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Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften | 17. Nr. | Februar 2010 |
Sektion 8.9. | Transformationen der Germanistik. Neue Wege, neue Grenzen, neue Tendenzen in der Forschung und im Unterricht Sektionsleiterinnen | Section Chairs: Andrea Horváth und Eszter Pabis (beide: Debrecen) |
Körperlichkeit und Bildlichkeit.
Josef Nadjs (Nagy József) Büchner-Inszenierung an der Grenze
verschiedener Kulturen und Gattungen
Zsófia Lelkes [BIO]
Seitdem die Theaterwissenschaft selbst als Disziplin sich berechtigt sieht, mit den literarischen gleichwertigen Analysen für Theaterereignisse zu liefern, scheint die Trennung zwischen Drama als Teil der Literaturwissenschaft und seine Aufführung als Teil des Theaters künstlich und unproduktiv zu sein. In meinem Vortrag wollte ich statt der Betonung der Unterschiedlichkeit beider Medien, die Aufmerksamkeit auf deren Zusammengehörigkeit lenken, in dem ich eine spezifische Wahrnehmung, nämlich die visuelle im Zentrum stellte, die einen Schnittpunkt literarischer und performativer Rezeption bildet.
Weder ein performatives Ereignis noch die Literatur lässt sich nur auf Sprache beschränken. Den Reiz macht eine dem Performativen eigene Plurimedialität aus, die auch in literarischen Gattungen zu finden ist. Die überlieferten literarischen Begriffen spiegeln auch das Wechselspiel verschiedener, jeweils der oralen und schriftlichen Kulturen eigenen Wahrnehmungen. Das im 19. Jh. als Abkürzung für lyrische Poesie gebildete Wort ‘Lyrik’ ist selbst ein Metapher des durch Leierspiel begleiteten Gesangs. Mit dem Begriff sind immer noch Klangeffekte verknüpft: Reim und Rhythmus. Das Wort ‘Epos’ wurde im 18. Jh. aus dem griechischen 'epos' Wort mit der Bedeutung Rede, Erzählung entlehnt. Der Begriff ‚Drama’ wurde im 16. Jh. aus dem griechischen ‘drama’ mit der Bedeutung ‘Handlung, Geschehen’ entlehnt. Das Grundwort ‘dran’ bedeutet ‘tun, handeln’.
Nach Gadamer reicht die Sprache über die Grenzen des traditionalen Verstehens hinaus, der geschriebene und der gesprochene Text bilden nur die eine Erscheinungsform des Seins und dadurch versteht sich Sprachlichkeit als ein universelles Modell. Auch die Bildlichkeit, Musikalität, und Bewegung ist Teil dieser durch die Sprache erklärte Welt, aber diese Sprachlichkeit im Sinne Gadamers steht auch chronologisch vor dem Wort, vor der Bedeutung.
Die ursprünglich eindeutig auf Oralität reflektierenden Begriffe werden meist im 18. Jh. in die literarische Welt eingeführt - literarisch im Sinne der Buchstäblichkeit. Seit die Oralität in der abendländischen Kultur allmählich von der Schriftlichkeit abgesetzt wurde, wuchs der Anspruch auf schriftlich fixierte Übermittlung in den performativen Künsten (darunter Musik, Theater und Tanz). Man übersetzte Körperpraxis in die abstrahierte Welt der Schrift. Aus dem Körperlichen wurde ein bildliches Zeichen, und umgekehrt bei der Bühnenrealisierung des dramatischen Stoffes. Durch diese Bildlichkeit können Schrift und Körper als tragende Flächen für künstlerischen Ausdruck miteinander in Verbindung gebracht werden.
Bild und Schrift sind durch das Sehen, ihre Fixiertheit miteinander verknüpft, in den fernasiatischen Schriftsprachen sind sie auch eins. Die visuelle Wahrnehmung (das Sehen, Beobachten) ermöglicht Strategien für die Interpretation der Kultur, die isolieren und separieren. Dadurch ermöglicht sie einen analytischen Umgang mit dem Gesehenen.
Sprache und Bild(lichkeit) als Interpretationsmodelle des wissenschaftlichen Diskurses, sowie Sprache und Bild, als künstlerisches Konzept wechseln sich im Laufe der Kulturgeschichte.
Der "linguistic turn"(1) in zweiter Hälfte des 20. Jahrhunderts und das daraus resultierende Interesse an der Textualität der Kultur schieb die Codiertheit und die Analyse verschiedener, als Zeichen begriffenen kulturelle Erscheinungen in den Vordergrund. Er fasste jedwede wissenschaftliche Repräsentation der menschlichen Umgebung als Sprache auf. In dieser Umgebung entfalteten sich Aufführungsanalysen, die sich auf theatralen, später auf performativen Texten und deren Lesbarkeit konzentrierten.
Tanz, als Teil der bildlich erfassbaren Künste, die als einzelne Bildmomente gedeuteten Tanzelemente, ermöglichen die Lektüre des Tanzes als Text. Eine Lektüre des Tanzes als bewegte Zeichen, als Kinetogramm im Raum - konfrontiert sowohl den choreographierende "Schreiber" als auch den Leser mit dem Thema der Schrift: als Tanzschrift und als Medium des tänzerisch beschriebenen Raums. Tanz besteht aus Zeichen des Flüchtigen: die Grundstruktur des Tanzes charakterisiert das Transitorische der tänzerischen Figuren, das Erscheinen und Verschwinden seiner Strukturen im Raum. Die Einzel-Zeichen, also gleichsam Buchstaben des Tanzes und ihre Strukturierung im Raum werden zum Thema von meta-choreographischen Reflexionen: in der Theorie und in der Praxis von Tanz-Schriften, von Systemen der Notation von Körperbewegung und Choreographie. Die Versuche solcher Codierungen von Tanz als Schrift reichen bis in die Zeit der Renaissance zurück. Die Geschichte solcher Notationen die nie zu einem allgemein verwendeten Alphabet ausformuliert wurden, ihre Darstellungsformen und Strukturen wirken zugleich wie ein Spiegel der Ästhetik und der kulturellen Stellung des Tanzes. Reflexionen über den Anteil von Bild (getanzte Raumwege) und abstraktes Zeichen finden ihren Niederschlag auch in dem modernen Tanz selbst und in der bildenden Kunst, als z.B. Raummuster. Tanz lässt sich, wie die Ausdruckstanzbewegung der vorigen Jahrhundertwende bewies, aus Bild entstehen, und auf bildliche Schriftzeichen in der Schriftnotation von Frederich Albert Zorn, Joan und Rudolf Benes, Laban auflösen. Lesbarkeit und Reproduzierbarkeit sind die Zielsetzungen der Tanznotation - so wie in der Literatur, beraubt des Körpers, des Klanges, des Geruches, des sinnlich Erfassbaren. (Brandstetter, 1995)
Ab den 90ern Jahren der letzten Jahrhundert wird eine Verschiebung im intellektuellen und akademischen Diskurs deutlich: nun ist das Modell der Sprache nicht mehr paradigmatisch für die Analyse von Bedeutung, vielmehr sind nicht-linguistische Symbolsysteme ins Zentrum gerückt. Visualität und visuelle Metaphorik, Bildlichkeit, ein “picturial turn” scheinen sowohl die Alltags- als auch die akademische Sprache abzuzeichnen. (Mitchell, 1997:15)
Mit dem kulturellen Umbruch der frühen Neuzeit im Zusammenhang mit der Zentralperspektive, gewann die visuelle Wahrnehmung die Oberhand. Später, mit der Entdeckung des Netzhautbildes, entsteht ein verändertes Bilddenken, das den menschlichen Körper erstmals zum privilegierten Objekt des Blicks macht. Im perspektivischen Flächenraum der Guckkastenbühne agiert der Schauspieler unter Maßgabe seiner bildhaften Wirkung und Erscheinung. Er wird zum Ausgangspunkt einer neuartigen Kultur, die neue Wege der Intimisierung aufzeigt. Die technologisierten Bilder nutzen die Vereinigung von Körper, Bild und Medien und nehmen in Verhältnis von Theater und Film, Bild und Tanz neue Erscheinungsformen und Wirksamkeit an, die zur massenmedialen Radikalisierung der Bildwerdung des Körpers führten. (Haß, 2005, 2006)
Dass eine Bewegung nicht ausschließlich in Bedeutung zu übersetzen sei, lässt sich durch Tanz am plausibelsten erklären. Die Bewegung kann nur durch die einzeln ausgelegte, buchstabierte Bedeutung nicht erfasst werden, sei es eine rituelle, oder Bühnendarstellung. Man kann eine Bewegung zwar genau mit Hilfe von Wörter beschreiben, man kann sie als statisches oder bewegtes, chronologisch geordnetes Bild wiedergeben - man kann sogar durch verziertes Sprechen den Tanz beschreiben, wie im Ballett-Kritik der Romantik es versucht und von Heine und Hofmann kritisiert wurde. Das Wesentliche aber, diese durch einen Körper auf andere Körper ausgeübte Wirkung im spezifischen Raum weigert sich der Literarisierung und der Bildrepräsentation des Körpers einzuordnen.
Trotzdem schließen sich das Literarische und Performative einander nicht aus. Die Literatur ist selber eine Reflexion auf etwas Erlebtes, das unter dem Einfluss des kulturell bestimmten Sehmodus im literarischen Werk eingeprägt wird. Derselbe Sehmodus schafft die Rahmen für theatrale, im erweiterten Sinne performative Ereignisse. (Haß, 2005)
Text, Bild, Körper – Büchners Woyzeck in Josef Nadjs Inszenierung
Josef Nadjs Woyzeck-Inszenierung weigert sich einer gattungsspezifischen Eingliederung. Sie lässt sich weder auf Tanz noch auf Text reduzieren. Tanz ist es doch, weil es aus Bewegungsreihen entsteht, weil Rhythmik diese Bewegungen und deren Rezeption strukturiert, weil die miteinander bewegten Körper im Raum das Drama hervorrufen. Text ist er auch - aus semiotischen, hermeneutischen Sicht einerseits. Das Geflecht der Inszenierung lässt sich auf Körperbilder auflösen - das ist aber nicht der Zweck der Ausführung und Inszenierung, sondern der wissenschaftlichen Analyse. Doch, allein die Körperlichkeit soll in den Rezipienten das spezifische Gefühl hervorrufen.
In Nadjs Theater werden ein Mythos (der Mord aus Eifersucht) und eine konkrete literarische Vorlage in Bilder, in eine Flut von Bildern umgesetzt. Körperlichkeit, Bewegung, Bildhauerei und eine erschütternde, mitreißende Sinnlichkeit in dem spezifischen Raum macht seine szenische Darstellung aus. Das Ort der Aufführung ist eng, damit die Zuschauer dieser starken körperlichen Ausstrahlung sich nicht entziehen können. Das Ziel ist nicht die im literarischen Sinne dem Text entsprechende Bühnendarstellung, oder eine Textillustration, sonder die Allegorie, die aber durch Körperbilder entsteht. Der Ausgangspunkt ist der Büchner’sche literarische Text, aber nur für dessen sinnlichen Abdruck in den Darstellenden und den Rezipierenden. Der Ausgangstext Büchners enthält eben die Lücken, die durch Nadjs Emblemen, wie ein Apfel als Wettkampfmittel, gefüllt werden können. Diese Lückenhaftigkeit macht wahrscheinlich den Büchner'schen Text zu den beliebtesten Aufführungsstoffen des modernen und postmodernen Theaters. Nadj gibt nicht die in Dialogen Manifest gewordenen dramatischen Situationen wieder, sondern der rhetorische Sinn der Gesamtheit aller Dialogen wird erforscht. Der Zuschauer soll in diesem Theater diese bildliche Gesamtheit zusehen und mitfühlen können, auch ohne jegliche literarische Vorlagen. Die Reproduzierbarkeit dieses Theaters verlangt aber (besonders im technischen Zeitalter) die einzelnen Bilder, aus deren Bewegtheit die Aufführung wieder hervorrufen lässt. Was im Rezipierenden übrig bleibt, ist ein sinnlicher Nachgeschmack und einzelne Bild- und Bewegungselemente, ein Radrennfahrer mit für ewig gefixten Fahrrädern, wo der Rivale immer zu gewinnen scheint. Ein Apfel, der, wie es nach genauerem Sezieren herausstellt, ein Ohrring versteckt. Die wie Perlen, nach einander ausgespuckten Erbsen Woyzecks die in allen Himmelsrichtungen im Raum verschwinden. Bilder, die zwar durch Wörter sich beschreiben lassen, aber nicht unbedingt mitgefühlt werden können. Der Zuschauer ist seinen wortlosen Gefühlen, seiner Gedrängtheit ausgeliefert. Man spürt doch die Trübheit, man fühlt mit dem Schauspielerkörper mit, fast geht es auf eigener Haut - was der Ausgangstext selber vermittelt oder vermitteln soll. Der Text wegen des aus seiner Gattungsspezifik ableitbaren Entfremdungseffekts tut sich selber schwer, diesem durch den Körper vermittelten Gespür ebenbürtig zu werden.
Büchners Woyzeck-Inszenierungen in Ungarn lassen sich mehrere mediale Fragestellungen zu. Wie entsteht aus einem fremdkulturellen literarischen Text ein Bühnentext? Der gebürtige Ungar Nadj hat Büchners Drama in Frankreich mit Ungarn ohne Wörter, trotzdem dem Ausgangsdrama gerecht auf die Bühne gestellt. Seine Inszenierung klammert die interkulturelle Problematik völlig aus, und konzentriert auf die Umsetzung des Schriftlichen ins Lebendige.
Die Wortlosigkeit und das Körper-Haben und Körper-Sein sind im ungarischen Theater der Nachkriegszeit nicht willkommen, das Bildungstheater mit klassischen Textvorlagen etabliert sich in jener Zeit. Wörter lassen sich beschränken, kontrollieren, beseitigen und ausstreichen. Körper sind schon schwieriger auszustreichen und zu beseitigen.
Jenseits des Etablierten, im Laientheater werden Wörter in Frage gestellt. Situation, Raum, Beziehung zwischen Zuschauenden und Spielenden rücken in den Mittelpunkt. Pantomime, Volkstanz (im Sinne nicht Bühnentanz) - also Körperlichkeit scheinen zur Zeit der Begrenztheit im Sozialismus als einziger Ausweg aus der Welt der oft sinngefälschten Worten. Die Anregung für Nadjs Körperkunst kam aus dieser Parallelwelt des ungarischen Theater, aber die Umsetzung dieses totalen Sinntheaters konnte nur in den Westen sich völlig entwickeln. Für diese sinnliche Bedrängtheit, die Unkontrollierbarkeit weil wortlos, war das Ungarn der 80Jahren nicht der richtige Raum und nicht die richtige Zeit.
Warum rechne ich trotzdem Nadjs Inszenierung zu der ungarischen Büchnerrezeption zu? Weil ich Nadjs Theaterarbeit als die Fortsetzung und Entfaltung der Ideen im ungarischen Paralleltheater (Laientheater, Tanztheater der Volkstanzszene, Pantomime, Bewegungskunst) auffasse. Zugegeben Nadjs eindeutige Zugehörigkeit der ungarischen Kultur, der ungarischen Theaterszene ist fragwürdig (zugleich unwichtig), wahrscheinlich aber nicht sein Ungarisch-Sein. In Frankreich schaffend, mit Ungarn und Franzosen zusammenarbeitend, Teil der ungarischen Minderheit in den ehemaligen Jugoslawien, selbst ungarisch sprechend, aus den Erinnerungen seiner Heimatstadt Magyarkanizsa arbeitend - schafft er doch ein wahres, lebendiges Drama, die durch die Verwendung dieser körperlichen Bildlichkeit grenzenlos wird.
Literaturverzeichnis:
Anmerkungen
1 Richard Rorty führte für die Philosophiegeschichte den Begriff “turn” (Wende) für die Paradigmenwechsel im wissenschaftlichen Diskurs ein.
8.9. Transformationen der Germanistik. Neue Wege, neue Grenzen, neue Tendenzen in der Forschung und im Unterricht
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