Der deutsche Pop-Roman. Die neuen Archivisten. 2. Auflage. München: Beck 2002. S. 111.
2 Moritz Baßler: Der deutsche Pop-Roman. S. 184.
3 Zur Feuilleton-Rezeption allgemein vgl.: Kathrin Ackermann; Stefan Greif: Pop im Literaturbetrieb. Von den sechziger Jahren bis heute. In: Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Pop-Literatur. Sonderband „Text+Kritik“. München: Edition Text+Kritik 2003. S. 55-68; Dirk Frank: Die Nachfahren der ›Gegengegenkultur‹. Die Geburt der »Tristesse Royale« aus dem Geiste der achtziger Jahre. In: Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Pop-Literatur. Sonderband „Text+Kritik“. München: Edition Text+Kritik 2003. S. 218-233. Insbesondere S. 218-220; Mathias Mertens: Robbery, assault, and battery. Christian Kracht, Benjamin v. Stuckrad-Barre und ihre mutmaßlichen Vorbilder Bret Easton Ellis und Nick Hornby. In: Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Pop-Literatur. Sonderband „Text+Kritik“. München: Edition Text+Kritik 2003. S. 201-217.
4 Anke Biendarra: Der Erzähler als „postmoderner Flaneur“ in Christian Krachts Roman ‚Faserland’. In: German life and letters 55 2002, N.2, S. 164-179, hier: S. 165.
5 So beispielsweise bei: Stefan Beuse: „154 schöne weiße leere Blätter“. Christian Krachts „Faserland“ (1995). In: Wieland Freund, Winfried Freund (Hg.): Der deutsche Roman der Gegenwart. München: Fink 2001. S. 150-155, hier: S. 151f. Eckhard Schumacher: ›Tristesse Royale‹. Sinnsuche als Kitsch. In: Wolfgang Braungart (Hg.): Kitsch. Faszination und Herausforderung des Banalen und Trivialen. Tübingen: Niemeyer 2002. S. 197-211. Hier S. 202f. Ich selbst habe ebenso darauf hinzuweisen versucht, dass in gewisser Weise „sämtliche Versionen des popliterarischen Anti-Helden Wiedergänger Patrick Batemans“ sind. Vgl. Christian Steltz: Wie schreibt man sich in die Geschichte ein? Eine gattungspoetische Betrachtung von Christian Krachts Romandebüt Faserland. In: Corinna Schlicht (Hg.): Lebensentwürfe. Literatur- und Filmwissenschaftliche Anmerkungen. Oberhausen: Karl Maria Laufen 2005. S. 33-49, hier: S. 47.
6 Vgl. Mathias Mertens: Robbery, assault, and battery. Christian Kracht, Benjamin v. Stuckrad-Barre und ihre mutmaßlichen Vorbilder Bret Easton Ellis und Nick Hornby. In: Heinz Ludwig Arnold [Hg.]: Pop-Literatur. Sonderband „Text+Kritik“. München: Edition Text+Kritik 2003. S. 201-217.
7 Vgl. Marko Martin: Inmitten des Party-Geplauders erstaunlich spracharm. In: Der Tagesspiegel vom 23.03.1995 und Philip Wegmüller: Zwischen Gut und Böse. Die Leiden des jungen Kracht. In: Berner Zeitung vom 21.03.1995.
8 Außer in meinem eigenen Versuch, diese Verbindung zu erhellen. Vgl. Christian Steltz: Wie schreibt man sich in die Geschichte ein? Eine gattungspoetische Betrachtung von Christian Krachts Romandebüt Faserland.
9 Dieser Begriff von T.S. Eliot und die damit einhergehende Rede vom Ende der Welt wird allgemein mit der sogenannten Lost Generation in Verbindung gebracht.
10 Vgl. Ernest Hemingway: Death in the Afternoon. New York: Charles Scribner’s Sons 1935. S. 192. „If a writer of prose knows enough about what he is writing about he may omit things that he knows and the reader, if the writer is writing truly enough, will have a feeling of those things as strongly as though the writer had stated them. The dignity of movement of the ice-berg is due to only one-eigth of it being above the water. A writer who omits things because he does not know them only makes hollow places in his writing.”
11 Vgl. hierzu u.a.: Marc D. Baldwin: Reading ‚The Sun Also Rises’. Hemingway’s Political Unconscious. New York: Peter Lang 1997. S. 28-34.
12 Christian Kracht: Faserland. 4. Auflage. München: dtv 2004. S. 15. Der poetologische Vergleich von Hemingway und Kracht ist zudem als ein Indikator für die komplexen Gemeinsamkeiten aufzufassen, die zwischen der Jahrhundertwende und dem Jahrtausendwechsel bestehen. Als Gipfel dieses Vergleichs kann Alexander von Schönburgs provokatives Zugeständnis aus „Tristesse Royale“ gelten, dass die einzige Rettung für ihn und seine Zeitgenossen eine Art Somme-Offensive wäre: „Wäre das hier Cambridge und nicht Berlin, und wäre es jetzt der Herbst des Jahres 1914 und nicht der Frühling des Jahres 1999, wären wir die ersten,  die sich freiwillig meldeten.“ (Joachim Bessing u.a.: Tristesse Royale. Das popkulturelle Quintett mit Joachim Bessing, Christian Kracht, Eckhart Nickel, Alexander v. Schönburg und Benjamin von Stuckrad-Barre. München: Ullstein 2002. S. 138.) Eines der verbreitetsten Themen in der literarischen Auseinandersetzung mit dem Ersten Weltkrieg ist der Tod der Liebe, welcher u.a. bei Hemingway zu beobachten ist. Vgl. hierzu: Mark Spilka: The Death of Love in ‚The Sun Also Rises’. In: Harold Bloom: Ernest Hemingway. New York: Chelsea House Publishers 1985. S. 107-118.
13 Zur Bedeutung von Spiegeln, Spiegelbildern, Spiegelungen und Selbstporträts bei Hemingway vgl. Robert E. Fleming: The Face in the Mirror. Hemingway’s writers. Tuscaloosa, London: University of Alabama Press 1994.
14 Dies habe ich einem Aufsatz zu „Eros und Thanatos in Christian Krachts ‚Faserland’“ zu zeigen versucht (bei Redaktionsschluss noch nicht veröffentlicht).
15 So lassen sich zahlreiche literarische Gestaltungstechniken in „Faserland“ auf Marcel Proust oder Italo Svevo zurückführen, was den Roman ebenso wie die intertextuellen Verweise auf Thomas Mann und Goethe in Beziehung zur Gattung des Romans im Allgemeinen und des Bildungsromans im Speziellen setzt. Vgl. hierzu Christian Steltz: Wie schreibt man sich in die Geschichte ein? Eine gattungspoetische Betrachtung von Christian Krachts Romandebüt Faserland.
16 Vgl. Mathias Mertens: Robbery, assault, and battery.  S. 208. und: Dirk Frank: Die Nachfahren der ›Gegengegenkultur‹. S. 224.
17 Mathias Mertens: Robbery, assault, and battery. S. 208.
18 Moritz Baßler: Der deutsche Pop-Roman. S. 105.
19 Jörgen Schäfer: „Mit dem Vorhandenen etwas anderes als das Intendierte machen.“ Rolf Dieter Brinkmanns poetologische Überlegungen zur Pop-Literatur. In: Heinz Ludwig Arnold [Hg.]: Pop-Literatur. Sonderband „Text+Kritik“. München: Edition Text+Kritik 2003. S. 69-81. Hier S. 77.
20 Eckhard Schumacher: Gerade eben jetzt. Schreibweisen der Gegenwart. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003.
21 So lassen sich zahlreiche literarische Gestaltungstechniken auf Marcel Proust oder Italo Svevo zurückführen, was den Roman ebenso wie die intertextuellen Verweise auf Thomas Mann und Goethe in Beziehung zur Gattung des Romans im Allgemeinen und des Bildungsromans im Speziellen setzt. Vgl. hierzu Christian Steltz: Wie schreibt man sich in die Geschichte ein? Eine gattungspoetische Betrachtung von Christian Krachts Romandebüt Faserland.
22 Christian Kracht: Faserland. S. 68.
23 Christian Kracht: Tristesse Royale. In: ders.: Der gelbe Bleistift. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2000. S. 139-142. S. 142.
24 Christian Kracht: Faserland. S. 69.
25 Vgl. http://www.modern-talking-online.de (Stand: 01.12.2007)
26 Christian Kracht: Faserland. S. 69.
27 Im Zusammenhang von Poptheorie und Popmusik, hier konkret von Modern Talking verkörpert, wäre man beinahe versucht, die von Leslie Fiedler erhobenen Forderungen umgesetzt zu sehen. So ließe sich im Cover des ersten Modern Talking-Albums(mit dem einfallsreichen Titel The First Album), ein ästhetisches Statement sehen: das Cover bildet einen Lackschuh ab, der an einen Turnschuh angelehnt ist. Eine mutige Deutung könnte hierin den für die Popkultur so charakteristischen Grenzgang zwischen ernsthafter Hochkultur (Lackschuh) und unterhaltender Popkultur (Turnschuh) erkennen.
28 Gerhard Schulze: Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart. Frankfurt a.M., New York: Campus 2000. S. 57.
29 Vgl. hierzu: Christian Doelker: Medien lesen – von der multa-media- zur Multimedia-Kompetenz. In: Heinz Bonfadelli, Priska Bucher (Hg.): Lesen in der Mediengesellschaft. Stand und Perspektiven der Forschung. Zürich: Petalozzianum 2002. S. 125-132.
30 Vgl. ebd. S. 128.
31 Im Original lautet diese Stelle: „No Man is an Iland, intire of it selfe; every man is a peece of the Continent, a part of the maine; […] any Mans death diminishes me, because I am involved in Mankinde; And therefore never send to know for whom the bells tolls; It tolls for thee.“ John Donne: Devotions Upon Emergent Occassions. Hrsg. von Anthony Raspa. New York/Oxford: Oxford University Press 1987. S. 87.
32 Dirk Frank: „Talking about my generation” : Generationskonflikte in der Pop-Literatur der Gegenwart.. In: Der Deutschunterricht. Heft 5. 2000. S.69-85, hier S. 83.
33 Vgl. hierzu: Martin Hielscher: Generation und Mentalität. Aspekte eines Wandels. In: Neue Deutsche Literatur 48 ( 2000), H. 4. S. 174-189.

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Christian Steltz: ‚Modern Talking ist eigentlich eine Superband’ – Modernes Sprechen in Christian Krachts „Faserland“ - In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 17/2008. WWW: http://www.inst.at/trans/17Nr/8-3/8-3_steltz.htm

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