Nr. 18 Juni 2011 TRANS: Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften
Das Wandlungskonzept in der expressionistischen Dramatik – Ein Denkmodell zur Bewältigung der Krise zur Zeit der Moderne
Der Beitrag der Wissensgesellschaft zur Überwindung der heutigen Krise?
Rania Elwardy (Ain Shams Universität, Kairo, Ägypten) [BIO]
Email: raniaelwardy@yahoo.com
Konferenzdokumentation | Conference publication
In diesem Aufsatz bemühe ich mich darum, auf der Basis der Literaturwissenschaft ein realisierbares Denkmodell anzubieten, das einen Beitrag zur Überwindung der hochkomplizierten Krise zur Zeit der Moderne leistet, deren Ort die Großstadt(1) ist. Diese versteht sich einerseits als Ort der wissenschaftlich-technischen Innovationen, als Informationszentren mit verschiedenen Formen von Meinungsbörsen, als Ansiedlungsorte für Informations- und Unterhaltungszentren, für Verlage, Film-, Rundfunk-, Fernsehanstalten und andererseits als Ort des sozialen Elends, der privaten und kollektiven Katastrophen, des Kommunikationsverlustes, der Einsamkeit, der Ersatzbefriedigung, der Sinnentleerung, der Angst, der metaphysischen Obdachlosigkeit und der Verzweiflung.
Dieser Aufsatz gilt also als Appell an die verschiedenen Wissenschaftsbereiche, die Denkmodelle in den verschiedenen Wissenschaftsbereichen zu untersuchen, so dass man von einer interdisziplinären Forschung sprechen kann. Die Vertreter der verschiedenen Wissenschaftsbereiche erscheinen hier aber nur als ein Vertreter der Intellektuellen(2), die auch Journalisten, Publizisten, Schriftsteller, Kritiker und andere umfassen. Diesen Intellektuellen fällt die Aufgabe zu, die Diskussion über die Wege zur Überwindung der heutigen Krise in den wissenschaftlichen Untersuchungen, in den Konferenzen, in der Presse, im Rundfunk, im Fernsehen, in den Filmen und in den Theaterstücken so zu eröffnen, dass an dieser Diskussion nicht nur die Intellektuellen, sondern auch die Völker und die Regierungen teilnehmen. Das Zeitalter der Globalisierung ermöglicht es, dass diese Diskussion global wird. Die neue Technik, die ein Charakteristikum für das Zeitalter der heutigen Globalisierung ist, kann diese Diskussion so unterstützen, dass eine breite Masse von Menschen und von Institutionen, die zu unterschiedlichen Ländern gehören, an dieser Diskussion teilnehmen. Diese Diskussion findet im Zeitalter der Globalisierung statt, die nichts anders als die Konstituierung einer Wissensgesellschaft ist, in deren Rahmen niemand die absolute Wahrheit hat und in der man nach dem Wissen strebt, das einen Fortschritt mit sich so bringt, dass der Hoffnungsschimmer in der ganzen Welt dominiert. Diese Diskussion zielt letzten Endes dahin, die Frage zu beantworten, wie die verschiedenen Krisen zur Zeit der Moderne bzw. zur Zeit der Globalisierung so überwunden werden können, dass der Moderne Mensch sich zufrieden in der Großstadt fühlt, die ein Symbol für die Moderne mit allen ihren Diskrepanzen ist.
Die vorliegende Arbeit(3) setzt sich als Ziel, das Wandlungskonzept im Drama des Expressionismus(4) zu untersuchen. Die Erforschung des Wandlungskonzeptes im expressionistischen Drama ermöglicht mir einerseits die verschiedenen Bedeutungen der ‘Wandlung’ ausgehend von der Textanalyse des expressionistischen Dramas zu erläutern, andererseits die Frage zu beantworten, ob das im Drama des Expressionismus dargestellte Denkmodell der Wandlung zur Bewältigung der auch im expressionistischen Drama dargelegten Krise führt. Diese Frage leitet zu anderen Fragen über – nämlich ob die Form der zur Zeit des Expressionismus bevorzugten Gattung ‘Stationendrama’(5) der Darstellung der Wandlung und ihrer Funktion der Krisenbewältigung besonders gerecht wird.
Das in dieser Arbeit dargestellte Thema gewinnt seine Bedeutung, wenn man in Betracht zieht, dass die Welt eine Krise erlebt, die der zur Zeit des Expressionismus dominierenden Krise ähnlich ist. Dieser Gesichtspunkt, nämlich dass die Welt heutzutage eine Krise mit verschiedenen Aspekten erlebt, beruht auf dem Buch „Die psychische Sattheit” (2005) von dem in Ägypten bekannten Psychologen Sayed Sobhy.(6) In diesem Buch stellt Subhy die Krise mit ihren verschiedenen Aspekten dar, worunter seiner Meinung nach die Welt heutzutage leidet. Der Vergleich, den ich ziehe zwischen der in Subhys Buch dargestellten Krise und der in der Literatur des Expressionismus bzw. im Drama des Expressionismus dargelegten Krise, zeigt, dass die beiden Krisen ähnlich, wenn nicht gleichartig sind. Diese Feststellung lässt mich darüber nachdenken, ob das im Drama des Expressionismus dargestellte Denkmodell der Wandlung als taugliches Mittel zur Überwindung einer Krise, die – so kann man vermuten – auch heutzutage in der Welt dominiert. Die Beiträge der anderen Wissenschaften sollen untersucht und miteinander verglichen werden, so dass man am Ende über interdisziplinäre Forschung sprechen kann.
Die Untersuchung hat gezeigt, dass die Zeit des Expressionismus sich als die Zeit im zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts versteht, während der das Gespräch über die Rationalisierung, die Technisierung, die Industrialisierung, die Urbanisierung, die Zunahme sozialer Mobilität, die Expansion massenkommunikativer Prozesse, die Bürokratisierung, die funktionale Ausdifferenzierung eines immer komplexeren gesellschaftlichen Systems, die Entzauberung tradierter Mythen, die kritische Überprüfung metaphysischer Gewissheiten stattfindet und während der über die fortschrittsgläubige Ausweitung der rationalen Verfügungsgewalt über die äußere Natur die Rede ist und während der divergente literarische Erscheinungen so auftreten, dass über die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen gesprochen werden kann.
Die Untersuchung hat überdies gezeigt, dass zur Zeit des Expressionismus die Krisen der Entfremdung, des Krieges und der Armut dominieren, dass diese Krisen ihren Platz in der Großstadt finden, die sich versteht als Ort des sozialen Elends, der privaten und kollektiven Katastrophen, des Kommunikationsverlustes, der Einsamkeit, der Ersatzbefriedigung, der Sinnentleerung, der Angst, der metaphysischen Obdachlosigkeit und der Verzweiflung, dass das in der expressionistischen Literatur dargestellte Wandlungskonzept einen großen Beitrag bei der Bewältigung dieser Krisen, die auch in der expressionistischen Literatur dargelegt werden, leistet und dass die Form der zur Zeit des Expressionismus bevorzugten Gattung ‘Stationendrama’ der Darstellung der Wandlung und ihrer Funktion der Krisenbewältigung besonders gerecht wird.
Die Darstellung der Krise zur Zeit des Expressionismus lässt mich nach den Gründen fragen, die für die Dominanz dieser hochkomplizierten Krise verantwortlich sind. Eine mögliche Antwort auf diese Frage bietet diese Studie an. Diese Studie macht deutlich, dass die bürgerliche Weltanschauung, die antimetaphysisch, materialistisch und imperialistisch ist, die Menschheit in diese Krise führte, wovon das Bürgertum nicht unberührt bleibt. Dass die Bürger die Welt entgöttert, lässt die Menschen in verschiedene Formen der Entfremdung geraten. Überdies bewegt die materialistische Weltanschauung die Bürger dazu, die Proletarier auszubeuten, einerseits indem sie die Proletarier für eine lange Zeit arbeiten lassen, ohne ihnen ausreichende Löhne zu geben, wodurch die Proletarier ihre wesentlichen Bedürfnisse nicht befriedigen können, weshalb letzten Endes diese Proletarier ein elendes Leben führen müssen, andererseits indem sie die Proletarier in einen Krieg schicken, der nur der Vermehrung ihres Kapitals dient. Die beschriebene Weltanschauung des Bürgertums führt die Menschheit zu einer hochkomplizierten Krise, die das Innen und das Außen der Menschheit so bedroht, dass die Menschheit zur Zeit des Expressionismus über den Verfall spricht, der in der expressionistischen Dichtung durch die Anwendung der Metaphern Flut und Gerichtstag artikuliert wird.
Bemerkenswert ist es, dass eine Reihe von Theorien und Philosophien einen wesentlichen Beitrag bei der Herausbildung der vorher beschriebenen Weltanschauung leisten. Zu diesen Theorien und Philosophien sind die folgenden zu zählen: die naturwissenschaftliche Theorie von Charles Darwin, die Philosophie von Friedrich Nietzsche, die materialistische Philosophie von Karl Marx und Ludwig Feuerbach. Die Theorie von Darwin besagt, dass die Lebewesen sich nach dem Gesetz der Auswahl der Tüchtigsten aus einfachsten Formen entwickelt haben. Die naturwissenschaftliche Theorie lässt meiner Ansicht nach die Grossbürger, die vor allem die Vertreter der Machthaber und der Kapitalisten repräsentieren, das Leben als Konflikt betrachten, wo die Starken die Schwachen unterdrücken, damit sich das Leben entwickelt. Neben der naturwissenschaftlichen Theorie von Darwin spielt Nietzsches Philosophie auch eine Rolle bei der Herausbildung der bürgerlichen Mentalität. In dieser Philosophie unterscheidet Nietzsche zwischen der Herren- und der Sklavenmoral. Diese Herrenmoral bei Nietzsche kennt kein Mitleid mit den Armen, die seiner Meinung nach die Vielzuvielen und die Fabrikware der Natur sind, deren Untergang – wieder Nietzsche zufolge – man weder aufhalten noch bedauern soll. Die Herrenmoral und die Verachtung der Menge lassen die Grossbürger das Mitleid mit dem Proletariat der Großstadt aufgeben und eine völlig unsoziale Haltung einnehmen. Diese unsoziale Haltung ist verständlich, wenn man in Betracht zieht, dass Nietzsches Philosophie einen Einfluss auf die bürgerliche Mentalität ausübt, nicht nur indem diese die Grossbürger kein Mitleid den Schwachen gegenüber zeigen läßt, die an diesem Konflikt zugrunde gehen, sondern auch indem diese das Ziel dieses Kampfes bestimmt, nämlich den Willen zur Macht. Das andere Ziel dieses Kampfes, das die kapitalistische Lehre feststellt, ist das Geld.
Die Dominanz einer hochkomplizierten Krise zur Zeit des Expressionismus lässt die Expressionisten in ihrer Dichtung ein Denkmodel zur Überwindung dieser Krise entwerfen. Dieses Denkmodell ist nichts anderes als das Wandlungskonzept, womit die Expressionisten einerseits die Befreiung von der bürgerlichen Mentalität bezeichnen, was durch eine religiöse Erhöhung vollzogen wird und andererseits den Kampfprozess gegen die bürgerliche Weltanschauung, die die Menschen in der hochkomplizierten Krise sich verstecken lässt. Die expressionistische Dramatik macht deutlich, dass die an diesem Kampf beteiligten Charakteren nicht unbedingt religiöse Züge haben. Jimmy in Tollers Drama „Die Maschinenstürmer” führt seinen Kampf gegen die bürgerliche Mentalität ausgehend von seinem Glauben an Gott. Dies drückt er selbst in der folgenden Äußerung so aus: „Ich kämpf,, als glaubte ich an Gott.”(7) Im Gegensatz zu Jimmy führt Michel Unbeschwert in Tollers Drama „Der deutsche Hinkemann” seinen Kampf gegen die bürgerliche Mentalität mit der Hoffnung, dass sein Kampf unter der Führung der Gewerkschaft zur Entstehung eines sozialistischen Staates führt, in dem die vernünftige Menschheit ein glückliches Dasein führt.(8) Eva Berg, Karl Thomas, Albert Kroll und Frau Meller in Tollers Drama „Hoppla, wir leben!” kämpfen um die Gerechtigkeit gegen die Bürger, die ungerechte Verhältnisse in der Gesellschaft verursachen. Der Kampf in Tollers Dramen „Der deutsche Hinkemann” und „Hoppla, wir leben!” richtet sich auf den Schutz der Menschenrechte. Diese Feststellung, zu der man durch eine analytische Betrachtung der expressionistischen Dramatik kommt, leitet zu einer anderen Frage über: ob die Wandlung bei einigen expressionistischen Autoren nur eine Befreiung von der bürgerlichen Mentalität bedeutet, was nicht unbedingt durch eine religiöse Erhöhung vollzogen wird. Diese Frage bleibt offen.
Dieser Wandlungsprozess repräsentiert den Prozess, den der neue Mensch erlebt, der ihn zur Wandlung seiner Gesellschaft fähig macht. Das Erlebnis dieses Prozesses verleiht dem neuen Menschen die Eigenschaften, die ihm bei der Bewältigung seiner Aufgabe helfen. Zu diesen Eigenschaften gehören vor allem die humanistische Haltung, die Opferbereitschaft, die Geistigkeit, die Reinheit, die Kampffähigkeit und die Religiosität, die sich nicht nur in seiner Sprache, sondern auch in seiner humanistischen Haltung manifestiert. Dank der humanistischen Haltung des neuen Menschen fühlt sich die Masse zu diesem Menschen so hingezogen, dass die Masse von ihm beeinflusst wird. Der Mensch, der sich wandelt – wie in der expressionistischen Dramatik klar hervorgeht – kann eine Rolle bei der Wandlung seiner Gesellschaft spielen, indem er seinen Zeitgenossen ein Vorbild anbietet, das nachgeahmt werden kann oder indem er eine Kunst schafft, mit der das Wandlungskonzept dargestellt wird. Der gewandelte neue Mensch kann eine effektive Rolle bei der Wandlung seiner Gesellschaft spielen, wenn er beim Entwurf des Wandlungskonzeptes den Zeitgeist berücksichtigt.
Der neue Mensch gilt aber nur als Anlass, der die Menschen zur Hinwendung zu Gott veranlasst. Dass das Hinwenden zu Gott den Menschen von der inneren Krise rettet, macht die expressionistische Dichtung klar. Friedrich in Tollers Drama „Die Wandlung“(9) findet den Weg, nachdem er sich an Gott wendet. Friedrichs Wandel lässt ihn die Entscheidung treffen, ein Prediger zu werden, der die Menschen zur Rückkehr zu Gott bewegt. Dass Friedrich sich Gott zuwendet, rettet ihn nicht nur vor der Wahrnehmungskrise, sondern auch vor der Entfremdungskrise, da er nach seiner Wandlung die Anderen als seine Brüder ansieht. Die Wandlung im religiösen Sinne rettet nicht nur Friedrich in Tollers Drama „Die Wandlung“ vor der inneren Krise, sondern auch den Kassierer in Kaisers Drama „Von morgens bis mitternachts“(10). Dass sich der Kassierer ganz am Ende des Dramas an Gott wendet, lässt ihn den Weg finden, was ihn vom Wandeln – d.h. vom Herumgehen – rettet. Der Dichter in Sorges Drama „Der Bettler“(11) träumt davon, durch seine Dichtung die Menschheit zur Hinwendung an Gott zu veranlassen, damit diese ihre innere Krise überwindet.
Eine analytische Betrachtung für die Struktur und die Leitmotive im Stationendrama „Die Wandlung“ zeigt, dass diese beiden Elemente im Drama den Beitrag des Wandlungskonzeptes zur Bewältigung der Entfremdungskrise bei der Hauptfigur markiert. Die lineare Struktur im Drama weist darauf hin, dass die Hauptfigur im Drama sich entwickelt und dass diese Entwicklung sich vollzieht, nachdem die Hauptfigur einen Wandlungsmoment erlebt, während dem diese Figur die Gottes Existenz erfährt. Während der Zustand vor dem Wandlungsmoment durch die Anwendung der Leitmotive der Wanderung, der Wüste und der Dunkelheit und als Ahasvers Weg beschrieben wird, wird der Zustand nach dem Wandlungsmoment durch die Anwendung der Leitmotive des Gottes Weges und des Lichtes geschildert.
Obwohl im Drama des Expressionismus klar ist, dass das Hinwenden der Menschen zu Gott sie von der inneren Krise rettet, wirft das expressionistische Drama das Licht darauf, dass die Menschen sich an Gott nicht wenden möchten, weshalb sie in unendliche Krisen geraten. Dies drückt Hinkemann ganz am Ende des Dramas „Der deutsche Hinkemann“ wie folgend aus: „[…] Wie ist das sinnlos! Manche sind arm und könnten reich sein und brauchten keine himmlische Lösung…die Verblendeten!“.(12) Mit der Armut ist hier die seelische Armut gemeint, die dadurch entsteht, wenn sich der Mensch von Gott abwendet, was ihn in unendliche Krisen geraten lässt und verschiedenen Entfremdungsformen entstehen. Die Äußerung „brauchten keine himmlische Lösung“ wirft ein Licht darauf, dass die Menschen sich Gott nicht zuwenden wollen, was sie zur seelischen Armut führt, worunter sie bitterlich leiden. Das Wort „die Verblendeten“ lenkt die Aufmerksamkeit auf den Grund, der die Menschen seelisch arm macht, was infolgedessen die Menschen andauernd leiden lässt. Dieser Grund ist in dem Ungeist der Menschen zu finden, was sie unfähig macht, einen Dialog mit ihrer Seele zu führen, wodurch sie Gottes Existenz erfahren, was ihre Armut in Reichtum verwandelt. Das, was die Menschen zum Ungeist führt – wie an einer anderen Stelle im Drama erwähnt wird(13) – ist ihre lebendige Natur, die stärker ist als ihr Verstand, was letzten Endes dazu führt, dass der Verstand zum Mittel zum Selbstbetrug gewandelt wird.
Dass der Mensch sich von Gott abwendet – wie im expressionistischen Drama deutlich wird – liegt nicht nur an seinem Ungeist, sondern auch an seinem unbefriedigenden Wissensdrang. Dieser lässt ihn danach fragen, warum Gott die Menschen in Stich lässt und ihnen bei der Krise der Armut und des Krieges nicht hilft. Diese Frage bleibt im Drama unbeantwortet, was die Menschen im Drama einen Hass Gott gegenüber hegen lässt, obwohl sie an seiner Existenz glauben und obwohl sie ihn darum bitten, ihnen die Geduld zu gewähren, wodurch sie die Leidensgefühle vermindern.
Das Wandlungskonzept im expressionistischen Drama bezeichnet nicht nur die Befreiung von der bürgerlichen Mentalität, was durch die religiöse Erhöhung vollzogen wird, sondern auch den Kampfprozess gegen die bürgerliche Mentalität, der im expressionistischen Drama verschiedene Formen annimmt und der im Drama verschiedene Plätze hat. Der Kampf gegen diese Mentalität, die sich in dem Ungeist, dem Egoismus, der Herzenslosigkeit, der Arroganz, der Autorität und dem Materialismus manifestiert, findet ihren Platz im bürgerlichen Haus, wo diese Mentalität vermittelt wird; in der Masse, die aufgrund dieser Mentalität in Not gerät; in der Fabrik, wo die Arbeiter wegen dieser Mentalität seelisch und materiell leiden; in der Gewerkschaft, wodurch die Arbeiter ihre von den Bürgern beraubten Rechte zu erkämpfen versuchen; im Parlament, wo die Gesetze zugunsten der Bürger und auf Kosten der Proletarier erlassen werden; in der Armee, wo die Soldaten geschlachtet werden, damit sich das Kapital der Grossbürger vermehrt und in der Presse, wo die Gefahr der bürgerlichen Mentalität deutlich gemacht wird.
Eine genauere Betrachtung des Tollerschen Drama „Die Wandlung” zeigt, dass der Kampf des expressionistischen Bürgersohnes gegen seinen bürgerlichen Onkel diesem Sohn ermöglicht, ein Selbstbewusstsein zu entwickeln. Diese Selbstwerdung – wie im Drama deutlich wird – kann nicht vollzogen werden, ohne dass der Sohn zuerst sich selbst wandelt, d.h., ohne dass er zuerst in sich so hineinschaut, dass er seine Wurzel als ein von Gott erschaffenes Lebewesen entdeckt und dass er seine Fähig- und Fertigkeiten entdeckt, die er in Gottes Dienst stellt. Nachdem der expressionistische Bürgersohn diesen komplizierten Wandlungsvorgang erlebt, kann er einen friedlichen Kampf gegen die bürgerliche Vätergeneration führen, die ihn durch ihre autoritäre Haltung hindert, Gott, der sich als Liebe; Geist und Kraft versteht, zu entdecken und die ihn auch behindert, sein von ihm entdecktes Selbst zu entfalten. Dass der Sohn – wie in Hasenclevers Drama „Der Sohn”(14) deutlich ist – einen Konflikt mit seinem Vater führt, ohne dass er zuerst den vorig beschriebenen inneren Wandlungsprozess erlebt, lässt den Konflikt zwischen dem Vater und dem Sohn nicht enden. In diesem Fall nimmt der Konflikt die Form einer scharfen Auseinandersetzung an, die zu nichts führt.
Die Analyse der expressionistischen Dramatik zeigt, dass der Kampf gegen die bürgerliche Macht, welche die Krise der Armut verursacht, nicht zur Überwindung dieser Krise führt. Dies hebt den Zweifel an der Tauglichkeit des Wandlungskonzeptes zur Bewältigung der Krise. Der Kampf gegen diese Macht, der in Tollers Drama „Die Maschinenstürmer“ die Form eines Streikes annimmt, wird zum Scheitern verurteilt, da nicht alle Arbeiter an diesem Kampf teilnehmen. Dieser Kampf aber wird in Tollers Drama „Hoppla, wir leben!” zu einem Wahlkampf, den die Führer in der Gewerkschaft mit der Überzeugung führen, dass die kommenden Generationen diesen Kampf fortsetzen, was meiner Ansicht nach eine Hoffnung auf die Möglichkeit der Überwindung der Krise in der Zukunft gibt. Die Wahlbetrügereien, die die bürgerliche Macht begeht, lässt aber den Kampf der Gewerkschaft scheitern. Obwohl die Krise der Armut in Tollers Drama ungelöst bleibt, wird diese Krise in Kaisers Drama „Gas ІІ“(15) gelöst, indem der Fabrikant eine sozialistische Haltung annimmt. Dass der Grossbürger in Walter Hasenclevers Drama „Der Sohn“ den Armen hilft, lässt mich zur Vermutung kommen, dass die Bürger, die sich wandeln, eine Rolle bei der Verminderung der Krise spielen können.
Obwohl der Kampf gegen die bürgerliche Macht, die die Krise der Armut verursacht, nicht einen Beitrag zur Überwindung dieser Krise leistet, führt der andauernde Kampf gegen die Verursacher der Krise des Krieges zur Bewältigung dieser Krise. Die Abhaltung der Friedenskonferenz in Tollers Drama „Nie wieder Friede!” ist ein Zeichen dafür, dass der andauernde friedliche Kampf gegen die bürgerliche Macht, der seinen Platz in der Presse, in der Masse, im Parlament, in der Armee und in der Fabrik findet, die bürgerliche Macht sich gezwungen sehen lässt, ihre imperialistischen Träume aufzugeben. Da die Masse aber noch einmal in ihren Ungeist gerät, lässt den Frieden nicht dauerhaft werden.
Diese Studie wirft also das Licht sowohl auf die hochkomplizierte Krise zur Zeit der Moderne als auch auf den Beitrag des in der expressionistischen Literatur dargestellten Wandlungskonzeptes zur Bewältigung dieser Krise. Diese Studie zeigt den großen Beitrag des expressionistischen Wandlungskonzeptes bei der Überwindung der hochkomplizierten Krise zur Zeit der Moderne. Zu diesem Ergebnis bin ich gekommen durch eine textimmanente Analyse der expressionistischen Dramatik, wo sowohl die hochkomplizierte Krise mit ihren verschiedenen Aspekten als auch das Wandlungskonzept in Erscheinung treten. Die Relevanz dieses Ergebnisses erfährt man, wenn man in Betracht zieht, dass die Welt heutzutage eine Krise erlebt, die der Krise zur Zeit des Expressionismus ähnlich – wenn nicht gleichartig – ist. Dieses Ergebnis gilt also als Appell an die Germanisten zur Wiederentdeckung dieses Denkkonzeptes, das als erfolgreiches Denkmodell zur Überwindung der hochkomplizierten Krise zur Zeit der Moderne fungieren kann. Dieser Appell richtet sich nicht nur an die ägyptischen Germanisten, sondern auch an die deutschsprachigen Germanisten, die es vernachlässigt haben, das Wandlungsmotiv in die literarischen Lexika(16) einzufügen, obwohl dieses ein Zentralmotiv nicht nur in der expressionistischen, sondern auch in der klassischen Literatur ist und obwohl dieses Motiv auch in den dramatischen und philosophischen Werken von Elias Canetti aufgearbeitet wird.
Überdies wirft diese Studie das Licht auf den neuen Menschen, der sich wandelt und der infolgedessen zur Wandlung seiner Gesellschaft fähig wird. Die Wandlung dieses Menschen bedeutet einerseits die Befreiung von der bürgerlichen Mentalität, was durch den Reinigungsprozess vollzogen wird, andererseits den Kampf gegen diese Mentalität, den dieser Mensch sowohl auf der familiären als auch auf der staatlichen Ebene führt. Die Relevanz der dramatischen Dichtung von Ernst Toller besteht darin, dass diese deutlich macht, wie dieser Kampf auf eine friedliche Art und Weise so geführt werden kann, dass die individuelle und die gesellschaftliche Wandlung allmählich und friedlich vollzogen werden kann.
Nun stellt sich die Frage, ob das Wandlungskonzept in der expressionistischen Dramatik einen Beitrag zur Bewältigung der heutigen Krise leisten kann. Diese Frage leitet zu einer anderen Frage über – nämlich: ob es andere Denkmodelle gibt, die denselben Beitrag leisten können. Die Antwort auf diese Fragen bedarf einer globalen Diskussion, an der nicht nur die Wissenschaftler, sondern auch die Journalisten, die Publizisten, die Schriftsteller, die Schauspieler, die Kritiker, die Lehrer, die Fabrikbesitzer, die Kapitalisten, die Arbeiter und die Politiker teilnehmen sollten. Diese Diskussion findet in der Wissensgesellschaft statt, in der niemand über die absolute Wahrheit verfügt und in der die Menschen nach Wissen strebt, das erklärt, wie die verschiedenen Krisen zur Zeit der Moderne bzw. zur Zeit der Globalisierung so überwunden werden können, dass der moderne Mensch sich zufrieden in der Großstadt fühlt, die ein Symbol für die Moderne mit allen ihren Diskrepanzen ist.
Anmerkungen:
1 Zu den wissenschaftlichen Studien, die sich mit der Untersuchung des Bildes der Stadt in der literarischen Moderne beschäftigen, gehören die folgenden: Becker, Sabina: Urbanität. Studien zur Großstadtwahrnehmung in der deutschen Literatur 1900–1930. Werner Röhrig Verlag, Saarbrücken 1993; Anz, Thomas: Literatur des Expressionismus. J.B. Metzler Verlag, Stuttgart-Weimar 2002, S.100–108; Vietta, Silvio: Die literarische Moderne. Eine problemgeschichtliche Darstellung der deutschsprachigen Literatur von Hölderlin bis Thomas Bernhard, Metzler Verlag, Stuttgart 1992, S. 273–282; Vietta, Silvio u. Kemper, Hans-Georg: Expressionismus. Wilhelm Fink Verlag, München 1975, S. 35–42; Wallas, Armin: Expressionistische Novellistik und Kurzprosa. In: Naturalismus, Fin de Siècle, Expressionismus 1890–1918. Hrsg. v. York-Gothart Mix, Carl Hanser Verlag, München 2000, S. 522 2 Zum Begriff des Intellektuellen und zu seiner Rolle vgl. Höffe, Otfried (Hrsg.): Lexikon der Ethik. C.H. Beck Verlag, München, 1977, S. 127-128, Prechtl, Peter u. Burkard, Franz Peter (Hrsg.): Metzler Lexikon Philosophie. Metzler Verlag, Stuttgart 2008, S.271–272, Halder, Alois: philosophisches Wörterbuch. Herder Verlag, Freiburg 2000, S.158, Schischkopp, Goorgi (Hrsg.): Philosophisches Wörterbuch, Alfred Körner Verlag, Stuttgart, 1991, S. 338–340, Dorsch, Friedrich u.a. (Hrsg.): Dorsch psychologisches Wörterbuch. Hans Huber Verlag. Bern u.a. 1987, S.311 -315, Stark, Michael: Für und Wider den Expressionismus. Die Entstehung der Intellektuellendebatte in der deutschen Literaturgeschichte. Metzler Verlag, Stuttgart, 1982. 3 Die vorliegende Arbeit gilt als Dissertation, die 2009 in Ain Shams Universität verteidigt wurde. Der Titel der Dissertation lautete: Die Thematisierung der Wandlung im Drama des Expressionismus unter besonderer Berücksichtigung von Tollers Dramen. Ende 2009 wurde diese Arbeit bei Peter Lang Verlag unter dem folgenden Titel veröffentlicht: Elwardy, Rania: Das Wandlungskonzept in der expressionistischen Dramatik – Ein Denkmodell zur Bewältigung der Krise zur Zeit der Moderne. Peter Lang Verlag, Frankfurt/M. u.a. 2009. 4 Zu den Studien, die sich mit dem Expressionismus beschäftgen, gehören vor allem die folgenden: Anz, Thomas u. Stark, Michael: Die Modernität des Expressionismus. J.B. Metzler Verlag, Stuttgart – Weimar 1994 und Anz, Thomas: Literatur des Expressionismus. J.B. Metzler Verlag, Stuttgart–Weimar 2002, Vietta, Silvio / Kemper, Hans-Georg: Expressionismus. Wilhelm Fink Verlag, München1975 und Vietta, Silvio: Die Literaische Moderne. Eine problemgeschichtliche Darstellung der deutschsprachigen Literatur von Hölderlin bis Thomas Bernhard. J.B. Metzler Verlag, Stuttgart 1992. 5 Mit dem Stationendrama bezeichnet man eine dramatische Form, die auf das Mittelalter zurückgeht und die im Expressionismus bei Walter Hasenclever, Georg Kaiser, Ernst Toller und Sorge wieder aufgenommen wird und die bei Bertolt Brecht zum Baustein des epischen Theaters wird. Diese Dramenform besteht aus einer Folge von relativ autonomen Stationen, deren Verbindung durch eine zentrale, oft typisierte Figur hergestellt wird. Charakteristisch für diese dramatische Form ist die Leitmotivik und die Struktur, die entweder eine linear-sequentielle Struktur und eine Kreisstruktur repräsentiert. Zur Gattung ‘Stationendrama’ gibt es nur wenige Studien, in denen die Wesenszüge dieser dramatischen Form untersucht werden. Zu diesen Studien zählen die folgenden Studien: Evelein, Johannes F.: August Strindberg und das expressionistische Stationendrama. Eine Formstudie. Peter Lang Verlag, New York 1996, Stefanek, Paul: Zur Dramaturgie des Stationendramas. Beiträge zur Poetik des Dramas. Hrsg. Werner Keller, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1976, Vriesen, Hellmuth: Die Stationentechnik im neueren deutschen Drama. Diss. Buchdruckerei Otto Petersen, Essen 1934 und Denkler, Horst: Das Drama des Expressionismus im Zusammenhang mit den expressionistischen Programmen und Theaterformen. Phil. Diss. Münster 1963. – Davon Neuausgabe: Drama des Expressionismus. Programm-Spieltext-Theater. Fink Verlag, München 1967. 6 Vgl. Sobhy, Sayed: Die psychische Sattheit. Media Print Verlag, Kairo 2005. 7 Toller, Ernst: „Die Maschinenstürmer. Ein Drama aus der Zeit der Ludditenbewegung in England in fünf Akten und einem Vorspiel“. In: Ernst Toller. Gesammelte Werke. Bd.2. Dramen und Gedichte aus dem Gefängnis (1918-1924). Hrsg. v. John M. Spalek und Wolfgang Frühwald. Carl Hanser Verlag, Berlin 1978, S. 149. 8 Toller, Ernst: „Der deutsche Hinkemann. Eine Tragödie in drei Akten“. In: Ernst Toller. Gesammelte Werke. Bd.2. Dramen und Gedichte aus dem Gefängnis (1918–1924), a.a.O., S. 216. 9 Toller, Ernst: Die Wandlung. Das Ringen eines Menschen. In: Ernst Toller. Gesammelte Werke. Bd. 2. Dramen und Gedichte aus dem Gefängnis (1918–1924). Hrsg. v. John M. Spalek u. Wolfgang Frühwald. Carl Hanser Verlag, Berlin 1978, S. 63 – 112. 10 Kaiser, Georg: Von morgens bis mitternachts. In: Georg Kaiser. Stücke – Erzählungen – Aufsätze – Gedichte. Hrsg. V. Walther Huder. Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln u. Berlin 1966, S. 49–254. 11 Sorge, Reinhard: Der Bettler. Fischer Verlag, Berlin 1928. 12 Toller, Ernst: Der deutsche HinkemannDas andere Ziel dieses Kampfes Eine Tragödie in drei Akten. In: Ernst Toller Gesammelte Werke. Bd.2. Dramen und Gedichte aus dem Gefängnis (1918-1924). Hrsg. v. John M. Spalek und Wolfgang Frühwald. Carl Hanser Verlag, Berlin 1978, S.246. 13 Ebda, S. 244. 14 Hasenclever, Walter: Der Sohn. Ein Drama in fünf Akten. Kurt Wolff Verlag, Leipzig 1914. 15 Kaiser, Georg: Gas ІІ. In: Georg Kaiser. Stücke – Erzählungen – Aufsätze – Gedichte. Hrsg. v. Walther Huder. Kiepenheuer & Witsch. Köln u. Berlin 1966, S. 273–254. 16 Zu den literarischen Lexika, in denen das Motiv der Wandlung fehlt, sind die folgenden zu zählen: Wilpert, Gero von: Sachwörterbuch der Literatur. Kröner Verlag, Stuttgart 1989; Metzler-Literatur-Lexikon: Begriffe und Definitionen. Hg. v. Günther u. Irmgard Schweikle, Metzler Verlag, Stuttgart 1990; Literaturwissenschaftliches Lexikon: Grundbegriffe der Germanistik. Hg. v. Horst Brunner und Rainer Moritz. Erich Schmidt Verlag, Berlin 1997; Lexikon sozialistischer Literatur: Ihre Geschichte in Deutschland bis 1945. Hg. v. Simone Barck Metzler Verlag, Stuttgart und Weimar 1994; Meid, Völker: Sachwörterbuch zur deutschen Literatur. Philipp Reclam Jun. Verlag, Stuttgart 1999; Krywalski, Diether (Hg.): Handlexikon zur Literaturwissenschaft. Franz Ehrenwirth Verlag, München 1974.


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Ein Denkmodell zur Bewältigung der Krise zur Zeit der Moderne Der Beitrag der Wissensgesellschaft zur Überwindung der heutigen Krise? –
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Webmeister: Gerald Mach last change: 2011-07-12